Asien

Warum schenken Chinas Eliten dem Zusammenbruch der UdSSR so viel Aufmerksamkeit?

Heute ist China eine Supermacht. Trotzdem blickt es über seine Nordgrenze und analysiert ein dortiges Ereignis aus der Vergangenheit, das es als warnendes Beispiel für seine eigene Zukunft betrachtet: den Zusammenbruch der UdSSR und der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.
Warum schenken Chinas Eliten dem Zusammenbruch der UdSSR so viel Aufmerksamkeit?Quelle: AFP © PIKO / AFP

Von Ivan Zuenko

Die Ereignisse der späten 1980er und frühen 1990er-Jahre hatten nicht nur einen großen Einfluss auf die Entwicklung Russlands und Chinas, sondern auch auf den Dialog zwischen den beiden Ländern. Moskau und Peking gaben die jahrzehntelange Rivalität auf und entschieden sich stattdessen für eine pragmatische Zusammenarbeit.

Im Jahr 1989 stellte sich die Sowjetunion, wo damals bereits der liberale Wind der Perestroika wehte, hinter das Vorgehen der chinesischen Behörden bei der entschlossenen Unterdrückung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz. Und 1991 bekundeten die chinesischen Kommunisten trotz ihrer ideologischen Sympathien für die Führung der UdSSR ihre Bereitschaft, mit der neuen russischen Regierung unter Boris Jelzin zusammenzuarbeiten. Im Laufe der Zeit haben sich Russland und China zu De-facto-Verbündeten entwickelt, und ihre Beziehungen werden heute als "die besten aller Zeiten" bezeichnet.

Der Zusammenbruch der UdSSR gab den Chinesen viel Stoff zum Nachdenken – nicht so sehr über das Schicksal der Sowjetunion, sondern über die eigene Zukunft. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass eine Analyse dessen, was in der UdSSR vor sich ging, in gewissem Sinne den Vektor der Entwicklung Chinas bestimmt hat.

Die Ereignisse in der Sowjetunion und später in Russland haben als Warnung vor übereilten politischen Reformen und der Entfernung der Partei aus der Staats- und Armeeführung gedient. Unter Xi Jinping ist das Studium der "sowjetischen Erfahrung" zu einem wichtigen Bestandteil des Parteiprogramms geworden, denn für chinesische Beobachter war das Wichtigste, was 1991 passierte, nicht der Zusammenbruch eines riesigen Staates, sondern der Machtverlust der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU).

Der Tod eines älteren Bruders

Die Aufmerksamkeit, die in China den Ereignissen in der UdSSR geschenkt wird, sollte nicht überraschen. Während der gesamten Zeit des Bestehens der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) diente die Sowjetunion als Bezugspunkt für ihre Führung und als bedeutender Faktor bei verschiedenen innenpolitischen Entscheidungen.

Die KPCh selbst wurde 1921 nach dem Vorbild der KPdSU gegründet, mit direkter Beteiligung von Abgesandten aus Moskau. Viele Führer der KPCh hatten in der Sowjetunion studiert und sprachen Russisch. Militärische, technische und finanzielle Hilfe aus Moskau war während des Krieges der KPCh gegen die Kuomintang und während der gesamten 1950er-Jahre von entscheidender Bedeutung, bis die beiden Länder anfingen, sich über ideologische Differenzen zu streiten.

Trotz der Meinungsverschiedenheiten wurden die Erfahrungen der UdSSR auf allen Ebenen genau untersucht. Besonders seit Beginn der Perestroika, als in den Medien und in den Hörsälen der Universitäten über die Reformen in der UdSSR diskutiert wurde. Das Interesse der studentischen Aktivisten an der Persönlichkeit Gorbatschow war groß. Der sowjetisch-chinesische Gipfel in Peking im Mai 1989 brachte die "Tiananmen-Krise" zur Eskalation, gerade weil die Beziehungen zu Moskau und die Reaktion der sowjetischen Führung auf die Ereignisse in Peking für die chinesische Führung sehr wichtig waren.

In China glaubte man, dass in der Sowjetunion ein Sitz- und Hungerstreik auf dem zentralen Platz einer Stadt des Landes während eines großen Besuchs eines ausländischen Staatschefs einfach nicht möglich sei. Als Beleg dafür wurden Beispiele der gewaltsamen Unterdrückung von Demonstrationen in Alma-Ata, Minsk und Tiflis genannt. Dass sich die KPdSU in zwei Jahren auflösen und die Lage in der UdSSR außer Kontrolle geraten würde, war damals in Peking undenkbar. Wie eine Analyse vorliegender Dokumente zeigt, kamen die Ereignisse von 1991 für die Chinesen völlig überraschend.

