Warschau profitiert vom Konflikt mit Selenskij
Von Kirill Awerjanow
Als einen "sehr großen strategischen Fehler des Herrn Selenskij" hat Polens ehemaliger Verteidigungsminister Antoni Macierewicz Kiews Absicht bezeichnet, die Beziehungen zu Berlin weiter auszubauen. Nach Meinung Macierewiczs werde die Ukraine ohne die Unterstützung Polens ihre Unabhängigkeit verlieren.
Indessen erlaubte sich die Zeitung Myśl Polska eine sehr transparente Metapher dazu, wie Polen seine Hilfe an die Ukraine sieht. Die Publikation verglich Polen mit einem Restaurantbesucher, der die Rechnung der Gäste an einem Nachbartisch zahlt, wobei allerdings die Speisen gestohlen würden und sich der Gast, für den sie bestellt waren, als "undankbar und frech" erweise.
All das scheint zu bestätigen, wie sehr sich die Beziehungen zwischen dem Kiewer Regime und der polnischen Führung in letzter Zeit verschlechtert haben. Paradoxerweise deutete nur sechs Monate zuvor nichts darauf hin. Weder das offizielle Warschau noch die polnischen Bürger empfanden irgendwelche Abneigung gegenüber der Ukraine, sondern unterstützten sie mit allen Mitteln.
So analysierte die polnische Zeitung Gazeta Wyborcza im Dezember vergangenen Jahres das Verhältnis der polnischen Gesellschaft zum Problem der Ukraine im Allgemeinen und zu den ukrainischen Flüchtlingen im Besonderen. Im Artikel hieß es, dass in den ersten Monaten der russischen Militäroperation die Gesellschaft einen großen Enthusiasmus bei der Hilfe an ukrainische Flüchtlinge zeigte. "Allein in den ersten drei Monaten nach Beginn des Kriegs beteiligten sich 70 Prozent der Polen an der Hilfe für die Flüchtlinge. Der Umfang der Privatausgaben zu diesem Zweck konnte im genannten Zeitraum bis zu 10 Milliarden Złoty (etwa 2,2 Milliarden Euro) betragen", berichtete die Gazeta Wyborcza.
Wie der Publizist Sławomir Sierakowski damals schrieb, "würde ein Soziologe vor Freude springen, wenn er wüsste, dass Polen trotz eines solch zerstörerischen Konflikts, der das Land spaltet, ein solches soziales Potenzial hat. Auf lokaler Ebene können die Menschen miteinander sprechen, sich organisieren und die Sache zu Ende bringen."
Doch bereits zum Sommer ebbte der Enthusiasmus ab – im Juli 2022 befanden nach Schätzungen der Organisation Free Press for Eastern Europe 43 Prozent der Befragten, dass die Flüchtlinge zu viele Geldhilfen erhalten.
Der bereits erwähnte Sławomir Sierakowski veröffentlichte im Herbst die Ergebnisse einer soziologischen Studie unter dem aussagekräftigen Titel "Polen sind für die Ukraine, aber gegen die Ukrainer". Das Fazit der Studie lautete: "Das dringendste Bedürfnis in der Öffentlichkeit ist heute die Neutralisierung des Unmuts über die Flüchtlinge, der mittlerweile riesige Ausmaße angenommen hat, bevor es zu einer unkontrollierbaren Explosion kommt."
Bei seiner Analyse der Gründe für die rapide zunehmende Abneigung gegen die Ukrainer in der polnischen Gesellschaft fügte der Soziologe Przemysław Sadura hinzu: "Natürlich hängt es mit dem fehlenden Glauben an den Staat zusammen, dass das System der Sozialleistungen es nicht schaffen könnte. Wie dem auch sei, nimmt die Abneigung gegen die Ukrainer zu. Es war für uns erstaunlich, dass Menschen aus allen Fokusgruppen darüber sprachen. Die Mittelklasse aus der Hauptstadt stand in dieser Hinsicht den Volksmassen aus der Provinz in nichts nach."
Somit schrieben die scharfsinnigsten polnischen Journalisten und Soziologen noch vor einem Jahr, im Herbst 2022, von einer unvermeidlichen "Explosion". Ein Jahr danach wurden die damals in der Gesellschaft beobachteten Stimmungen zu einem Trend. Laut einer Bemerkung des Kommentators Arkadiusz Miksa fühlen sich die Ukrainer in Polen "sicherer als im eigenen Land in den letzten 30 Jahren. Die Ukrainer wissen besser, was gut für uns ist. Es ist empörend, dass sie uns erzählen, wofür wir unsere Steuern ausgeben sollen." Eine solche Einstellung wird von einem Großteil der polnischen Medien geteilt.
Auch die Politiker machen sich den anti-ukrainischen Trend zunutze. Der Leiter der polnischen Bauernpartei Władysław Kosiniak-Kamysz bemerkte, dass die Menschen wütend darüber seien, dass "alles jegliche Grenzen der Vernunft übersteigt, sobald die Rede von der Ukraine ist. Es kann nicht eine Hilfe ohne jegliche Dankbarkeit sein, für die man nichts im Gegenzug erhält."
Vor diesem Hintergrund erscheint der inzwischen nicht nur gesellschaftliche, sondern auch staatliche Konflikt zwischen Polen und der Ukraine nicht mehr verwunderlich. Der September 2023 wurde zu einem Monat beispielloser Spannungen in den Beziehungen der beiden Länder – der größten Spannungen nicht nur seit dem Beginn der russischen Militäroperation, sondern auch seit dem Beginn der polnisch-ukrainischen Beziehungen als solchen. Ein anfangs scheinbar lokales Problem, das von den Landwirtschaftsministern der beiden Länder gelöst werden sollte, erreichte die höchste Ebene und stellte die gesamte polnisch-ukrainische Zusammenarbeit infrage.
