Europa

Warum die Bolschewiki den demütigenden Friedensvertrag von Brest-Litowsk eingingen

Der Frieden von Brest war ein zutiefst erzwungener, demütigender, aber auch notwendiger Vertrag. Ein Verzicht auf diesen Vertrag hätte Russlands desolate Lage gegen Ende des Ersten Weltkriegs nicht nur weiter verschlimmert, sondern auch das Ende der Eigenständigkeit des russischen Staates zur Folge gehabt.
Warum die Bolschewiki den demütigenden Friedensvertrag von Brest-Litowsk eingingenQuelle: Sputnik © RIA Novosti

Von Timur Schersad

Zur Jahreswende 1917/1918 wollten fast alle in Europa Frieden. Unterschiedlich waren jedoch die Bedingungen, zu denen die Kriegsparteien bereit waren, zuzustimmen, und darin lag der Hauptgrund, weshalb der Krieg noch weiter andauerte.

England und Frankreich waren von ihrer materiellen Überlegenheit überzeugt und daher bereit, trotz Erschöpfung und sogar Aufständen in den Truppen bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Deutschland, dessen Lage an der Front relativ günstig war, verspürte bereits die Auswirkungen der Seeblockade, durchgesetzt von der Entente, und spielte weiterhin den Tapferen, tendierte aber in Wirklichkeit zu einem Frieden zu einigermaßen guten Bedingungen für sich selbst. Und Mächte wie Russland, Österreich-Ungarn, Italien und die Türkei waren so erschöpft, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes am Ende ihrer Kräfte waren. Sie waren sogar zu einem separaten und nicht gerade schmeichelhaften Frieden bereit.

Darüber gab es in Petrograd bereits Ende 1916 erste ernsthafte Gespräche ‒ diese wurden aber von der obersten Gewalt abgelehnt. Die Folgen des Februarputsches von 1917 schwächten die Kampfkraft von Armee und Marine erheblich. Und kurz vor der gewaltsamen Machtübernahme durch die kommunistischen Bolschewiki im Oktober war die Lage noch bedrückender. Aus zahlreichen Gründen, unter anderem aus logistischen, war das Land nicht mehr in der Lage, die Front nicht nur mit Geschossen, sondern sogar mit Lebensmitteln in der erforderlichen Menge zu versorgen.

Das Militär forderte Nachschub und sah die einzige Alternative in einer radikalen Reduzierung der Streitkräfte an der Front. Da die Sommeroffensive von 1917, bei der alle noch verbliebenen Kräfte eingesetzt wurden, gescheitert war, kam eine weitere nicht in Frage. Für Russland war jedoch Ende 1917 und Anfang 1918 selbst das bloße Aufrechterhalten der Front ein ernstes Problem. Die Deutschen nutzten den Vorteil nicht und zogen es vor, ihre Truppen an die Westfront zu verlegen, doch früher oder später hätten sie zugeschlagen ‒ und dann wäre der große Rückzug von 1915 als kleiner operativer Rückschlag erschienen.

Der Abschluss des Friedens lag sowohl im Interesse Russlands als auch Deutschlands. Russland bekam die Gelegenheit, seine Wunden zu heilen, und eine gewisse Chance, dies ohne weitere innere Unruhen zu tun. Und Deutschland konnte seine Truppen an die Westfront verlegen, um den Versuch zu unternehmen, seine Feinde zu besiegen, bevor die amerikanischen Hauptstreitkräfte nach Europa verlegt wurden, die das ausgeschiedene Russland ersetzen sollten.