Zu diesem Zeitpunkt waren Chinas politische Reformen jedoch bereits eingefroren. Dies wurde nicht nur durch die Überwindung der eigenen politischen Krise ermöglicht, sondern auch durch die Beobachtung der Revolutionen von 1989 in Osteuropa. Angesichts der drohenden Machtverdrängung konsolidierten sich Chinas Eliten, und es wurde angenommen, dass die KPdSU dasselbe tun würde. Während des Putsches gegen Gorbatschow im August 1989 standen die Führer Pekings den kompromisslosen Putschisten positiv gegenüber, und der chinesische Botschafter in Moskau gratulierte sogar den Mitgliedern der Putsch-Junta zur Machtübernahme.

Die Niederschlagung des Putsches und die anschließende Selbstauflösung der KPdSU wurde von der chinesischen Führung somit auch als schwerer Schlag für sich selbst empfunden. Deng Xiaoping befürchtete, dass die Partei verboten und die KPCh als einzige große kommunistische Partei der Welt übrig bleiben würde, woraufhin der Westen anschließend hart gegen sie hätte vorgehen können. Im Herbst 1991 stellten die ersten in China veröffentlichten Zeitungen die Ereignisse in der UdSSR in einem negativen Licht dar, und die Zentrale Parteischule gründete sogar eine eigene Arbeitsgruppe, um einer "friedlichen Wiedergeburt" entgegenzuwirken und um auf die Gefahr hinzuweisen, von der die KPdSU befallen wurde.

Wer trägt die Schuld und was sind die Konsequenzen

Die Belowescher Vereinbarungen – und der daraus folgende Zusammenbruch der Sowjetunion –  wurden nur noch als die logische Folge des Zusammenbruchs der Regierungspartei wahrgenommen. Peking zeigte jedoch seine Bereitschaft, mit den neuen postsowjetischen Staaten zusammenzuarbeiten, und nahm bereits im Dezember 1991 diplomatische Beziehungen zu den meisten von ihnen auf.

In China selbst hat das Thema der Erforschung der "sowjetischen Krise" zunächst als großes theoretisches und dann als praktisches Problem ein Eigenleben entwickelt. Beschränkte sich die Forschung in der ersten Phase zunächst auf eine banale Suche nach den Schuldigen – "die Schuld liegt beim Westen" oder "die Schuld liegt bei Gorbatschow" –, gingen chinesische Wissenschaftler später zu einer systematischen, umfassenden und interdisziplinären Analyse über.

Insgesamt haben chinesische Gelehrte mehr als einhundert wissenschaftliche Arbeiten über den Zusammenbruch der KPdSU und der UdSSR verfasst, verschiedene Essays und Beiträge auf Konferenzen nicht mitgezählt. Darunter befinden sich mehrere umfangreiche Monografien, die von auf Russland spezialisierten Historikern sowie von Wirtschaftswissenschaftlern, Politikwissenschaftlern und Spezialisten für Marxismus-Leninismus verfasst wurden. Das Interesse der Wissenschaftler ist leicht zu erklären, da sie sehr konkrete Ziele verfolgen, die für die Volksrepublik China nicht an Relevanz verloren haben. Chinesische Experten müssen zwei Schlüsselfragen beantworten: 1.) Was waren die Ursachen für den Zusammenbruch der UdSSR und der KPdSU und 2.) Was sollte die Führung der KPCh tun, um dasselbe Schicksal zu vermeiden?

Einer der Hauptgründe für den Zusammenbruch waren laut den chinesischen Studien diejenigen, die mit der Schwächung der Partei in Verbindung gebracht wurden. Nämlich die allgegenwärtige Korruption, die Loslösung der Eliten vom einfachen Volk, der aufkommende Konsumismus, der Formalismus und die bürokratischen Tendenzen von Parteiideologen und Agitatoren, die zu einer völligen Ablehnung an die von oben diktierte Politik führten. 

Chinesische Gelehrte haben die Struktur der sowjetischen Wirtschaft ziemlich scharf kritisiert, vor allem ihre Zentralisierung, die auf die Position von Mao Zedong in den 1950er-Jahren zurückging. Ein weiteres Problem für die UdSSR war die Ausrichtung auf den militärisch-industriellen Komplex und die Schwerindustrie, was zu einem akuten Mangel an Konsumgütern führte. Obwohl der wirtschaftliche Inhalt der Perestroika-Agenda von chinesischen Autoren kaum kritisiert wird, wird angemerkt, dass die Bemühungen der sowjetischen Reformer verspätet kamen und schlecht durchdacht waren und daher zahlreiche soziale Probleme nicht angegangen wurden.

Wie die Chinesen betonen, war die Sowjetunion jedoch gezwungen, Reformen inmitten einer immer noch andauernden Konfrontation mit dem Westen – und eines starken kulturellen und informationellen Drucks von außen – durchzuführen. Vor dem Hintergrund dieser Krise des wirtschaftlichen und politischen Systems wurde ein starkes "Defizit an Glaubwürdigkeit" der herrschenden Partei, der Ideologie und dem Land im weiteren Sinne herbeigeführt. Chinesische Wissenschaftler schreiben Michail Gorbatschow die Abkehr von einer kostspieligen Konfrontation in den Beziehungen zum Westen zu, glauben aber, dass der Moment für Veränderungen bereits verpasst war und die UdSSR in den 1980er-Jahren den Preis für ein jahrzehntelanges Streben nach globaler Hegemonie bezahlen musste. Tatsächlich förderte Gorbatschows Wende in der Außenpolitik nur das Eindringen des westlichen Einflusses in die UdSSR und half den USA damit, seinen Rivalen zu besiegen.