Nach dem Beginn der Militäroperation stieg die Belastung der Transportkorridore, über die der Export der ukrainischen Landwirtschaftsprodukte nach Europa erfolgt, beträchtlich an. Dies führte zu einer Preissenkung des Getreides, das in Polen, Ungarn und der Slowakei produziert wurde. Bauernproteste in diesen Ländern führten dazu, dass die EU den Import des ukrainischen Getreides verbot. Seit dem 15. September wurde dieses Verbot von der EU-Kommission nicht verlängert, doch Polen verlängerte es auf lokaler Ebene. Zusätzliches Öl ins Feuer gossen Äußerungen von Vertretern der polnischen Elite, etwa über die riesige Staatsverschuldung der Ukraine, über die Notwendigkeit, Sozialleistungen für ukrainische Flüchtlinge zu kürzen und so weiter.
In der Ukraine rief der Konflikt mit Polen eine ganze Palette an Emotionen hervor. Hauptsächlich wurde den Nachbarn Verrat und Unterstützung Russlands vorgeworfen. Doch ebenso große Kräfte mobilisierte Kiew, um der Bevölkerung den angeblich vorübergehenden Charakter der Krise zu erklären. Es sei nichts mehr als Wahlkampfrhetorik – die regierende Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) kämpfe um ihren Machterhalt, und nach dem 15. Oktober werden all ihre an die Ukraine gerichteten taktischen Anschuldigungen zunehmend verschwinden. Der Wunsch, den Konflikt zu dämpfen, ist verständlich: Die Ukraine ist längst auf Polen angewiesen, und Kiew hat weder die Kräfte noch den Wunsch nach einer ernsthaften Konfrontation.
Tatsächlich erscheint der Erklärungsansatz über den Wahlkampf auf den ersten Blick glaubwürdig. Die rechtskonservative PiS kommt nach bisherigen Umfragen auf etwa 34 Prozent der Stimmen, etwa sechs Prozent mehr als Donald Tusks "Bürgerliche Plattform". Die Partei von Kaczyński, Morawiecki und Duda ist an den Stimmen der Bauern mehr als interessiert. Genau dadurch lässt sich Polens scharfer Ton gegenüber der Ukraine erklären – so zeigt die regierende Elite, dass sie die polnischen Interessen schützt und sich von niemandem dabei etwas vorschreiben lässt. Dies kommt sowohl bei einfachen Bürgern, die der ukrainischen Flüchtlinge überdrüssig sind, als auch bei Landwirtschaftsproduzenten gut an.
Doch es wäre naiv, zu vermuten, dass alles nur bis zum 15. Oktober dauern werde und dass sich danach Duda und Selenskij wieder brüderlich umarmen werden. Ein Sieg der PiS würde nicht bedeuten, dass sich die polnischen Bauern, die entschlossen sind, kein ukrainisches Getreide auf den europäischen Markt zu lassen, augenblicklich beruhigen werden. Sollten sie sich nach den Wahlen betrogen fühlen, wird die neu gewählte Regierung große Probleme haben.
Die Müdigkeit der polnischen Gesellschaft in Bezug auf die ukrainischen Flüchtlinge, die faktisch zu einer Art neuen Klasse wurden, ist tatsächlich riesig. Sogar die traditionelle Abneigung der Polen gegen Russland überwiegt sie im Moment nicht. Kaczyński, Morawiecki und Duda werden sich kaum mit dem eigenen Volk zerstreiten wollen – viel vorteilhafter ist für sie ein Konflikt mit der Ukraine.
Es gibt noch einen weiteren, psychologischen, Grund dafür, dass sich der Konflikt zwischen Polen und der Ukraine auch nach dem 15. Oktober fortsetzen wird.
In den vergangenen sechs Monaten verhandelten polnische und ukrainische Eliten über die Möglichkeit einer Union zwischen Warschau und Kiew, weswegen Polen und Ukrainer genug Gründe hatten, sich genauer zu beäugen. Im Zuge dieser gegenseitigen "Beobachtung" stellte sich heraus, dass Polen und die Ukraine sehr unterschiedlich sind, dass es zwischen ihnen sehr viele Widersprüche und alte Wunden gibt.
Die Geschichte der jüngsten polnisch-ukrainischen Beziehungen ähnelt der Geschichte eines jungen Mannes und eines Mädchens, die heiraten wollten und vor der Hochzeit zusammenzogen, um gemeinsam zu wohnen. Und an dieser Etappe zerschellte das Boot ihrer Liebe am Alltag. Im Fall von Warschau und Kiew sind es Getreide, Flüchtlinge und das historische Gedächtnis.
Nun streiten sich die ehemaligen "Geliebten" miteinander und versuchen, einander im schlimmstmöglichen Licht darzustellen und des Scheiterns des Zusammenlebens zu beschuldigen. Der polnische Pan behauptet herrisch, dass seine ehemalige potenzielle Unionspartnerin eine undankbare Trittbrettfahrerin sei, die ihm 23,5 Milliarden US-Dollar schulde. Die Ukraine schimpft im Gegenzug ebenfalls. Im Privatleben nehmen solche Streitereien normalerweise kein gutes Ende. Man kann vermuten, dass auch der polnisch-ukrainische Streit das freundschaftliche Nachbarleben der beiden Länder, geschweige denn ihre Integration, begraben wird.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.
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