Lateinamerika

"Genosse Präsident" – Zum 115. Geburtstag von Salvador Allende

Der erste sozialistische Präsident Lateinamerikas, Salvador Allende, wurde am 26. Juni 1908 im chilenischen Valparaiso geboren. Der 115-jährige Jahrestag seiner Geburt ist für den ukrainischen Lateinamerika-Experten und Autor des spanischsprachigen RT Oleg Jassinski Anlass, ihn gegen Kritik "von links" zu verteidigen.
"Genosse Präsident" – Zum 115. Geburtstag von Salvador AllendeQuelle: Sputnik © Ignacio Amiconi / RIA Nowosti

Von Oleg Jassinski

Heute, am 26. Juni, ist der Geburtstag des großen Chilenen Salvador Allende. Anlass genug, auf die seit einem halben Jahrhundert andauernden Debatten um seinen Namen einzugehen.

Nach allem, was in dieser Zeit auf der Welt geschehen ist, hat das Interesse an seiner Persönlichkeit nicht nachgelassen, und in seinem heutigen Bild – bronzefarben und fast biblisch - ist es immer schwieriger, die Züge eines lebenden Mannes zu erkennen.

Nehmen wir einige Klarstellungen vor.

Erstens. Salvador Allende war nie ein zahnloser Tiger, der die Risiken des von ihm eingeschlagenen legalen Weges verkannte. Persönlich war er sehr wohl ein Humanist, in seinen politischen Entscheidungen ließ er sich nicht von Konjunktur und politischer Opportunität, sondern von der Ethik leiten. Er war, wie es einmal hieß, "ein Mann der Ehre". Das ist für manche immer noch unverständlich.

Zweitens. In Lateinamerika gab es in jenen Jahren einen schweren Konflikt innerhalb der linken Kräfte zwischen der sowjetisch orientierten Kommunistischen Partei, die für einen "unbewaffneten Kampf für den Sozialismus" eintrat, und den politisch-militärischen Organisationen in Kuba, die davon überzeugt waren, dass eine Revolution ohne Waffen unmöglich sei. Diese Konfrontation schwächte die Regierung Allende zweifelsohne. Aber man kann hier nicht von "linkem Verrat" sprechen, wie die sowjetische Presse in jenen Jahren schrieb.

Die Kommunistische Partei Chiles verstand in jenen Jahren besser als ihre Verbündeten im Regierungsblock, dass die Regierung keinen allzu starken Einfluss hatte, und trat deshalb für ein möglichst breites Bündnis mit allen gemäßigten Kräften ein. Allendes eigene Partei, die Sozialistische Partei, forderte zusammen mit ihren unverantwortlichen und infantilen Kritikern auf der Linken, dass Allende die Revolution so schnell wie möglich radikalisieren und "unaufhaltsam voranschreiten" sollte. Die guevaristische Opposition der linken revolutionären Bewegung MIR beharrte auf dem utopischen Charakter der "friedlichen Illusionen" des Präsidenten (völlig zu Unrecht) und auf der Notwendigkeit, den bewaffneten Kampf vorzubereiten.

Die sowjetische Hilfe für Chile war minimal und in keiner Weise mit dem wirtschaftlichen und politischen Druck der Vereinigten Staaten zu vergleichen. Als der Putsch begann, begab sich Allende, der von einigen "Revolutionären" des "bürgerlichen Reformismus" beschuldigt wurde, mit der Waffe in der Hand in den Präsidentenpalast, um die bürgerliche Verfassung zu verteidigen, während diese "Revolutionäre" in den Botschaften politisches Asyl suchten.

Drittens. Das Programm der Regierung Allende sah die Verstaatlichung der wichtigsten natürlichen Reichtümer Chiles und der großen strategischen Unternehmen vor, um eine gemischte Wirtschaft zu schaffen. Das Mehrparteiensystem und alle politischen Freiheiten sollten dabei beibehalten werden, die von den Demochristen eingeleitete Agrarreform vertieft und ein öffentliches und kostenloses Bildungs- und Gesundheitssystem eingeführt werden. All das war mit dem von Pinochet in Chile eingeführten globalistischen neoliberalen System völlig unvereinbar.

Wenn heute vom "sozialdemokratischen Projekt" des "Freimaurers und Marxisten" Allende die Rede ist, sollte dies nicht als Anschuldigung oder Eingeständnis verstanden werden, sondern als historische Gegebenheit in Chile in jenen Jahren und in jener Welt. Die Wahl Allendes zum Präsidenten am 4. September 1970 war das erste Mal in der Weltgeschichte, dass die Anhänger des Sozialismus eine Wahl in einem kapitalistischen Land gewannen. Aber der große Realist und Utopist Allende wollte nicht den Sozialismus in Chile aufbauen, sondern erst "die Bedingungen für die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus" schaffen.

Aus seinem historisch-materialistischen Kontext herausgerissen, verwandelt sich jedes historische Drama leicht in einen nutzlosen Slogan oder in ein Thema für ein Literaturseminar. Ich bin sicher, dass Allende das gar nicht wollte.

Ich denke, dass die Geschichte über das Leben und den Tod des "Genossen Präsidenten", die bei uns immer noch so wenig verstanden wird, eine dringende und notwendige Lektion für unsere Zeit ist. Sie ist auch ein Beispiel dafür, dass Politik nicht immer schmutzig und zynisch ist. Wäre es anders, hätte die Welt Allende längst vergessen.

Oleg Jassinski (englische Transliteration Yasinsky), ein aus der Ukraine stammender Journalist, lebt überwiegend in Chile und schreibt für RT Espanol sowie unabhängige lateinamerikanische Medien wie Pressenza.com, Desinformemonos.org. Er forscht über indigene und soziale Bewegungen in Lateinamerika, produziert politische Dokumentarfilme in Kolumbien, Bolivien, Mexiko und Chile. Außerdem ist er bekannt als Übersetzer von Texten von Eduardo Galeano, Luis Sepúlveda, José Saramago, Subcomandante Marcos und anderen ins Russische. Man kann ihm auch auf seinem Telegram-Kanal folgen.

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