Medwedtschuk in Geiselhaft: Selenskij will den Oppositionellen austauschen
Wladimir Selenskij ließ es sich nicht nehmen, diese Nachricht selbst zu verkünden. Dienstagabend publizierte der ukrainische Staatschef auf seinen offiziellen Kanälen in sozialen Netzwerken das Foto eines alten Mannes mit zerzaustem Haar, Spuren von Schlägen im Gesicht, gekleidet in einer schlecht sitzenden ukrainischen Militäruniform mit angelegten Handschellen.
Der knappe Kommentar dazu:
"Sonderoperation dank SBU durchgeführt.
Gut gemacht! Details später.
Ruhm der Ukraine!"
Den Namen des Mannes nannte Selenskij nicht – und das war auch nicht nötig. In der Ukraine kennt jeder dieses Gesicht: Das ist Wiktor Medwedtschuk, einst mächtigster Mann im Apparat des Präsidenten Kutschma, dann Strippenzieher im Hintergrund und zuletzt eine der Gallionsfiguren der linkszentristischen Opposition des Landes, im Westen verunglimpfend als "prorussisch" tituliert. Er ist eines der größten Hassobjekte aller Nationalisten und Maidan-Anhänger, weil ihn mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin eine offen gezeigte Freundschaft verbindet. Putin ist Taufpate der Tochter von Medwedtschuk, eine in der ukrainischen Kultur als Wahlverwandtschaft, gar Blutsbruderschaft idealisierte und verbrämte Beziehung.
Fotostrecke: Etwa eintausend ukrainische Marineinfanteristen ergeben sich in Mariupol
Die Nachricht kam für Selenskij gerade rechtzeitig, um das mediale Echo einer anderen Nachricht dieses Abends etwas in den Hintergrund treten zu lassen: In der umkämpften Stadt Mariupol haben sich am Dienstag rund 1.000 ukrainische Marineinfanteristen ergeben, womit dort fast nur noch Kämpfer des nationalistischen Asow-Regimentes in der letzten verbliebenen Zitadelle der Stadt – dem Stahlwerk des Oligarchen Achmetow – Widerstand leisten.
Wenig später legte der ukrainische Geheimdienst SBU nochmals nach und publizierte ein weiteres Foto des prominenten Häftlings, wohl um dem Sprecher des russischen Präsidenten Peskow Paroli zu bieten, der zuvor eine Fälschung des ersten Fotos nicht ausgeschlossen hatte, zu manipuliert erschien manchen der Kopf des Politikers in der für ihn viel zu großen Uniform.
Das neue Foto macht den ersten Eindruck aber nicht besser: Zu deutlich sind nun die Spuren blutiger Wunden auf der Stirn zu erkennen.
Was mit Wiktor Medwedtschuk seit Beginn der russischen militärischen Intervention geschehen war, bleibt vorerst weiter im Dunkeln verborgen. Der Politiker stand seit 14. Mai 2021 unter Hausarrest und ist seit dem Verbot von drei dem Oppositionsblock nahestehenden Fernsehsendern aus der Öffentlichkeit verschwunden. Sämtlicher Besitz des Geschäftsmanns wurde beschlagnahmt. Kurz nach dem 24. Februar 2022 gab es Meldungen, er habe versucht zu fliehen. Dies hätten "Journalisten", die vor seinem Haus ausharrten, bemerkt und verhindert. Diese Meldungen verstummten aber bald wieder, so als hätte jemand Mächtiges den Reportern die Anweisung gegeben, nichts mehr über Bewegungen in dem und rund um das Haus zu publizieren.
Später hieß es offiziell, Medwedtschuk habe sich dem Hausarrest entzogen und sei untergetaucht. Seit Anfang März gab es dann keinerlei Informationen mehr über ihn. Selbst seine Frau, eine bekannte Journalistin und TV-Moderatorin, der es gelungen war, sich ins Ausland abzusetzen, hüllte sich in Schweigen.
Das lässt nun Raum für Spekulationen. Der im spanischen Exil lebende Journalist und Blogger Anatolij Sharij präsentierte gleich zwei Hypothesen der tatsächlich denkbaren Ereignisse. Nach der ersten Hypothese hätte der SBU Medwedtschuk bereits im Februar verhaftet, die zurückliegenden sechs bis sieben Wochen habe er sich dann in einem Gefängnis des Geheimdienstes befunden, sei möglicherweise gar gefoltert worden, worauf der angeschlagene Zustand des Politikers hindeute. Jetzt habe man ihn der Öffentlichkeit mit einer erfundenen Erfolgsmeldung präsentiert, um den militärischen Verlust in Mariupol in der öffentlichen Wahrnehmung zu neutralisieren.
Nach Sharijs zweiter Hypothese soll sich Medwedtschuk tatsächlich ins Ausland abgesetzt haben, allerdings nicht nach Russland, sondern nach Ungarn. Von dort habe ihn der Geheimdienst vor einigen Tagen entführt und in einem Diplomatenfahrzeug wieder in die Ukraine gebracht. Sollte dies stimmen, so hätte das womöglich diplomatische Konsequenzen in den ohnehin schlechten Beziehungen zwischen der Ukraine und Ungarn.
Erfahrungen mit dem Entführen von Personen im Ausland hat der SBU bereits. Vor zwei Jahren wurde auf diese Weise ein ehemaliger Richter aus Moldawien in die Ukraine verbracht.
Eine offizielle Erklärung dazu, wie, wo und wann Wiktor Medwedtschuk in die Hände des Geheimdienstes gelangte, lässt derzeit auf sich warten.
Dafür hat Selenskij nun verkündet, was er mit Medwedtschuk vorhabe: Er will Putin dessen Austausch gegen gefangengenommene ukrainische Soldaten vorschlagen. Zuvor war darüber spekuliert worden, dass ein Austausch gegen einen in Mariupol in den Katakomben des Stahlwerkes angeblich ausharrenden NATO-General angestrebt werden könne.
Der langjährige Abgeordnete des ukrainischen Parlamentes und derzeitige Hoffnungsträger der antifaschistischen Ukraine Oleg Zarjow kommentiert Selenskijs Ankündigung in scharfen Worten:
"Die Tatsache, dass Selenskij vorschlägt, den ukrainischen Staatsbürger Medwedtschuk gegen ukrainische Soldaten der Streitkräfte auszutauschen, unterstreicht einmal mehr, dass in der Ukraine ein Bürgerkrieg herrscht.
Die Tatsache, dass der Politiker Medwedtschuk die Geisel von Selenskij ist, zeigt, dass Selenskij ein Terrorist ist.
Und wie Sie wissen, kann man mit Terroristen nicht verhandeln."
In der ersten Märzhälfte sind in der Ukraine bereits zahlreiche prominente Oppositionelle und Intellektuelle unter ungeklärten Umständen verschwunden. Beobachter reden von mindestens 600 vermissten Personen allein in Kiew. RT DE hat bisher zweimal darüber berichtet. Bis auf Miroslawa Berdnik, die (wieder) auf freiem Fuß zu sein scheint, ist das Schicksal der in den früheren Berichten Genannten weiterhin unbekannt, Beobachter rechnen mit dem Allerschlimmsten. So zynisch es klingen mag, so macht das Auftauchen von Wiktor Medwedtschuk doch zumindest etwas Hoffnung, dass einige noch am Leben sein könnten.
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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.