Gesellschaft

Die Gefahr des Nahrungsmittelmangels ist jetzt global

Heute ist Hunger keine Frage echten Mangels, sondern schlichte Folge von Armut. Aber das kann sich wieder ändern, wenn der Klimawandel fortschreitet. Dann braucht es andere Maßnahmen.
Die Gefahr des Nahrungsmittelmangels ist jetzt globalQuelle: Sputnik © Ilya Naymushin

von Ewgeni Tugolukow

Die Nahrungsmittelknappheit, die auf das Ende der Sowjetunion folgte, liegt Jahrzehnte zurück und die Russen sind es heute gewohnt, aus vollen Regalen mit einer zuvor unvorstellbaren Auswahl an Produkten einzukaufen. Viele davon wurden im Land selbst hergestellt.

Steigende Preise und zunehmend unsichere Lieferketten sind allerdings eine Gefahr für die Menschen in Russland und auf der ganzen Welt. Vor kurzem warnte Svein Tore Holsether, Vorstandsvorsitzender eines der weltweit größten Düngemittelherstellers, Yara International, in einem Interview, dass die steigenden Gaspreise zu einer weltweiten Nahrungskrise führen könnten. Die Produktion von Kunstdüngern, die die Bauern nutzen, um den Ertrag ihrer Feldfrüchte zu steigern, benötigt große Mengen von Kohlenwasserstoffen als Rohstoff. Knappheiten in diesem Bereich könnten zu geringeren Ernten führen und die entstandenen Kosten an die Verbraucher weitergegeben werden.

"Es betrifft Nahrungspreise auf der ganzen Welt, und es trifft die Geldbeutel vieler Menschen", warnte Holsether. "Aber für manche Menschen, insbesondere in den Entwicklungsländern, ist das nicht nur eine Frage des Geldbeutels, sondern eine Frage von Leben und Tod."

Das ist nicht die erste alarmierende Vorhersage über die Lage auf dem weltweiten Nahrungsmarkt. Letztes Jahr, inmitten des globalen Lockdowns wegen der COVID-19-Pandemie, warnte der Leiter des UN-Welternährungsprogramms, David Beasley, dass Hungersnöte "von biblischem Ausmaß" drohen könnten, und empfahl dem Sicherheitsrat, "schnell zu handeln".

Aber wie wahrscheinlich sind solche apokalyptischen Szenarien?

Der zweite Punkt in der Erklärung über die 17 Ziele der UN zur nachhaltigen Entwicklung (SDG) – dem weltweiten Plan, bis 2030 die extreme Armut zu beenden, Ungleichheit zu verringern und den Planeten zu schützen – fordert, die Politiker müssten handeln, um "den Hunger zu beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung zu erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft zu fördern".

Hunger ist bereits ein großes weltweites Problem, das durch die Pandemie noch massiv verschärft wurde. Wenn die UN im Jahr 2014, noch ehe die Nachhaltigkeitsziele angenommen wurden, die Zahl der unterernährten Menschen weltweit auf 607 Millionen schätzte, sind es jetzt bereits über 800 Millionen. 2,37 Milliarden Menschen können nicht regelmäßig gesunde, ausgewogene Nahrung zu sich nehmen, und 22 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind durch Ernährungsprobleme unterentwickelt.

Wenn die Sache so ernst ist, könnte man fragen, warum steht dann dieses Problem nur auf dem zweiten statt auf dem ersten Platz der SDG-Liste? Die Antwort ist offensichtlich: Hunger entsteht nicht durch ein Ungleichgewicht zwischen der Menge landwirtschaftlicher Produkte und der Weltbevölkerung; er ist sozialer Natur. Menschen bleiben nicht deshalb hungrig, weil die Regale in den Läden leer sind, sondern weil sie kein Geld haben, um Nahrung zu kaufen.

Im Gegensatz zur fehlerhaften öffentlichen Wahrnehmung betrifft dieses Problem nicht nur die ärmsten Länder oder Regionen, die keine Nahrung produzieren und völlig von landwirtschaftlichen Importen abhängig sind. Zu Beginn der COVID-19-Pandemie im März letzten Jahres schrieb der Bürgermeister von London, Sadiq Khan, einen verzweifelten Aufruf in den Medien und warnte, dass "über 400.000 Kinder und 1,5 Millionen Erwachsene vor der Krise in London in Nahrungsunsicherheit lebten, und viele verlassen sich täglich auf die Tafeln". Laut UNICEF leiden in der Ukraine, einem der größten landwirtschaftlichen Exporteure der Welt, 9,8 Millionen Menschen – beinahe ein Viertel der Bevölkerung – an Mangelernährung.