Diesem, so könnte es scheinen, kam die Politik der Bolschewiki zugute, welche die Macht ergriffen ‒ Lenins Partei gelang der Coup d'État unter Friedensparolen. Dahinter steckten allerdings eher marxistische als nationale Überlegungen. Denn Frieden wollten die Bolschewiki nicht so sehr für Russland als vielmehr für die Verwirklichung ihrer Vorstellungen von einer Weltrevolution. Europa war von einem Krieg zermürbt, den es nie zuvor gekannt hatte, und ein Frieden unter der ultralinken Devise "ohne Annexionen und Kontributionen" hätte die Gesellschaften der westlichen Länder schwer erschüttern können. Kriegsmüde Nationen hätten gesehen, wie gut die ultralinken Ideen ihre Probleme lösen können, und würden ihre eigenen Regierungen stürzen, um die Erfahrungen des hypothetischen russisch-deutschen Beispiels nachzumachen.

Um dieses Kalkül jedoch in die Tat umzusetzen, musste zunächst eine Einigung mit der kaiserlichen Elite erzielt werden. Die Deutschen waren den Verhandlungen keineswegs abgeneigt, allerdings zu ihren eigenen Bedingungen und nicht zu denen der Bolschewiki. Die entsprechenden Gespräche begannen im Dezember 1917 in Brest-Litowsk, fast unmittelbar nach der Machtergreifung durch die Bolschewiki. Deutschlands Appetit wurde durch die Tatsache angeregt, dass es seinen Truppen gelungen war, beträchtlich in russische Territorien vorzudringen. Die Deutschen eroberten Riga und standen in der Nähe von Minsk. Und natürlich hegten sie keine Absichten, sich zurückzuziehen.

Gleichzeitig waren sie auf russisches Brot dringend angewiesen, um die Nahrungsmittelblockade auszugleichen. Sie waren bereit zu verhandeln. Die Bolschewiki versuchten, diesen Trumpf auszuspielen, indem sie mit den Deutschen Verhandlungen zum Frieden "ohne Annexionen und Kontributionen" führten. Anfangs versuchten sie, einen sechsmonatigen Waffenstillstand auszuhandeln. Man glaubte, dass in Europa eine revolutionäre Stimmung heranreife und man nur etwas Zeit gewinnen müsse, dann würde alles zusammenbrechen und sowjetisch werden. Diese Strategie ging allerdings nach hinten los: Anfang 1918 griff eine weitere Partei, die Delegation der ukrainischen Rada, in den Verhandlungsprozess ein. Die Macht der Rada selbst war nicht besonders stark vor Ort. Die Beteiligung an internationalen Verhandlungen als eigenständiger Staat ‒ zu diesem Zweck erklärten die Ukrainer ihre Unabhängigkeit ‒ hätte sie stärken können. Zumindest theoretisch. Jedenfalls waren die Deutschen darüber begeistert, dass eine neue politische Kraft aufgetaucht war.

Im deutschen Generalstab schätzte man damals den Zustand der russischen Truppen nicht besonders hoch ein und glaubte, dass sie den Feind an der Ostfront jederzeit besiegen würden, wenn es nötig wäre. Das Auftauchen der Ukrainer, die bereit waren, ihre Produkte unter jedem noch so hörigen Vertrag zu liefern, beraubte die Bolschewiki ihrer letzten ernsthaften Trumpfkarte.

Allerdings war das Vorhaben des roten Petrograds ein anderes. Die Bolschewiki dachten in weltpolitischen und revolutionären Dimensionen. So zogen sie die Verhandlungen in die Länge und wiesen die deutschen Bedingungen zurück. Zugleich wurde eine verstärkte Propaganda betrieben, die an die deutschen Soldaten vor Ort appellierte. Die bolschewistische Delegation nutzte jede Gelegenheit, um Deutschland von innen heraus in Brand zu setzen. Die Deutschen aber erkannten, dass man sie an der Nase herumführte, weshalb sie kurz davor waren, das Schachbrett auf den Kopf zu stellen.

