Die "lettische Mischung": Wie man die Öl-Sanktionen umgehen kann
Von Maria Müller
Man wirft der Europäischen Union und den G7-Staaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien, USA, Kanada und Japan) vor, nicht hart genug mit "dem Feind" umzugehen, wenn man sich auf 65 bis 70 Dollar pro Barrel einigen würde. Das könne Russland unzumutbare Gewinne für die Kriegskasse bringen. Die Höchstgrenze dürfe 30 Dollar nicht überschreiten. Doch geht es hier um reine NATO-Treue? Oder steckt ein handfestes Wirtschaftsinteresse dahinter?
Estland exportiert Heizöl nach Saudi-Arabien
Vor einigen Wochen tauchte eine wunderliche Schlagzeile in den Mainstream-Medien auf. Der Wirtschaftsdienst Bloombergberichtete, dass Estland Heizöl an den weltweit größten Erdölexporteur Saudi-Arabien liefere.
Bekannt ist, dass das russische "Ural-Öl" mit einem Preisrabatt von 30 Prozent auf dem Weltmarkt billiger als dasjenige aus Saudi-Arabien ist. Um Geld zu sparen, kaufen die Saudis also das billigere russische Produkt und stellen damit die landeseigene Elektrizitätsproduktion sicher. Gleichzeitig bieten sie das einheimisch geförderte, teurere arabische Öl auf dem Weltmarkt an.
Doch wie kommt gerade Estland dazu, Öl in großen Mengen zu exportieren? Das kleine Land verfügt nur über begrenzte Schieferölvorkommen und besitzt keine eigene Raffinerie. Es gibt nur eine Möglichkeit: Estland kauft das Öl vom benachbarten Russland, trotz aller EU-Embargos.
Estland kauft heimlich russisches Öl zum Vermischen
Unter den globalen Großhändlern für Kohlenwasserstoffe sei es ein offenes Geheimnis, dass Estland heimlich Rohstoffe von Moskau kaufe, um sie dann in einer bestimmten Mischung weiter zu vermarkten. Lettland und Estland kooperieren wie gute Nachbarn auch in diesem Bereich.
"Der typische Handel geht von Primorsk, einer russischen Ölexportstadt in der Nähe von Sankt Petersburg, nach Ventspils, dem Hafen in Lettland, der über ein großes Ölterminal und Tankkapazitäten verfügt. Dort findet die Vermischung statt. Auch gemischtes russisches Dieselöl wird von dort aus geliefert."
Estland bezieht sein Export-Öl aus Ventspils. So gilt eine Zusammensetzung verschiedener russischer Ölqualitäten nicht mehr als "russisch", wenn diese weniger als 50 Prozent des Gesamtvolumens ausmachen. Das heißt, eine Mischung verschiedener Sorten, in deren Volumen das "Ural" höchstens 49,99 Prozent einnimmt, ist kein "russisches" Produkt mehr.
Ölgesellschaften und Rohstoffhändler nutzen solche Mischungen, um den Fluss russischer Energieträger nach Europa und global aufrechtzuerhalten. Auch Konzerne wie Shell arbeiten damit in großem Umfang. Das Manöver untermauert einen undurchsichtigen Markt für russischen Diesel und andere raffinierte Erdölprodukte.
Die lettische Mischung
Für die Insider des Ölgeschäfts ist der Begriff der "lettischen Mischung" einfach eine Abkürzung für jede Mischung, die russische Moleküle enthält, unabhängig davon, wo das Mischen stattgefunden hat. Denn es gibt viele andere Orte, wo auf diese Weise die Herkunft des Rohstoffs unkenntlich gemacht wird, eingeschlossen die Niederlande.
Die Gewinnspanne Estlands beim Weiterexport
Wenn man die Wirtschaftsinteressen Estlands und Lettlands am Mischen und Weiterverkaufen russischen Mineralöls berücksichtigt, erscheint die Forderung dieser Länder nach einer extremen Herabsetzung der Preisobergrenze unter einem anderen Licht. Bei einem internationalen Preis von 65 bis 70 Dollar pro Barrel müssten Lettland und Estland ihren bisherigen Preisaufschlag auf das verbilligte russische Produkt mit Sicherheit reduzieren. Sicherlich wäre der Endpreis für Saudi-Arabien nicht mehr so attraktiv und der umfangreiche Export Estlands womöglich infrage gestellt.
Estland hat sich bereits vor dem Krieg in der Ukraine als Exporteur von Ölmischungen nach Saudi-Arabien profiliert. Laut einer Statistik von Bloomberg erreichten die Ölexporte aus Estland nach Saudi-Arabien zwischen Januar 2018 und September 2019 fast täglich zwischen 20.000 und 40.000 Barrel. Danach erfolgte ein Rückgang, um im März 2022 wieder auf ähnliche Werte anzusteigen und sich seitdem weiter auf rund 48.000 Barrel zu steigern.
Ölmischungen als Hintertür bei Sanktionen
Die lettische Mischung erinnert an ähnliche Hintertüren für den Handel mit sanktioniertem iranischem und venezolanischem Rohöl, das im Fernen Osten jahrelang als "malaysische Mischung" oder "Singapur-Mischung" angeboten wurde. Wie übrigens russisches Öl, das auf wundersame Weise "indisch" wurde, nachdem es die Küste Indiens erreicht hatte.
Riad hat seine Ölimporte aus Russland in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt.
Griechenlands weltgrößte Tankerflotte
Derzeit wird russisches Öl weiterhin von griechischen Tankern transportiert, die griechischen Reeder bauten ihre Kapazitäten zuletzt sogar aus. Wurden vor Kriegsbeginn gemäß Berechnungen des International Institut of Finance etwa 35 Prozent der russischen Ölexporte durch griechische Schiffe transportiert, ist dieser Anteil auf 55 Prozent angewachsen. Die Exportmenge an russischem Öl lag in den Sommermonaten deutlich über dem Durchschnitt der Vorjahre.
China hat die zweitgrößte Schiffsflotte der Welt
Der größte Teil des russischen Öls wird an dem Ölembargo vorbeifließen. Anlass dazu geben attraktive Absatzalternativen auf dem asiatischen Markt. Indien und China haben in den vergangenen Monaten ihre Nachfrage drastisch erhöht. Russland räumt den Ländern einen Rabatt von bis zu 30 Prozent ein. China besitzt zudem die zweitgrößte Schiffsflotte der Welt und kann seine Schiffe selbst versichern. Auch Indien könnte seine Schiffe über chinesische oder russische Rückversicherer versichern lassen.
Denn das neue Sanktionspaket sieht vor, dass westliche Schiffsversicherer keine Tanker mehr rückversichern dürfen, die russisches Öl transportieren. Drittländern, die sich den zukünftigen Sanktionen widersetzen, wird auch mit einem endgültigen Ausschluss von zukünftigen europäischen Dienstleistungsausschreibungen gedroht. Bei Ladungen aus Estland mit der "lettischen Mischung" dürfte das jedoch schwierig sein.
Der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew sagte, dass für den Fall eines Preisdeckels Russland die Gaslieferungen nach Europa einstellen werde.
"Es wird einfach kein russisches Gas in Europa geben",
schrieb der Vizechef des russischen Sicherheitsrates auf Telegram.
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