Weißrussland ein Jahr nach dem gescheiterten Staatsstreich – eine Bestandaufnahme
von Wladislaw Sankin
Am ersten Jahrestag des Beginns der Massenproteste in ihrer Heimat befand sich die Ex-Präsidentschaftskandidatin und Weltreisende Swetlana Tichanowskaja in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Sie traf sich mit dem litauischen Außenminister. Es war eines der vielen Treffen im letzten Jahr – allein mit den westlichen Staats- und Regierungschefs hat sie über 30 Visiten absolviert und es scheint, jede Woche werden es mehr.
Der weißrussische Staatschef Alexander Lukaschenko beging den Jahrestag als einem achtstündigen Gesprächsmarathon mit Journalisten, Experten und Regierungsvertretern in Minsk. Auch Vertreter namhafter westlicher Medien waren dabei und durften ihm ihre kritischen Fragen stellen – ein Zeichen dafür, dass die Tür nach Westen auch nach einem Jahr Schmähungen und Sanktionen noch nicht ganz zugeschlagen wurde. Bei jeder erdenklichen Gelegenheit jedoch teilte Lukaschenko im Gespräch gegen den Westen kräftig aus – wahrscheinlich wie noch niemals zuvor.
Gemessen an der Stimmung im Land vor genau einem Jahr, kann der Unterschied krasser nicht sein. Massive Medienkampagnen und Mobilisierung der sonst auch unpolitischen Kräfte in der weißrussischen Gesellschaft zugunsten der Opposition hatten an den Tagen nach der Präsidentschaftswahl am 9. August 2020 aus dem machtbewussten Langzeitpräsident kurzzeitig einen Gejagten gemacht. Erst nach und nach konnte er die gesellschaftliche Basis um seine Person wieder konsolidieren.
Nun ist Alexander Lukaschenko wieder voll in seinem Element und kann sogar schon wieder mit dem Dauervorwurf, der letzter Diktator Europas zu sein, kokettieren. Nun liegt die Initiative und Deutungshoheit im Inland über die Frage, was die Krise im vergangenem Jahr war und warum, wieder bei ihm. Sein fernes Visavis – Swetlana Tichanowskaja – ist trotz der scheinbaren diplomatischen Unterstützung des ganzen vereinigten Westens, und zwar auf der höchsten Ebene, eher ausgegrenzt und marginalisiert. Dabei ruft sie bei jeder Gelegenheit zu immer schärferen Sanktionen gegen ihr Heimatland auf – was nach Meinung des Ex-Oppositionellen Roman Protassewitsch eher wie ein Akt der Verzweiflung aussieht.
Weißrussische staatliche Medien, die mit Regierungsstellen eng zusammenarbeiten, haben nun gelernt, frech und offensiv zu sein. Vor einem Jahr waren sie ihren Gegnern klar unterlegen. Jetzt haben sie gleichfalls ein Netz aus Telegram-Kanälen entwickelt, die klar gegen die Opposition gerichtet sind. Zum Jahrestag der Ausschreitungen hat der Fernsehsender CTVBY einen Vierteiler unter dem Titel "2020" präsentiert, der die damaligen Ereignisse klar als Versuch einer von langer Hand geplanten Farbrevolution Tag für Tag rekonstruiert.
Die Meldungen über horrende Polizeigewalt während der Straßenschlachten und auf Polizeirevieren wären Fakes gewesen, sagte ein Vertreter des Innenministeriums. Er und andere Unterstützer des Präsidenten liefern im Film ein sicheres und selbstbewusstes Auftreten – die andere Seite kommt nicht zu Wort. Wer noch zu Wort kommt, sind verletzte Polizisten – und es werden Szenen gezeigt, die in westlichen Medien niemals gezeigt würden – aggressive Provokateure, professionell agierende Protestkoordinatoren, Angriffe auf Polizisten, Waffenverstecke. "Wir haben unser Land vor Zerstörung gerettet", sagen Zeugen und Protagonisten in dem Film.
Mehrere Monate hatte die Opposition versucht, die politischen Eliten und Sicherheitsorgane zu demoralisieren und zu spalten, es wurden Gelder für Überläufer angeboten. Zu diesen Maßnahmen rief beispielsweise eine der Oppositionsführerinnen, Maria Kolesnikowa, in Videos auf. Jetzt sitzt sie in Haft und wartet auf ihren Gerichtsprozess. Ihr werden der Versuch einer verfassungswidrigen Machtergreifung und Extremismus vorgeworfen.
Nun wird die Opposition selbst gespalten – durch Lukaschenko und nicht ohne Erfolg. Roman Protassewitsch – derjenige, der Protestaktionen während der Hochphase in August-September mitkonzipierte und koordinierte – sagt gegen seine ehemaligen Mitstreiter aus, angeblich freiwillig, wie er betont. Er sitzt noch in einem eher locker gehaltenem Hausarrest, aber rechnet damit, dass er bald eine Medienplattform ins Leben rufen kann, die zwischen den politischen Gegenpolen im Land vermitteln solle. Der Wandel Protassewitschs ist ein Signal an alle Zweifler in der Opposition, ein Aufruf zur politischen und gesellschaftlichen Mitgestaltung.
Noch tief und unversöhnlich sind die ideologischen Gräben zwischen der zutiefst nationalistisch geprägten prowestlichen Opposition um Tichanowskaja, die ihr Land baldmöglichst in der EU und NATO sehen will, und derjenigen Kräften um den Präsidenten, die die Zukunft des Landes zwar im Bund mit Russland, aber unter Beibehaltung der eigenen Souveränität sehen. Die Gefahr, dass der Riss durch die Gesellschaft mit der Zeit nur noch größer wird, bleibt bestehen.
