Ob Ukraine oder Gaza - Die NATO zeigt sich innerlich zerrissen wie nie
Von Wiktorija Nikiforowa
Von Beginn der militärischen Spezialoperation an hören wir rituelle Beschwörungen des Westens über die "Einheit der NATO". Dieses Gerede klingt so verzweifelt, als handle es sich um Wunschdenken. Paradoxerweise sind es nicht so sehr die äußeren Feinde, die den Zusammenhalt der NATO bedrohen, sondern eher interne Streitigkeiten.
Die Ukraine hat alle Meinungsverschiedenheiten der NATO-Mitgliedsstaaten offengelegt. Zunächst vertrat die Türkei eine völlig gesonderte Position: Die Unterstützung für die Ukraine wurde auf ein Minimum reduziert, von den Sanktionen wurde abgesehen und die Kontakte zu Russland wurden intensiviert. Anschließend verhandelte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hartnäckig über die Mitgliedschaft Schwedens in der NATO.
Danach folgte Polen dem türkischen Weg. Der nahezu ehemalige Ministerpräsident des Landes knuddelt Wladimir Selenskij nicht länger, sagt, die "Ukraine ist wie ein Ertrinkender, der alle anderen mit sich in den Abgrund reißt", und beraubt die Ukraine ihrer letzten Verdienstmöglichkeit, indem er ukrainisches Getreide nicht in sein Land lässt.
Auf dem NATO-Gipfel im Juli in Vilnius traten alle Widersprüche des Bündnisses zutage, gleich einem aufgeblähten Leichnam eines Ertrinkenden. Frankreich, Polen und Großbritannien sprachen sich für die Mitgliedschaft der Ukraine in der Allianz aus, während Deutschland und die USA dagegen waren. Die baltischen Mitglieder waren in Hysterie verfallen und forderten die dringende Aufnahme Kiews. Ungarns Ministerpräsident vertrat die entgegengesetzte Position. Selenskij konnte nur hilflos zuschauen, wie die Hoffnung auf eine nordatlantische Mitgliedschaft entschwand.
Die "noch nie dagewesene Einigkeit" der Verbündeten erlaubte es ihnen nicht einmal, eine so triviale Frage zu lösen, wie die Wahl des NATO-Generalsekretärs. Polen blockierte die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Die Vereinigten Staaten ließen den britischen Verteidigungsminister Ben Wallace nicht zur Wahl zu, woraufhin dieser daran Anstoß nahm, zurücktrat und ankündigte, er werde in einer Bar arbeiten. Der Posten blieb damit Jens Stoltenberg erhalten – es ist bereits das zehnte Jahr seiner Amtszeit als Generalsekretär.
Verschärft wurde die Angelegenheit im Oktober durch den israelisch-palästinensischen Konflikt. Formell gesehen ist Israel einer der wichtigsten militärischen Verbündeten, es sollte also dringend unterstützt werden. Doch die Führung der europäischen NATO-Mitgliedsstaaten gerät unter den Druck der propalästinensischen Migranten und der muslimischen Bürger. Diesen gefällt es nicht, dass ihre Regierungen sich um eine Unterstützung Tel Avivs bemühen.
Die Bodenoperation der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) im Gazastreifen wird den Europäern mit Sicherheit einen neuen Tsunami von Migranten bescheren. Die Unglücklichen haben einfach keine andere Wahl: Die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich haben bereits verkündet, dass sie Flüchtlingen aus Palästina unter keinen Umständen die Einreise gestatten werden. Es fällt nicht schwer, sich die Stimmung der gepeinigten Palästinenser vorzustellen, wenn sie die europäischen Länder erreichen, deren Regierungen Israel im Rahmen der NATO-Verpflichtungen unterstützen.
Abweichende Meinungen treten bei konkreten Entscheidungen in Erscheinung. So nutzt das US-Militär im Rahmen seiner Unterstützung Israels derzeit intensiv die Flugplätze und Häfen in Griechenland, kann aber einen Bündnispartner wie die Türkei nicht in seine Operationen einbeziehen. Denn jeder versteht die Position der Türkei in der komplexen Frage der palästinensisch-israelischen Beziehungen.