Dennoch unterzeichnete die Rada am 13. Februar 1918 ihren Separatfrieden mit Deutschland, wodurch den Deutschen endgültig die Hände frei wurden. Sie stellten Petrograd ein Ultimatum: Entweder werde der gewünschte Frieden unterzeichnet, wobei der Anspruch auf Polen und das Baltikum entfällt, oder die Kanonen beginnen zu sprechen. Die Bolschewiki debattierten lange ‒ und entschieden sich für den Weg "kein Frieden, kein Krieg". Russland würde die ohnehin schon zerfledderte und unbrauchbare Armee demobilisieren, aber keine territorialen Verluste anerkennen. Es wurde angenommen, dass ein Angriff auf das demonstrativ abgerüstete Land dem deutschen Proletariat Auftrieb geben und die Revolution näher bringen würde.

Diese Annahmen gingen nach hinten los ‒ die Deutschen begannen am 18. Februar eine Offensive entlang der gesamten Front. Dabei war der Vormarsch schnell ‒ zu einer gewaltigen Revolution, die Deutschland zu Fall bringen und in ein Sowjetland verwandeln sollte, kam es jedoch nicht. Den kaiserlichen Truppen wurde praktisch kein organisierter Widerstand entgegengesetzt. In den Reihen der bolschewistischen Partei selbst gab es rege Diskussionen darüber, ob man den deutschen Friedensbedingungen zustimmen oder bis zum Ende für die ursprüngliche Idee "keine Annexionen und Kontributionen" kämpfen sollte. Lenin war übrigens ein Befürworter eines Friedensschlusses zu jeden Bedingungen. Er war der Meinung, dass die bestehende Armee aufzulösen sei und man eine neue, revolutionäre, disziplinierte ‒ also die zukünftige Rote Armee ‒ schaffen müsse. Und solange habe man sich nirgends einzumischen. Ihm gelang es aber nicht, die Mehrheit des Zentralkomitees zu gewinnen.

Die deutsche Offensive änderte alles. Die deutschen Stellungen bei Narwa, Minsk und Schitomir und der rasche Rückzug der alten Armee machte eine andere Einschätzung der Lage erforderlich. Am 23. Februar schwankte das Zentralkomitee ‒ Lenins Gegner, darunter Trotzki (Lew Bronstein), enthielten sich bei der Abstimmung über das deutsche Ultimatum. Infolgedessen erklärte sich das Sowjetrussland bereit, Frieden zu schließen. Die Bedingungen waren hart ‒ Russland verlor vier Prozent seines Territoriums und 26 Prozent seiner Bevölkerung. Dabei ging es um die am besten erschlossenen Territorien, also um diejenigen Gouvernements, die reich an Industrie und Eisenbahnlinien waren, und nicht um die sibirische Taiga. Russland verlor die Kontrolle über die baltischen Staaten, die Ukraine, Polen und Finnland. Außerdem musste Russland seine Truppen nicht nur aus dem Teil des Osmanischen Reiches abziehen, der im Ersten Weltkrieg besetzt worden war, sondern auch die Städte an die Türken abtreten, die es während des Russisch-Türkischen Krieges erworben hatte.

Die Rede war von etwa 26 Prozent des europäischen Teils Russlands, etwa 40 Prozent der gesamten Getreideernte, etwa ein Drittel der Industrie und 56 Millionen Menschen. Ein Teil dieser Gebiete musste im Nachhinein erneut "zurückerobert" werden, ein anderer Teil ging überhaupt für immer verloren.

Die Nichtannahme der Bedingungen des Friedensvertrags von Brest hätte jedoch durchaus das Ende der Eigenständigkeit des russischen Staates zur Folge gehabt. Hätten die Deutschen Petrograd erreichen wollen, so hätten sie dies getan. Dadurch hätte sich das Chaos unweigerlich vergrößert, und in der Folge wären weitere Gebiete von Russland abgefallen. Der Frieden von Brest war ein zutiefst erzwungener, demütigender, aber auch notwendiger Vertrag. Ohne diesen Vertrag hätten sich die Umstände im Jahr 1918 zum Schlechten gewandt. So konnte sich das Land von seinen Niederlagen erholen und später revanchieren.

Zuerst erschienen bei Wsgljad. Übersetzt aus dem Russischen.

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