Kein zweites Saigon? USA wollen den Irak nicht kampflos verlassen
Die Ereignisse des 29. und 30. April 1975 haben sich fest in die kollektive Psyche der USA eingebrannt. In diesen zwei Tagen wurden Hunderte US-Bürger und vietnamesische Unterstützer mit Hubschraubern vom Botschaftsgelände in Saigon, dem heutigen Ho-Chi-Minh-Stadt, evakuiert. Die Aufgabe der Botschaft, des Symbols eines auf Lügen aufgebauten Krieges, dem in Vietnam und Kambodscha Hunderttausende Menschen zum Opfer fielen, markierte den endgültigen Sieg der Nordvietnamesen über die Supermacht USA. Auch im Irak liegen gerade Hoffnung und Furcht vor einem ähnlichen Szenario nah beieinander, nachdem 2003 auch im Zweistromland alles mit einer Lüge begann.
Die US-Botschaft in Bagdad kommt seit dem 31. Dezember 2019 nicht mehr zur Ruhe, als Tausende Anhänger verschiedener Milizen und Angehörige der bei einem US-Luftschlag zwei Tage zuvor ums Leben gekommene Iraker sich zum Sturm auf das Symbol des ehemaligen Besatzers versammelten. Am Sonntag schlugen zum wiederholten Male Katjuscha-Raketen in der abgeriegelten "Grünen Zone" ein, dem Regierungs- und Botschaftsviertel der Hauptstadt. Mindestens zwei Raketen trafen die US-Botschaft, die vermutlich auch das Ziel des Raketenangriffs war.
Bereits am Freitag fand in Bagdad der "Millionenmarsch" gegen die USA statt, zu dem der schiitische Geistliche und Oppositionspolitiker Muqtada as-Sadr aufgerufen hatte. Die Menschen forderten einen Abzug von US-Truppen, wie es das irakische Parlament mit einer Resolution nach der Ermordung des iranischen Generalmajors Qassem Soleimani und des Vizechefs der Volksmobilisierungskräfte Abu Mahdi al-Muhandis forderte. Wie viele Menschen genau teilnahmen, ist schwer zu beurteilen. Die Angaben reichen von einer bis zu vier Millionen Teilnehmern.
Dem US-Militär ist Sadr alles andere als unbekannt. Seine sogenannte Mahdi-Armee führte einen Guerillakrieg gegen die Besatzer, bis Washington seine Kampftruppen Ende 2011 abzog. Mit der Resolution des irakischen Parlaments verschärfte auch Sadr seine Rhetorik gegen die USA und nennt die rund 5.000 Soldaten Besatzer, obwohl ihre Präsenz durch ein geschlossenes Sicherheitsabkommen zwischen Bagdad und Washington vertraglich vereinbart wurde. Das erhöht auch den Druck auf die Regierung des Interims-Ministerpräsidenten Adil Abd al-Mahdi enorm, die Resolution umzusetzen, um vor den Irakern nicht als US-amerikanischen Quisling dazustehen.
Die Regierung von Präsident Donald Trump hat bereits mehrfach deutlich gemacht, dass sie die Wünsche und Forderungen der Mehrheit der Iraker nicht respektiert. Dennoch zeigt der Raketenangriff auf die US-Botschaft am Sonntag wie auch die schiere Menge an Menschen am Freitag, dass die größte Botschaft der Welt nicht zu verteidigen ist, sollte eine ernst gemeinte Erstürmung erfolgen. Wie in Saigon vor 45 Jahren, müsste das Symbol US-amerikanischer Macht evakuiert und seinem Schicksal überlassen werden.
Damit ein solches Szenario nicht wie in Vietnam automatisch einem Rauswurf aus dem Irak gleichkommt, bereitet man sich in Washington offensichtlich auf diese Möglichkeit vor. Wie das Portal Middle East Eye (MEE) unter Berufung auf Quellen aus den USA und dem Irak berichtet, gibt es möglichweise Pläne, die zu einer Aufspaltung des Landes führen könnten.
Dabei verfolgt man offensichtlich einen Plan des damaligen Senators und späteren Vizepräsidenten sowie gegenwärtigen Bewerber als Präsidentschaftskandidat der Demokraten Joe Biden, der im Jahr 2006 vorschlug, das Zweistromland entlang der ethnischen und religiösen Bruchlinien zu zerschlagen. Anstelle eines geeinten Irak sollten Kurden, Sunniten und Schiiten ihre eigenen kleinen Länder erhalten, um das Blutvergießen zwischen den Ethnien zu stoppen. Dass es aber die US-Invasion und die katastrophalen Fehlentscheidungen des Besatzungsregimes waren, die erst zu diesem Bürgerkrieg führten, ließ Biden bereits damals aus.
Da der Irak eine wichtige Landverbindung zwischen dem Iran, Syrien und schließlich auch dem Libanon darstellt, tendieren die Überlegungen einiger in Washington dazu, diese Landverbindung durch einen sunnitischen Kleinstaat in der Provinz Anbar unter US-Protektorat zu durchbrechen. Hier könnten dann weiterhin US-Truppen stationiert sein und die Kontrolle über die Grenzregion zu Syrien ausüben, während sie gleichzeitig als Schutzmacht für sunnitische Stämme fungieren könnten.
Diese Idee wird laut MEE bereits in der Region ernsthaft diskutiert und von Ländern wie Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützt. Man will dafür irakische Verfassungsartikel als Ausgangspunkt dieses Projekts benutzen, die die Bildung von "administrativen" Regionen neben Kurdistan erlauben. Sind diese erst gebildet, wäre die internationale Anerkennung wie im Falle des Kosovo der nächste Schritt, um die Provinz aus dem Irak herauszubrechen.
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