Die "sowjetische Lektion"

Angesichts der Tatsache, dass sich China nun selbst in der Position des "großen Rivalen des Westens" befindet, kommt der Beschäftigung mit der "sowjetischen Lektion" besondere Bedeutung zu. Das Studium der Fehler der KPdSU verlagerte sich von den Denkstuben der Akademiker in die Klassenzimmer der Parteimitglieder und dann auf die nationale Ebene. Im Jahr 2003 hielt das Politbüro des Zentralkomitees der KPCh eine Studiensitzung ab, um den Aufstieg und Fall von neun Großmächten in der Weltgeschichte, einschließlich der UdSSR, zu analysieren. Im Jahr 2006 wurde auf der Grundlage der Materialien dieser Studiensitzung ein sechsteiliger Film "Der Zusammenbruch der KPdSU und der Zusammenbruch der UdSSR: Erinnerungen von Augenzeugen" im chinesischen Staatsfernsehen ausgestrahlt. Im selben Jahr produzierte das Institut für Marxismus der Akademie der Sozialwissenschaften den Film "In Friedenszeiten an die Gefahren denken: Historische Lehren aus dem Zusammenbruch der KPdSU." Sechs Jahre später wurde der Inhalt dieses Films als millionenfach verlegtes Buch herausgegeben: "Der Zusammenbruch der KPdSU und der Zusammenbruch der UdSSR."

Mit der Machtübernahme von Xi Jinping ist ein neues Interesse an der Forschung über die Fehler der KPdSU verbunden. Es scheint, dass Xi selbst stark mit dem eigenen Zusammenbruch beschäftigt ist. Während der bisherigen Amtszeit des chinesischen Staatsführers wurde in seinen Reden und Veröffentlichungen stets auf die Ereignisse in der UdSSR Bezug genommen. In einem kürzlich erschienenen Artikel von Xi Jinping für das Parteimagazin Tsushi heißt es: "Die Kommunistische Partei Russlands hat mit 200.000 Mitgliedern die Macht ergriffen, Adolf Hitler mit zwei Millionen Mitgliedern besiegt und mit fast 20 Millionen Mitgliedern die Macht verloren." Dies geschah laut Xi, weil "Ideale und Überzeugungen verschwanden" und "niemand hervortrat, um die Partei mit der Waffe in der Hand zu verteidigen".

Dieselbe Idee, die sich auf die Ansichten von Xi Jinping bezieht, wurde in einer Reihe von Dokumentationen mit dem Titel "Ein starkes Land sollte eine starke Armee haben" zum Ausdruck gebracht, die dem 20. Kongress der KPCh gewidmet war.

"Die Lektion, die wir aus dem Zusammenbruch der KPdSU und der UdSSR lernen können, ist, dass die absolute Unterordnung der Armee unter die Partei ein grundlegendes Prinzip ist, das gestärkt und nicht geschwächt werden sollte“, heißt es im Film.

Diese These wird in praktisch allen Publikationen wiederholt, die dem bevorstehenden hundertjährigen Bestehen der Volksbefreiungsarmee Chinas – das im August 2027 gefeiert werden soll – gewidmet sind, einschließlich in der Abschlussrede von Xi Jinping auf dem 20. Kongress der KPCh.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der chinesische Diskurs die Vorstellung vom Zusammenbruch der KPdSU und des Zusammenbruchs der UdSSR – in genau dieser Reihenfolge – als wichtige Lektion für Peking etabliert hat. Inzwischen wird die Krise in der Sowjetunion Mitte der 1980er-Jahre als systemischer Natur beschrieben. Die soziale und wirtschaftliche Umgestaltung der UdSSR und die Reformen innerhalb der KPdSU waren aus chinesischer Sicht notwendig und daher durchaus gerechtfertigt. Aber sie waren überfällig und konnten die Probleme, die mit dem mangelnden Vertrauen der Bevölkerung in die Obrigkeit und dem Zerfall der Partei einhergingen, nicht mehr lösen.

Die fehlgeleitete Politik der KPdSU, sich von der Staatsverwaltung und dem Militär zu lösen, ist in den Augen der Chinesen von zentraler Bedeutung. Der Appell an die negativen Erfahrungen der KPdSU und der UdSSR wird von der Führung der KPCh in der Propaganda aktiv als Argument für die Unzulässigkeit jeglicher Reformen im Zusammenhang mit der Schwächung der Rolle der Partei im Leben der Gesellschaft verwendet.

Dieser Artikel wurde in profile.ru veröffentlicht.

Aus dem Englischen

Ivan Zuenko ist Senior Forscher am Institut für Internationale Studien und außerordentlicher Professor der Abteilung für Orientalistik an der MGIMO, Moskau.

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