Die UN hat völlig recht: Hunger ist eine Folge von Armut, und diese zu überwinden ist der allererste Punkt auf der SDG-Liste. Er ist nur durch wirtschaftliche Entwicklung in den ärmsten Ländern und eine gerechtere Verteilung des globalen Reichtums, der in finanziellen Ressourcen gemessen wird, zu erreichen. Aus diesem Grund unterstütze ich das Konzept eines universellen Grundeinkommens, das vorsieht, dass jeder das Recht auf ein gewisses Einkommensniveau hat, unabhängig davon, was er tut und wie er gegenwärtig arbeitet. Wir müssen nur sicherstellen, dass dieser Mechanismus wirklich universal ist und für alle Menschen gilt, nicht nur für die Bürger einiger Staaten.

Zusammen malen Beasley und Holsetzer ein Sorgen erregendes Bild unseres Fortschritts. Die Rezession der Pandemie könnte, zusammen mit den Krisen bei Energie und Logistik, die Welt in einen "perfekten Sturm" führen. Zusätzlich würden die katastrophalen Folgen des Klimawandels den Ackerbau in trockenen Gegenden unmöglich machen. In diesem Fall würden wir uns einer erschreckenden Situation gegenüber sehen, in der die Nahrung für all die 7,5 Milliarden Menschen, die den Planeten bewohnen, nicht mehr ausreicht – egal, wie viel Geld sie in ihren Geldbeuteln haben.

Daher muss die landwirtschaftliche Produktion auf jede mögliche Weise gesteigert werden, insbesondere in "Kornkammerländern" wie Russland, das eine beeindruckende Anzahl von Menschen auf der ganzen Welt ernähren könnte. Zuerst ist das eine Art Versicherung gegen den Zusammenbruch des agro-industriellen Komplexes in Regionen mit ungünstigem Anbauklima. Zweitens würde es das Angebot auf dem Weltmarkt erhöhen und Nahrung bezahlbarer machen.

Eine Steigerung der Produktion von Korn, Fleisch, Gemüse, Früchten etc. sollte aber nicht von Entwaldung oder anderen Prozessen begleitet werden, die für die Umwelt zerstörerisch sind und die Kohlenstoffbilanz verschlechtern, denn in diesem Fall wird die Natur diesen tödlichen Boomerang zurückwerfen. Die SDGs müssen auf eine umfassende Weise gelöst werden, sodass Erfolg in die eine Richtung nicht Misserfolg in einer anderen auslöst.

Das Schlüsselwort in diesem Satz lautet "gelöst". Das Ergebnis der Klimakonferenz COP26 hat eine Welle von Skeptizismus und Enttäuschung ausgelöst. UN-Generalsekretär Antonio Guterres selbst hat diese Gefühle ausgedrückt, wenn auch in milder Form, mit der Aussage, die Übereinkünfte wären nur ein unzureichender Kompromiss. Der britische Minister Alok Sharma, der die Konferenz leitete, formulierte es viel schärfer und entschuldigte sich bei den Delegierten für die Kompromisse, die Guterres erwähnt hatte.

Der "Ausstoß" in Gestalt von Zusicherungen der Staaten erwies sich als weit bescheidener als der tatsächliche Kohlenstoffausstoß der Hunderten Flugzeugen, die Tausende Teilnehmer nach Glasgow brachten. Waren die übertriebenen Erwartungen jedoch gerechtfertigt? Ich denke nicht. Sie beruhen auf der Illusion, dass die Staatschefs der Welt zusammenkommen können, irgend einen Beschluss unterschreiben, und die gesamte Weltwirtschaft sofort Kohlenstoffneutral wird.

Wir leben aber nicht in Hogwarts, wo Zaubersprüche Probleme lösen. Nachdem ich selbst Vorsitzender des Ausschusses für Ökologie und natürliche Ressourcen im russischen Parlament gewesen bin, weiß ich aus eigener Erfahrung, wie schwierig dieses Handlungsfeld ist. Selbst wenn alle Länder ohne Ausnahme die entsprechenden Gesetze verabschieden würden, gäbe es noch ein großes Problem mit ihrer Umsetzung. Die Wirtschaft muss die täglichen Bedürfnisse der Menschen erfüllen. Und die Wirklichkeit liegt weit hinter den Plänen für eine "grüne Transition."

