Vom Westen vorangetrieben: Hunger ist das Ergebnis imperialistischer Machtspiele
Von Dagmar Henn
Der Hunger in vielen Ländern ist weitgehend unsichtbar und wird in der Regel gerade einmal kurz vor Weihnachten oder Ostern, wenn gerade Mitgefühl angesagt ist, in die westliche Presse gehoben. Oder wenn wieder einmal der falsche Vorwurf erhoben werden soll, dass im Grunde nur Russland schuld sei, weil sonst ukrainisches Getreide die Hungernden nähren würde – was es, wie die bisherigen Lieferungen belegen, nicht tut, da gerade einmal elf Prozent in die ärmsten Länder gingen.
Aber natürlich entwickelt sich diese Krise ebenso weiter wie jene in Europa; als fernes, noch unheimlicheres Geschwister. Denn es treffen mehrere Faktoren zusammen, die dazu führen, dass laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) allein im vergangenen Jahr 349 Millionen Menschen akut in der Nahrungsversorgung gefährdet waren; 2019 waren es nur 135 Millionen gewesen.
Während extreme Wetterereignisse nicht vermeidbar sind, sind viele Faktoren, die Hunger auslösen, menschengemacht. Allerdings meist nicht von den Menschen, die dann vom Hunger betroffen sind. Und auf die aktuelle Gefährdung seiner Vorherrschaft reagiert der Westen mit Handlungen, die Ernährungsprobleme für den Rest der Welt massiv verschärfen.
Das beginnt damit, dass Flüchtlinge in vielen Regionen der Welt am meisten von Hunger bedroht sind. Sie flüchten in der Regel vor Konflikten, beispielsweise vor Terrororganisationen wie Boko Haram oder vor Bürgerkriegen. Diese Konflikte sind aber oft das Ergebnis geopolitischer Interventionen. Boko Haram beispielsweise wäre ohne die von den USA in Auftrag gegebene jahrzehntelange wahhabitische Mission in Nigeria nie entstanden.
Die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit lebt in Afrika, im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts hat sich ihre Zahl verdreifacht, auf 36 Millionen. In Somalia etwa fliehen sie vor einem weiteren Zweig der US-Erfindung Al-Qaida.
Oder nehmen wir Afghanistan, neben Äthiopien, Somalia, dem Südsudan und dem Jemen eines der Gebiete, in denen insgesamt fast einer Million Menschen der Hungertod droht. Wäre das afghanische Auslandsvermögen nicht eingefroren, um die Afghanen für den Sieg der Taliban über den Westen zu strafen, das Hungerproblem wäre höchstens halb so schlimm. Das WFP versuchte im Dezember, 960 Millionen Dollar zu sammeln, um den am schlimmsten Betroffenen durch den Winter zu helfen – das eingefrorene Auslandsvermögen misst sich in Milliarden.
Im Jemen wird ein Krieg geführt, den die USA von Anfang an unterstützt haben. In Äthiopien wurden gezielt Auseinandersetzungen geschürt. An fast jede Hungersnot könnte man ein Schild hängen, auf dem steht: "Diese Todesursache widmen Ihnen die Vereinigten Staaten von Amerika."
Die hohen Preise für Nahrungsmittel und Treibstoffe sorgen nebenbei auch dafür, dass vorhandene Hilfe die Hungrigen schlechter erreicht. Anfang 2022, also noch vor Einsetzen der massiven Inflation, musste das WFP schon 30 Prozent mehr für Nahrungsmittel zahlen als 2019, und die Transportkosten sind um ganze 44 Prozent gestiegen. Gleichzeitig gehen die Zahlungen europäischer Regierungen zurück; man investiert lieber in den Krieg in der Ukraine. "Insbesondere europäische Länder haben die Hilfe in Afrika gekürzt. 2022 trugen sie mit 21 Prozent zu humanitären Hilfslieferungen an afrikanische Länder bei, ein Rückgang um 18 Prozentpunkte seit 2018", berichtete Reuters.
Übrigens formuliert das WFP die Konsequenzen solcher Probleme ganz offen: "Als dem WFP 2015 die Mittel ausgegangen waren, die syrischen Flüchtlinge zu ernähren, hatten sie keine Wahl, als die Lager zu verlassen und andernorts Hilfe zu suchen, was eine der größten Flüchtlingskrisen in der jüngeren europäischen Geschichte auslöste."
Die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) hatte bereits vor Monaten belegt, dass die Hälfte des globalen Anstiegs der Energie- wie der Nahrungspreise das Ergebnis von Spekulation ist. Diese Spekulation ist neben den Konflikten gewissermaßen der zweite apokalyptische Reiter, den der Westen ins Spiel gebracht hat.
