Falsche Hoffnungen: Ein Beitritt der Ukraine würde diese EU zerreißen
Von Pierre Lévy
Dem ukrainischen Präsidenten, der am 10. Juli zum NATO-Gipfeltreffen nach Washington, D.C. eingeladen war, wurden dort neue Berge von Waffensystemen versprochen. Doch wie erwartet konnte er keine konkreten Zusagen für eine Mitgliedschaft im Transatlantischen Bündnis erhalten. Wird sich Wladimir Selenskij mit seinem "Weg" in die EU trösten können? Nichts ist weniger sicher.
Am 25. Juni wurden die "Verhandlungen" über den EU-Beitritt der Ukraine einerseits und der Republik Moldau andererseits offiziell eröffnet. Zwei "Regierungskonferenzen" markierten den formellen Beginn dieses Prozesses. In dem durch die Wahlen in Frankreich ausgelösten Getöse blieb dieses Ereignis etwas unbemerkt.
In Kiew hämmerte die stellvertretende Ministerpräsidentin daraufhin, dass dies "den ukrainischen Bürgern die Kraft geben wird, sich weiterhin gegen die russische Invasion zu wehren". Sie fügte ohne viel Bescheidenheit hinzu: "Der Hauptakteur, der Europa wieder groß gemacht hat, ist die Ukraine." Der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel begrüßte das Ereignis seinerseits als "einen Moment des Stolzes für beide Nationen und einen strategischen Schritt für die EU".
Der Antrag der Ukraine auf EU-Mitgliedschaft war durch den Präsidenten Selenskij am 28. Februar 2022 gestellt worden, also wenige Tage nach dem Einmarsch der russischen Truppen. Am 17. Juni 2022 hatte die Europäische Kommission den 27 Mitgliedstaaten empfohlen, Kiew den Status eines Beitrittskandidaten zu gewähren. Eine Woche später gaben die 27 Staats- und Regierungschefs der EU einstimmig grünes Licht.
Am 8. November 2023 empfahl die EU-Kommission dem Rat der Union die Aufnahme von Verhandlungen, denn sie sah – entgegen aller Evidenz – die 18 Monate zuvor aufgestellten Vorbedingungen (Rechtsstaatlichkeit, Korruption, Minderheitenrechte usw.) als weitgehend erfüllt an. Auf dem Gipfeltreffen am 14. Dezember 2023 wurde diese Entscheidung einstimmig angenommen. Nur der ungarische Premierminister stellte sich offen dagegen, verließ aber in einer offenbar vorher geplanten Choreographie während der Abstimmung den Saal und vermied so eine Blockade des Prozesses, für den Einstimmigkeit erforderlich ist.
Der ukrainische Präsident behauptete danach: "Dies ist ein Sieg für die Ukraine, ein Sieg für ganz Europa, ein Sieg, der motiviert, inspiriert und stärkt." Auch im Weißen Haus von Washington wurde "eine historische Entscheidung" begrüßt.
Die Führungen in Kiew und Chișinău (die moldawische Hauptstadt) überwanden damit in Rekordzeit jene anfänglichen Hürden, die einigen anderen Länder (vor allem auf dem Balkan) seit Jahren als unüberwindbar erscheinen müssen.
Der formelle Beginn der Gespräche stellt tatsächlich einen Wendepunkt dar: Bis dahin waren die vorhergehenden, aufeinanderfolgenden Entscheidungen hauptsächlich politischer Natur, um die uneingeschränkte Unterstützung der "angegriffenen Ukraine" zu demonstrieren. Nun wandelt sich der Prozess vom (politischen) Sonnenschein ins (technische) Zwielicht: Es geht ans Eingemachte. Die wirklichen Probleme beginnen. Alles deutet darauf hin, dass der Prozess nie zu einem Ende kommen wird, da er unlösbare Widersprüche sichtbar macht.
Zunächst muss klargestellt werden, dass der Begriff "Verhandlungen" eigentlich unzutreffend ist: Die EU-Administration in Brüssel "verhandelt" nicht mit einem Kandidaten, sondern hat sicherzustellen, dass alle Rechtsvorschriften des Kandidaten vollständig mit dem "gemeinschaftlichen Besitzstand" in Einklang gebracht werden. Genauer gesagt: EU-Juristen scannen das gesamte Rechtwesen und alle Normen des betreffenden Staates, der dem Club beitreten will. Das kann ein oder zwei Jahre dauern. Dann werden Tausende von erforderlichen Anpassungen an die EU-Standards ermittelt, die in 35 Kapitel unterteilt sind (vom freien Warenverkehr, freien Kapitalverkehr, von der Wettbewerbspolitik, Energiepolitik, den Steuern, der Justiz, der Freiheit und Sicherheit bis hin zur Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik und den entsprechenden Institutionen).