Die globale Energiekrise illustriert das. Einer der Faktoren dahinter, neben Chinas schneller Erholung nach der Pandemie, war der Mangel an Kapazitäten in erneuerbarer Energie. Das führte bereits zum Wiederanfeuern der umweltschädlichsten Kohlekraftwerke in Europa und Asien.

Russland steht an der Spitze beim Umbau seiner gesamten wirtschaftlichen Infrastruktur auf ein "grünes Gleis" durch die Entwicklung umweltfreundlicher Kernenergie einschließlich einzigartiger Technologien mit geschlossenen Kreisläufen und der Entwicklung von Projekten für den Übergang zu Wasserstoff als Treibstoff. Mehr noch, unser Land ist nicht nur Produzent von Treibhausgasen, sondern zugleich die größte "Kohlenstoffsenke" des Planeten, da es die größten Waldreserven der Welt besitzt, die die Emissionen aufnehmen können.

Das ist das Ergebnis einer systematischen Politik der russischen Regierung, gleichzeitig wirtschaftliche Notwendigkeiten zu erfüllen und gegen den Klimawandel vorzugehen. Auf regionaler Ebene geschieht das gleiche, der Bürgermeister von Moskau, Sergei Sobjanin, leistet dabei beispielsweise eine enorme Arbeit. Wir haben gesehen, wie der öffentliche Nahverkehr sich schnell auf elektrische Antriebe umstellte, wie qualmende Dieselbusse durch elektrische Versionen ersetzt werden, die von talentierten russischen Ingenieuren gebaut wurden – und die russische Hauptstadt wurde die weltweit führende Metropole bei der Fläche der Stadtparks.

Eine Müllkippe von der Größe des Mount Everest kann nicht einfach durch regulatorische Vorgaben auf der Makroebene in einen Garten Eden verwandelt werden. Veränderungen sollten alle Akteure mit einbeziehen – von internationalen Megakonzernen bis zu kleinen Cateringdiensten. Die Atmosphäre des Planeten wird nur dann sauberer, wenn jeder in jeder Rolle innerhalb eines neuen "grünen" Paradigmas handelt. Dieses nennt sich ESG (ökologische, soziale und kapitalgesellschaftliche Governance) – ein Managementkonzept, das auf der Einbeziehung von Unternehmen bei der Lösung von Umwelt- und Sozialproblemen beruht.

2012 begann ich ein Landwirtschaftsprojekt im Gebiet Rostow in Südrussland, und unser Team hat jetzt Neuerungen eingeführt, die vor zehn Jahren wie Science Fiction wirkten. Ein Autopilot-System der Erntemaschine verkürzt die Arbeitszeit der Maschinerie und damit den Treibstoffverbrauch. Künstliche Intelligenz regelt die Arbeit in der Milchproduktion und hat es möglich gemacht, nicht nur die finanziellen, sondern auch die ökologischen Kosten zu verringern. Ackerbau ohne Pflügen, bei dem in Böden ausgesät wird, die zuvor keiner mechanischen Bearbeitung unterzogen wurden, und die neuesten pharmazeutischen Innovationen mit einem Bio-Simulator sorgen für umweltfreundliche Alternativen zur Steigerung der Ernte.

Aber welchen Anreiz haben Unternehmen, grün zu werden? Nun, der erfolgreiche Start meiner Firma an der Börse von Singapur im letzten Jahr trug hoffentlich ein Stück weit dazu bei zu zeigen, dass Investitionen, die mit der Umwelt verantwortungsvoll umgehen, auch profitabel sein können.

Meine Hoffnung ist, dass diese mühsame Arbeit in anderen Bereichen wie etwa dem Gesundheitswesen reproduziert werden kann, und nicht nur mir Vorteile verschafft, sondern auch der Generation meiner Kinder. Schließlich bedeutet die Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung für sie eine gute Lebensqualität. Scheitern wir, wird es zu einer Frage ihres physischen Überlebens.

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Übersetzt aus dem Englischen.

Ewgeni Tugolukow war Abgeordneter der russischen Staatsduma und Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Ökologie, natürliche Ressourcen und Umweltschutz. Jetzt ist er Investor; er hat die medizinische Holding Medskan und die landwirtschaftliche Holding Don Agro LLC gegründet.

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