"Die USA schicken ihren Flugzeugträger nach Israel", empörte sich Erdoğan. "Was haben sie hier zu suchen? Was haben sie vor? Sie werden einen Schritt in Richtung eines unabsehbaren Massakers tun, indem sie Gaza von dem sich nähernden Flugzeugträger aus angreifen."
Wir beobachten, dass die NATO-Verbündeten die Situation in Israel genau andersherum wahrnehmen. Vor zwei Wochen, am 11. und 12. Oktober, hatten die Verteidigungsminister der Bündnismitglieder in Brüssel über dieses Thema beraten. Der Konsens war gesucht, aber offenbar nicht gefunden worden. Generalsekretär Stoltenberg hatte sich mit der Erklärung losgeeist, das Bündnis verurteile den Angriff der Hamas, sei aber "nicht direkt an dem Konflikt beteiligt".
Dabei sind die Vereinigten Staaten sehr wohl bereit, sich in den Konflikt einzumischen, aber offensichtlich nicht als Mitglied des Bündnisses, sondern auf eigene Faust – gewissermaßen als Privatinitiative, die übrigens von niemandem auf der Welt, einschließlich des UN-Sicherheitsrats, gutgeheißen wird.
Die Zerfahrenheit und das Schwanken der europäischen Vasallen sind Washington sehr wohl bewusst. Und hier ist ihre Reaktion. Der US-Präsidentschaftskandidat der Republikaner Vivek Ramaswamy sprach vom NATO-Austritt der Vereinigten Staaten als "einer sehr vernünftigen Idee". Mit dieser Aussage reagierte er auf den Artikel des Magazins Rolling Stone, in dem es heißt: "Trump erwägt den NATO-Austritt, sollte er seinen Willen nicht durchsetzen können."
Nahezu die Hälfte der republikanischen Wähler (49 Prozent) ist für einen Austritt des Landes aus der NATO. Ihrer Ansicht nach sind die Europäer gierige und feige Schmarotzer, in deren Interesse es ist, dass US-Soldaten überall für sie sterben, die jedoch selbst nicht bereit sind, die Vereinigten Staaten für ihre Sicherheit zu bezahlen.
Genau diesen Standpunkt vertrat Donald Trump, als er noch im Weißen Haus residierte. Seinem Umfeld blieb ein Moment in Erinnerung, in dem Trump auf einem Blatt Papier die Namen der kleinen NATO-Mitgliedsstaaten vorlas und daraufhin sagte, dass die meisten US-Amerikaner noch nie von diesen Ländern gehört hätten und er ihretwegen keinen Dritten Weltkrieg anzetteln wolle.
Trumps Haltung zur NATO ist die, dass die USA entweder ganz einfach aus dem Bündnis austreten oder mithilfe dieser Drohungen ihre Verbündeten dazu bringen sollten, die Verteidigungsausgaben auf vier Prozent des BIP zu erhöhen und den Grundsatz der kollektiven Sicherheit aufzugeben.
"Warum sollte gerade mein Sohn Montenegro verteidigen müssen?", fragte Tucker Carlson einmal Trump in einem Interview. "Das habe ich mich auch gefragt", antwortete der US-Präsident.
Doch wozu braucht man das nordatlantische Bündnis ohne den Artikel 5 des NATO-Vertrags? Darüber machen sich die Staats- und Regierungschefs der NATO-Länder heute Gedanken, und sie vergessen dabei natürlich nicht, der ganzen Welt ihre "einzigartige Verbundenheit" zu demonstrieren. Damit haben sie Recht, doch sie sind nur durch Angst und Furcht geeint.
Rolling Stone ist ein Presseorgan der Demokratischen Partei der Vereinigten Staaten. Die Demokraten dachten wohl, ihre Leser mit der Schlagzeile zu verschrecken. Doch Millionen von Menschen in den USA würden mit solch einer Entscheidung zufrieden sein. Während ein Großteil der Wähler der Demokratischen Partei die NATO und die bewaffneten Interventionen der USA unterstützt, sind die Wähler der Republikanischen Partei mehrheitlich bekennende Isolationisten. Über 70 Prozent von ihnen sind der Meinung, die USA sollten sich aus internationalen Angelegenheiten heraushalten und sich auf ihre eigenen Probleme konzentrieren.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti.
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