Die Politologen der staatlichen Thinktanks wie Alexander Dsermant sind optimistisch. Er hält die Proteste des letzten Jahres für künstlich. "In der Zeit der Proteste breitete sich eine Massenpsychose aus", sagt er: "Sobald die destruktivsten Telegram-Kanäle als Urheber dieser Psychose beseitigt worden waren, sind auch die meisten Menschen zur Vernunft gekommen."
Der russische Politexperte Witali Tretjakow weist hingegen auf eine Lukaschenko-Müdigkeit in der weißrussischen Gesellschaft hin. Diese könne nach wie vor auch für Russland ein Problem sein. Denn wenn Russland die Unterstützung eines unpopulären Staatschefs nicht mit Auflagen zu einer politischen Reform verknüpfte, könne auch das Russland-Image im Land stark darunter leiden und jene Kräfte diskreditieren, die für eine stärkere Integration mit Russland eintreten.
Alexander Lukaschenko wurde zum ersten Mal 1994 zum Präsidenten gewählt. Er war es, der die aktuelle weißrussische Staatlichkeit mit all ihren Vor- und Nachteilen wesentlich gestaltet hat. Daher hat er mit typischen Schwierigkeiten eines personalisierten Regimes zu kämpfen. Jetzt geht es darum, das "Copyright" für diesen weißrussischen Staat an die jüngere politische Generation weiterzureichen. Dabei müsste er auch jene kosmopolitischen Gutverdiener aus der weißrussischen IT-Branche, die im letzten Jahr zu einer der Stützen der Opposition geworden sind, wieder zur Kooperation bewegen können. Das würde wiederum Reformen bedeuten, welche die politische Teilhabe dieser Schichten ermöglichen, damit es in den nächsten Jahren nicht noch einmal zum Versuch einer "bourgeoisen Revolution", wie Lukaschenko sie selbst bezeichnet, kommt.
Dass das System Lukaschenko ausgesprochen krisengefährdet ist, sagte RT DE der russische Experte für ostslawische Länder Oleg Nemenski noch im August letztes Jahres nur wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen, nach denen die Ausschreitungen begannen:
"In Weißrussland haben wir es mit einer autoritären Macht zu tun, und ohne Lukaschenko ist sie schwer vorstellbar. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das System in eine Krise stürzen und einen Bruch erleiden wird, falls Lukaschenko gehen muss – in allen denkbaren Szenarien, wie dieser Abgang vonstattengeht. Derartige Systeme sind robust, solange ihre Urheber stark und in der Lage sind, die Sympathie der Mehrheit der Bevölkerung an sich zu binden. Die mehrheitliche Unterstützung ist notwendig. Das macht das System allerdings nicht demokratischer."
Lukaschenko und seiner Umgebung sind dieser Schwächen offenbar bewusst. Während des "Großen Gesprächs" am Montag hat Lukaschenko viel über die Phase des offenbar doch bevorstehenden politischen Übergangs seines Amtes an einen Nachfolger sinniert. Er hat seine Entschlossenheit bekräftigt, ein Referendum zu Änderungen der Verfassung durchzuführen. Diese sollen die Machtgewalten in Richtung Parlament, aber auch an solche Organe wie die Allweißrussische Versammlung verschieben. Und zwar aus einem praktischen Grund: damit ein kollektives Kontrollorgan den nächsten, unerfahrenen Präsidenten vor gravierenden Fehlern bewahre. Die Republik müsse dabei trotzdem starke Präsidialmacht bleiben, betonte Lukaschenko.
Und was wird mit der Exil-Opposition? "Für uns gab es in diesem Jahr sowohl Siege als auch Niederlagen", sagte der Chef-Berater von Swetlana Tichanowskaja Franak Wjatschorka rückblickend im Interview mit dem staatlichen US-Sender Current Time über den gescheiterten Staatsstreich. Aus dem Gespräch wurde klar, dass es sich um nichts anderes als einen versuchten Staatsstreich handelte, denn er redete über die Machtübernahme durch gut koordinierte blitzschnelle Aktionen, die eine vollständige Lähmung der bestehenden staatlichen Organe und der wichtigsten Industriezweige zum Ziel hatten. Grundlage für diese Machtübernahme durch einen losen Zirkel von Oppositionellen war die durch nichts bewiesene Behauptung, Swetlana Tichanowskaja hätte die Wahlen gewonnen.
Nun will Wjatschorka die Weißrussen auf einen längerfristigen Kampf einstimmen. "Der heutige Protest ist nicht mehr visualisiert und äußert sich im Ungehorsam und einer Art 'Partisanentum', die Energie und Hoffnung sind noch da", sagte der im litauischen Vilnius ansässige Politiker. "Lukaschenko hält sich nur mit Gewalt und Terror an der Macht. Es bilden sich Zivilgesellschaft und Selbstorganisation aus. Das Wichtigste ist, dass sich nun bei Weißrussen die Immunität zur Diktatur herausbildet. Das bedeutet, dass wir – wenn Lukaschenko fällt – nach einer Übergangsperiode nicht mehr zum Autoritarismus zurückkehren werden." Swetlana Tichanowskaja sei zwischenzeitlich zu einer der wichtigsten Führerinnen auf der Welt geworden, betonte er, "weil sie Weißrussland auf der internationalen Ebene vertritt". "Die führenden Politiker der Welt beraten mit ihr", so Wjatschorka.
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