Europa

Gregor Gysi: "Müssen Russlands Sicherheitsbedürfnis ernst nehmen"

Der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Gregor Gysi, sieht unterschiedliche Schwerpunkte bei der Diskussion um die Ukraine-Krise. Es existiere keine akute Kriegsgefahr seitens Russlands, da dies den Sicherheitsinteressen des Landes widersprechen würde, so Gysi.
Gregor Gysi: "Müssen Russlands Sicherheitsbedürfnis ernst nehmen"Quelle: Gettyimages.ru © picture alliance / Kontributor

Der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Gregor Gysi, sieht das Hauptproblem bei der Diskussion um die Ukraine-Krise darin, dass der Westen und Russland unterschiedliche Schwerpunktthemen vertreten würden. Russland nutze die Krise, um die eigenen Sicherheitsbedürfnisse geltend zu machen, sagte Gysi in einem Interview mit dem Radiosender Bayern 2. Westliche Politiker würden dagegen die Ukraine zum alleinigen Thema machen. Dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sagte der Bundestagsabgeordnete:

"Die NATO ist auf Vorschläge Russlands nicht eingegangen und hat sich immer stärker erweitert, sodass sich die russische Führung umzingelt fühlt."

Gysi fordert daher von Bundeskanzler Olaf Scholz, vor dessen Moskau-Reise am Dienstag und dem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin unbedingt auf "einen Interessenausgleich zwischen Russland und dem Westen" zu dringen, so wie der französische Präsident Emmanuel Macron "die Initiative" jüngst ergriffen hätte, heißt es beim RND weiter.

Mit Blick auf die aktuelle politische Strategie Russlands sprach er im Interview mit Bayern 2 vom Aufbau einer "bewussten Drohkulisse", die jedoch nicht in Zusammenhang mit einer "akuten Kriegsgefahr" stünde.

Durch diese Strategie müsse der Westen nun mit Putin reden, was vorher "nicht der Fall" gewesen sei. Zu den Absichten des russischen Präsidenten erklärte Gysi:

"Er will den Westen zwingen, die Sicherheitsbedürfnisse Russlands anzuerkennen. Es kann ja sein, dass die NATO auch nicht die geringste Absicht hat, in Russland einzumarschieren, aber wenn er [Putin] das anders sieht, muss man seine Sorgen ernst nehmen."

Der russische Präsident hätte drei Forderungen gestellt: "US-Atomwaffen raus aus Europa. Dann hat er gesagt, es muss einen Mindestabstand geben zwischen NATO-Truppen und Russland etc." Der Westen müsse daher "Gegenvorschläge machen", erklärte Gysi. Diese wären beispielsweise:

  • Keine Hackerangriffe mehr aus Russland
  • Die Souveränität aller Nachbarstaaten Russlands müssen anerkannt werden
  • In gewissen Gebieten keine Manöver mehr

Auf dem Wege beidseitig klar formulierter Forderungen und bei einem gegenseitigen Entgegenkommen bestünde die Möglichkeit "diplomatischer Lösungen". Gysi betonte im Interview, dass er nach dem Abzug der US-Amerikaner aus Afghanistan die Formulierung von US-Präsident Biden bei der UNO "Wir müssen zurückkehren zur völkerrechtlichen Diplomatie" sehr geschätzt habe. Das sei "wahr", sei aber "jahrelang ausgefallen", so Gysi. Russische Interessen seien "nicht ernst genommen" worden.

Er gab zu bedenken, dass China Russland wirtschaftlich überlegen sei. Russland sei China hingegen militärisch überlegen. "Wenn gegen beide hart vorgegangen wird", würden sie sich zusammenschließen und es entstünde ein "Machtfaktor". Daher bleibe das wichtigste Ziel, "zu Diplomatie und Völkerrecht zurückzukehren". Für Gysi sei nicht nachvollziehbar, warum Bundeskanzler Scholz "erst jetzt" nach Russland reisen würde. Scholz' Vorgängerin Angela Merkel wäre da sicherlich "schneller gewesen". Dass der Kanzler zuerst in die Ukraine und dann nach Russland reist, hätte eine "symbolische Bedeutung". Damit wolle man der Ukraine "beweisen: Wir stehen an eurer Seite".

Nach Einschätzung des Linken-Politikers könnte Scholz in Moskau zum Beispiel anbieten, dass die Ukraine "für eine bestimmte Zeit" kein Mitglied der NATO werde. Gleichzeitig müsse Russland dann "akzeptieren", dass Gespräche seitens des Westens geführt werden, die Ukraine in die EU aufzunehmen. Gysi ergänzte:

"Zum Beispiel könnte er das sagen, aber das darf er ja nicht sagen, wenn er nicht die Genehmigung der USA und der anderen Staaten hat. Aber er kann sagen, er wird sich dafür einsetzen." 

SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich erklärte am Montag im ARD-Morgenmagazin, dass die russischen Sicherheitsbedenken auch auf "große Fehler" der US-Regierung unter dem damaligen Präsidenten George W. Bush zurückzuführen seien. Er nannte dabei neben der "Invasion im Irak" namentlich "Verwerfungen hier in Europa" und den "Abschied von Rüstungskontrolle". Mützenich weiter:

"Alles das sind Dinge, die auch Russland verunsichern. Ich teile gewisse Bedenken nicht, aber ich kann sie durchaus nachvollziehen."

Man müsse öffentlich anerkennen, "dass auch Russland berechtigte Sicherheitsinteressen hat". "Das hat nichts mit der Ukraine zu tun", sondern "mit den USA, dem Wegfall von Rüstungsabkommen", so der SPD-Politiker im Interview. Die Idee des ukrainischen Berlin-Botschafters Andrei Melnyk, Scholz könne den russischen Präsidenten Wladimir Putin und den ukrainischen Staatschef Wladimir Selenskij zu Verhandlungen nach Berlin einladen, kommentierte Mützenich eher zurückhaltend. Man sollte sich "zunächst auf die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder kleinere internationale Foren beziehen", sagte er.

Der Grünen-Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky forderte Bundeskanzler Scholz auf, bei dessen Begegnung mit Putin Klartext zu sprechen. "Jedweder Dialog kann nur darauf abzielen, Moskau den Preis einer Invasion klarzumachen", sagte er dem RND. Die stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Bundestag, Agnieszka Brugger, wird vom RND mit den Worten zitiert:

"In dieser hochgefährlichen Situation auf unserem Kontinent und für die Menschen in der Ukraine braucht es mehr denn je Entschlossenheit, Klarheit und alle Solidarität. Die Bundesregierung nutzt gemeinsam mit unseren Verbündeten unter Hochdruck jede Möglichkeit, diese Krise mit allen diplomatischen Mitteln zu entschärfen und unter Androhung heftiger Sanktionen weitere russische Aggression zu beantworten."

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock erklärte laut dpa, dass sie "die Forderung nach einem russischen Truppenrückzug von den Grenzen der Ukraine" weiterhin bekräftige. Sie warnte:

"An den Grenzen zur Ukraine steht durch den russischen Truppenaufmarsch im Moment das Schicksal eines ganzen Landes und seiner Bevölkerung auf dem Spiel. Die Situation ist äußerst gefährlich und kann jederzeit eskalieren."

Die Verantwortung für eine Deeskalation liege "klar bei Russland", so Baerbock

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