Jedes Kapitel muss mit Einstimmigkeit der 27 Mitgliedsländer eröffnet, dann geschlossen werden. Das ergibt also siebzig Mal die Möglichkeit für ein Veto eines Mitgliedstaates. Ein Jahrzehnt kann also durchaus notwendig sein. Vorausgesetzt, es gibt keine politische Blockade. Beispielsweise wurden die Gespräche mit der Türkei 2005 aufgenommen und sind heute de facto abgebrochen.
Im Fall der Ukraine sind die Schwierigkeiten noch komplexer. Zunächst natürlich, weil es sich um ein Land handelt, in dem Krieg herrscht. Die Aussicht auf einen Beitritt Kiews setzt einen militärischen Sieg voraus – und dieser zeichnet sich auf dem Schlachtfeld nicht ab.
Zweitens und vor allem aber, weil die Führer in der EU mit zwei widersprüchlichen Zielen konfrontiert sind. Dies unterstreicht eine detaillierte Studie von zwei Forschern, die aus einem von Brüssel finanzierten Thinktank hervorgegangen sind: Hans Kribbe und Luuk van Middelaar vertreten in dieser im Oktober letzten Jahres veröffentlichten Studie die Ansicht, dass die EU "vor dem Dilemma steht, ein Ziel zu erreichen, das gleichzeitig notwendig und unmöglich ist".
"Notwendig"? In den Köpfen der EU-Granden hat der Krieg in der Ukraine den Wunsch beschleunigt, die Staaten, die sie als Teil ihres Einflussbereichs betrachten, enger an sich zu "binden". So erklärte die EU-Kommissionspräsidentin: "Die Erweiterung ist die Antwort auf den Ruf der Geschichte, sie ist der natürliche Horizont unserer EU." (Ist es nicht genau das, wodurch ein Imperium definiert wird: Ständig den Horizont der eigenen Grenzen erweitern zu wollen?)
Die Ambitionen der Erweiterung sind geopolitischer Natur. Frau von der Leyen macht daraus kaum einen Hehl: Die Erweiterung ist eine "Investition in unsere Sicherheit" und eine Möglichkeit, "unsere Nachbarschaft zu stabilisieren". Das wird in der Studie der beiden Forscher auch ungeschminkt klarstellt: "Andere Akteure wie Russland oder China aus dieser potenziell instabilen Region fernzuhalten, ist zu einer absoluten Priorität geworden."
Doch nachdem die "Notwendigkeit" erklärt wurde, befasst sich die Studie mit den explosiven Widersprüchen, die der Prozess unweigerlich mit sich bringen wird. Sie unterteilt diese "unglaublich schwierigen Herausforderungen in den kommenden Jahren" in mehrere Bereiche.
Zunächst einmal geht es um die innerstaatlichen Fragen der "Entscheidungsfindung und Institutionen". Damit taucht die Frage der "Regierbarkeit" auf, die bereits bei 27 Mitgliedern komplex ist und irgendwann – bei 35 oder mehr Mitgliedern – nahezu unmöglich werden würde. Deshalb müsse die EU reformiert werden, insbesondere müsse sie die Einstimmigkeitsregel in den letzten Bereichen abschaffen, in denen sie derzeit noch gilt, wie etwa bei Steuern und der Außenpolitik. In Berlin setzt man sich stark dafür ein, aber viele kleinere Länder sind dagegen. Das Problem dabei ist dasselbe: Um die Verträge zu reformieren (wie auch um ein neues Mitglied aufzunehmen), braucht man ebenfalls: Einstimmigkeit.
Der zweite Bereich betrifft den EU-Haushalt. Entweder wird dieser sehr stark vergrößert, indem die Beiträge der derzeitigen Mitglieder angehoben werden – was ein völlig unrealistischer Weg zu sein scheint. Oder derselbe Kuchen wird in noch mehr und damit noch kleinere Stücke aufgeteilt. Da die Beitrittsländer im Großen und Ganzen ein Pro-Kopf-BIP von weniger als der Hälfte des EU-Durchschnitts haben, würden die derzeitigen Nettoempfänger (diejenigen, die von Brüssel mehr als den von ihnen selbst gezahlten Beitrag erhalten, also sehr oft die osteuropäischen Länder), zu Nettozahlern werden. Dies gilt sowohl für regionale Zuschüsse (etwa ein Drittel des Budgets der Gemeinschaft) als auch für die Landwirtschaft (ein weiteres Drittel).