Der Reuters-Bericht vom Dezember, in dem behauptet wird, die Ursachen des Hungers erklären zu wollen, benannte als Beispiel für Verschuldung als Hungerursache ausgerechnet Ghana. Im Dezember überstieg Ghanas Verschuldung, trotz oder wegen eines IWF-Sonderkredits im Juli, 100 Prozent des Inlandsprodukts. Ghanas Währung sei, so Reuters, im Verlauf von 2022 um 59 Prozent gegenüber dem Dollar gefallen, was sowohl die Bedienung von Schulden als auch sämtliche Importe deutlich erschwert. Die Preise für Getreide sind um 51, die für Milchprodukte und Eier um 59 Prozent gestiegen.
Was Reuters allerdings nicht erwähnt, ist, dass Ghana, ähnlich wie Sri Lanka, versuchte, allen "Klimaschutzvorgaben" zu folgen, und genau damit die eigene Lebensmittelproduktion verringerte, die Energie verteuerte und die Importabhängigkeit erhöhte. Es ist also ein Musterbeispiel nicht nur dafür, dass die Verschuldung die Inflation noch einmal anfeuert, sondern auch dafür, welche Interessen hinter dieser Entwicklung stecken.
Der Kursverlust der ghanaischen Währung, der die Inflation auf insgesamt 40 Prozent steigen ließ, ist ein Ergebnis der Zinserhöhungen der Federal Reserve der USA, die damit zum einen die Inflation in den USA bekämpft, aber eben zum anderen auch Länder wie Ghana in den Staatsbankrott führt. Das kann zwar die Bevölkerung in den Hunger treiben, sorgt aber, eben durch die dann erforderlichen Kredite und Auflagen des IWF, dafür, dass möglichst viel Reichtum aus diesen Ländern in den Westen abgezogen werden kann.
Während das WFP sich müht, Kleinbauern zu fördern und damit die Ernährungslage in den Ländern zu stabilisieren, fordert der IWF eine Orientierung auf Exportproduktion und fördert Landgrabbing, den Aufkauf fruchtbarer Gebiete durch internationale Konzerne. Und während afrikanische Länder eigentlich bereits 2003 beschlossen hatten, mindestens zehn Prozent ihrer Staatshaushalte für die Förderung der Landwirtschaft auszugeben, erreichten erst zwei afrikanische Länder überhaupt dieses Ziel im Jahr 2021: Mali und Simbabwe. Tatsächlich sind die Ausgaben von 39 afrikanischen Ländern für die Landwirtschaft gefallen, fand Oxfam heraus.
Auch das ist allerdings nicht vom Einfluss des IWF und den Interessen der westlichen Länder zu trennen. Die afrikanische Landwirtschaft muss sich schließlich unter anderem gegen im Export subventionierte europäische Produkte durchsetzen, seien das gefrorene Hühnerteile oder Dosentomaten; solange es ihnen unmöglich ist, die eigenen Märkte gegen solche Dumpingangebote zu schützen, ist eine gezielte Entwicklung der Landwirtschaft fast unmöglich. Auch die Infrastruktur, die eben darauf ausgerichtet wurde, Produkte aus den Ländern in den Westen zu bringen, und nicht darauf, Handel zwischen den afrikanischen Nachbarn zu erleichtern, erschwert das; aber an dem Problem wird mit chinesischer Hilfe bereits gearbeitet.
Der Grund für solche Gefährdungen der eigenen Produktion waren in der Vergangenheit meist Freihandelsverträge beispielsweise mit der EU, deren Bestimmungen in der Regel aufgezwungen wurden. Die Marktöffnung ist auch eine übliche Forderung des IWF.
Im laufenden Jahr dürfte die Zahl der Hungernden in Afrika noch einmal wesentlich steigen, denn durch die hohen Düngerpreise war der Ertrag der letzten Ernte niedriger. Dank der westlichen Sanktionen gegen Russland, die durch die daraus folgende Verringerung der Düngerproduktion in Europa das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage deutlich verschoben haben, werden sie auch in naher Zukunft nicht fallen. In jedem Körnchen überteuerten Düngers steckt aber ebenfalls ein Quäntchen der Spekulation mit Erdgas, das schon vorab in die Taschen der westlichen Spekulanten geflossen ist.
Keines der Kinder, die derzeit in Somalia oder im Jemen verhungern, wurde von einem blinden Schicksal getroffen. Was sie getroffen hat, ist ein globales Wirtschaftssystem, sind ökonomische Manöver, die nur das Ziel haben, die westliche Vormacht zu erhalten und zu verstärken. Dabei gibt es keinen Kontinent auf diesem Planeten, auf dem Hunger unnatürlicher ist: 65 Prozent der gesamten für Ackerbau nutzbaren Fläche der Erde liegen in Afrika.
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