Europa

Mehr Nuklearraketen in Europa? Es ist, als hätten die USA nichts aus den 1980er Jahren gelernt

Vor vier Jahrzehnten hätte die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Europa beinahe einen Atomkrieg mit der Sowjetunion ausgelöst. Mit der Stationierung neuer Raketen in Deutschland unterstreicht Joe Biden nun einfach erneut den Wahnsinn der US-Politik.
Mehr Nuklearraketen in Europa? Es ist, als hätten die USA nichts aus den 1980er Jahren gelerntQuelle: Sputnik © RIA Novosti

Ein Kommentar von Scott Ritter

Es gibt ein oft wiederholtes Sprichwort, das häufig Albert Einstein zugeschrieben wird, dass "die Definition von Wahnsinn darin besteht, immer wieder dasselbe zu tun und unterschiedliche Ergebnisse zu erwarten". Auch wenn der Ursprung dieser Weisheit ungewiss sein mag, geht ihre zentrale Botschaft nicht verloren für jene, die sie gehört oder gelesen haben, und die im Grunde eine Neuformulierung der berühmten Weisheit des amerikanischen Philosophen George Santayana ist: "Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen."

Ich bin alt genug, um mich an die Krise in Europa Anfang bis Mitte der 1980er Jahre zu erinnern, in Folge der Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen der USA, insbesondere der Pershing II, einer zweistufigen mobilen Festbrennstoffrakete, mit einer Reichweite von 1.700 Kilometer. Von ihren Einsatzorten in Westdeutschland aus, hätte die Pershing II innerhalb von vier bis sechs Minuten nach ihrem Start Ziele in und um Moskau treffen können, was den Vereinigten Staaten und der NATO die Möglichkeit gab, die Führung der Sowjetunion in einem Überraschungsangriff zu enthaupten.

Man begann damit, diese Raketen ab 1983 in Westdeutschland zu stationieren. Die Sowjets waren dermaßen besorgt darüber – und über die Absicht der NATO, sie auf breiter Front aufzustellen – dass im November 1983, als eine groß angelegte NATO-Befehls- und Gefechtsübung, bekannt als Able Archer 83, durchgeführt wurde, die Sowjets ihre strategischen Nuklearstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzten, weil sie befürchteten, diese Übung sei nur ein Deckmantel für einen nuklearen Überraschungsangriff der NATO.

In seiner Autobiografie "From the Shadows" (Aus den Schatten) beschrieb der ehemalige CIA-Direktor Robert Gates die Besorgnis in der Sowjetunion über das Potenzial für einen überraschenden nuklearen Angriff der NATO als sehr real. Darüber hinaus wies er darauf hin, dass dies damals, in Verbindung mit erhöhten politischen Spannungen, eine echte Gefahr einer Fehleinschätzung in sich trug, die leicht außer Kontrolle geraten und in den endgültigen Flächenbrand hätte münden können – ein totaler Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion, der beide Länder und einen Großteil der Welt zerstört hätte.

Die Pershing-II-Raketen wurden der 56. Feldartillerie-Brigade mit Sitz im westdeutschen Schwäbisch Gmünd zugeteilt. Die 56. Brigade war mit 72 Startrampen ausgestattet, von denen jede eine Pershing-II-Rakete abfeuern konnte, die jeweils mit einem Sprengkopf von 50 Kilotonnen bestückt war. Zum Vergleich: Die Atombomben, mit denen die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 zerstört wurden, hatten 15, bzw. 21 Kilotonnen. Im Jahr 1985, nachdem die Stationierung der Pershing-II-Raketen abgeschlossen war, wurde die 56. Feldartillerie-Brigade in das 56. Feldartillerie-Kommando umbenannt.

Zum Glück für die Welt, sah sich das 56. Feldartillerie-Kommando nie einem realen Kriegseinsatz gegenüber. Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten der damalige US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow den Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen (INF), der eine ganze Klasse nuklearfähiger ballistischer Raketen, einschließlich der Pershing II und der sowjetischen SS-20, verbot und Inspektionsverfahren festlegte, um diese Raketen zu vernichten und die Einhaltung des Vertrags zu überprüfen.

Ich hatte das Privileg, zu den allerersten amerikanischen Inspektoren zu gehören, die in die Sowjetunion reisten, um die Bestimmungen dieses Vertrags umzusetzen. Als Teil der Abrüstungsbestimmungen des Vertrages wurden die dem 56. Feldartillerie-Kommando zugeordneten Pershing-II-Raketen außer Dienst gestellt und zerstört, 1991 wurde das Kommando komplett aufgelöst.

Die Vernunft hatte gesiegt.

Am 8. November 2021 – rund 30 Jahre nach ihrer Auflösung – wurde das 56. Feldartillerie-Kommando in einem Festakt im deutschen Mainz-Kastel, ihrem neuen Standort, reaktiviert. Die Mission des 56. Feldartillerie-Kommando besteht darin, als operative Drehscheibe für Artillerieoperationen in ganz Europa zu dienen, einschließlich der Stationierung der neuen Hyperschallrakete Dark Eagle sowie von Typhon, einem Mehrzwecksystem, das Trägerraketen und Feuerleitsysteme umfasst, das fast identisch mit dem landgestützten Raketenabwehrsystem Mk 41 Aegis ist, das die USA in Polen und Rumänien stationiert haben.

Die Typhon wird modifizierte SM-6-Boden-Luft-Raketen verwenden, die derzeit bei der US-Marine im Einsatz sind und in einem Boden-Boden-System eingesetzt werden, sowie Versionen für den Bodenangriff der Angriffs-Marschflugkörper Tomahawk der Marine. Sowohl das Dark Eagle als auch die Typhon sollen in den kommenden Jahren in Deutschland aufgestellt werden. Beide Waffen wären im Rahmen des INF-Vertrags verboten gewesen, aber der Rückzug der USA aus diesem Vertrag im August 2019 ebnete den Weg für ihre Entwicklung und schließlich ihren Einsatz.

Sobald sie auf ihren deutschen Stützpunkten stationiert sind, könnten sowohl das Dark Eagle- als auch das Typhon-System einen verheerenden Präventivschlag gegen russische Kommando-, Kontroll- und Führungsziele in und um Moskau ausführen, wobei die Sprengköpfe ihre Ziele in weniger als fünf Minuten nach dem Start erreichen. Während die USA angeben, dass die Dark Eagle mit konventionellen Sprengköpfen bewaffnet sein wird, besteht das Potenzial dieser Waffe und des bodengestützten Tomahawks, nukleare Sprengköpfe zu tragen, und kann daher von russischen Militärs und politischen Führern nicht ignoriert werden und man kann erwarten, dass die russische Führung entsprechend reagieren wird.

Es scheint, als ob niemand in einer Führungsposition, weder im Weißen Haus noch im Pentagon, ein Verständnis für Geschichte hat, und es scheint, als wären die USA, wie Santayana es beschrieb, dazu verdammt, sie zu wiederholen, womit wir wieder bei Einsteins Definition von Wahnsinn angelangt sind.

 Scott Ritter

ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des US Marine Corps. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor bei der Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und von 1991-1998 als UN-Waffeninspektor. Man kann ihm auf Twitter unter @RealScottRitter folgen.

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