Die Autoren der genannten Studie schätzen, dass "die Ukraine allein über mehr als 40 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche verfügt – mehr als das ganze Territorium Italiens – und zu einem der größten Empfänger von GAP-Geldern werden würde", dies natürlich auf Kosten der derzeitigen EU-Mitglieder, was explosive Konfrontationen verspricht. All dies würde nötig werden, ohne bis hierher überhaupt Hunderte von Milliarden zu berücksichtigen, die laut Kiew der Wiederaufbau der Ukraine erfordern wird.
Im dritten Bereich mit dem Titel "Binnenmarkt, Freizügigkeit und Beschäftigung" stellen die Experten fest, dass "auf einigen Märkten, wie dem Agrarmarkt, der Zustrom von billigeren Waren, Kulturen und Produkten auch die lokale Wirtschaft treffen und zur Schließung von Unternehmen und landwirtschaftlichen Betrieben führen könnte". Bereits jetzt, so erinnern die Autoren, "hat die Entscheidung, den Binnenmarkt für ukrainisches Getreide zu öffnen, zu heftigen Spannungen mit Polen und anderen osteuropäischen Ländern geführt".
Und das ist noch nicht alles: Die Unterschiede bei den Arbeitspreisen "könnten kurzfristig auch das Lohnniveau in der Union senken, eine zersetzende Wirkung auf die Arbeitsbedingungen haben und gesellschaftliche und politische Unzufriedenheit schüren".
Die Autoren weisen darauf hin, dass die explosionsartige Zunahme der innereuropäischen Einwanderung in das damalige EU-Mitglied Großbritannien zum Ergebnis des Brexit-Referendums 2016 beigetragen hatte. Sie hätten auch Tausende von Industrieverlagerungen in die Beitrittsländer und Hunderttausende im Westen verloren gegangener Arbeitsplätze erwähnen können.
Der letzte Bereich umfasst schließlich die "äußere Sicherheit". Die Autoren stellen fest, dass sich "der territoriale Schwerpunkt der Union weiter nach Osten, vom Atlantik zum Schwarzen Meer, verlagern wird", und weisen auf die Wahrscheinlichkeit hin, dass "die Abhängigkeit von den USA in Sicherheitsfragen zunehmen wird".
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die EU-Führung aufgrund ihrer geopolitischen Ambitionen, insbesondere mit Blick auf Russland, ihrem Drang nach Osten nicht widerstehen kann. Ein solcher Schritt würde aber zu fatalen Spannungen innerhalb der 27 EU-Staaten führen.
Eine weitere, nicht zu unterschätzende Herausforderung wartet auf sie: "Wege zu finden, um ihre eigenen Wähler zu gewinnen." Die Autoren erinnern daran, dass das einstige doppelte Nein von Franzosen und Niederländern zum Entwurf des EU-Verfassungsvertrags im Jahre 2005 damals just auf die EU-Erweiterung von 2004 folgte.
Die Autoren verweisen in diesem Zusammenhang auf "die potenzielle Reaktion der Bevölkerung nicht nur gegen den einen oder anderen Beitritt, sondern auch gegen die Union selbst".
Die Studie erschien übrigens mehrere Monate vor den Europawahlen und den Parlamentswahlen in Frankreich. Sie besitzt heute einen vorausschauenden Wert. Auch wenn die Motive der französischen Wähler des Rassemblement National vielfältig sind, war die Ablehnung einer "geopolitischen" (nämlich kriegerischen) EU, die sich auf Kosten nationaler und sozialer Interessen ausdehnen würde, oft ein Faktor für ihre Wahlentscheidung.
Und das gilt auch für die Erfolge der als "populistisch" oder rechtsextrem eingestuften Kräfte in mehreren anderen Ländern, darunter für die AfD in Deutschland. Auch wenn diese Parteien die radikale Grundkritik an der Europäischen Union aufgegeben haben sollten (oder sie niemals formulieren wollten), denken viele ihrer Wähler radikaler.
Unter diesen Umständen ist und bleibt die endgültige Ratifizierung für Kiew durch die Mitgliedsstaaten unerreichbar, auch wenn die Ukraine innerhalb vieler Jahre alle Etappen der Verhandlungen in Brüssel durchlaufen würde.
Vorausgesetzt, die EU selbst ist vorher nicht implodiert.
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