Deutschland 2021: Die bröckelnde Mittelschicht, eine Entwicklung mit Ansage
von Susan Bonath
Fleiß und Zielstrebigkeit seien der Weg zum Aufstieg. Jeder, der wolle, könne es schaffen. Das war ein Grundgedanke des Mythos von der "sozialen Marktwirtschaft". Dass dieser nicht hält, was er verspricht, ist seit einigen Jahrzehnten spürbar. Doch nun holt die kapitalistische Barbarei auch westliche Normalverdiener mit voller Wucht ein. Die Aufstiegschancen für junge Menschen schwinden, immer mehr rutschen ab. Das ist das Resümee der Bertelsmann Stiftung, die selbst am Fortgang der Verteilung der Mittel von unten nach oben mitgewirkt hat, zum Beispiel bei der Einführung von Hartz IV.
Mehr Arme, reichere Reiche
Das Risiko abzusteigen habe insbesondere in der unteren Mittelschicht zugenommen. Dazu zählen die Autoren Menschen, deren monatliches Budget knapp unter dem mittleren Einkommen liegt. Demnach rutschte zwischen 2014 und 2017 mehr als jeder fünfte 18- bis 64-Jährige aus einem besser bezahlten Job in prekäre Einkommensverhältnisse ab und war somit arm oder von Armut bedroht.
Die Autoren konstatierten auch: Wer weit über dem Durchschnitt verdiente, hatte derweil ein viel geringeres Risiko abzusteigen. Und: Immer schwerer wurde es zuletzt für junge Menschen, einen Fuß in die Tür des "Sorglos-Arbeitsmarktes" zu bekommen. Selbst Abitur und Studium schützten nicht mehr zuverlässig vor einem Leben in prekären Verhältnissen. Kurzum: Die Mittelschicht in Deutschland bröckelt.
Fast zynisch klingt es, wenn die Bertelsmann Stiftung als Lösung der Politik einen "Abbau der Barrieren" auf dem Arbeitsmarkt fordert. Niedriglohn, so resümieren die Autoren, sei eines der größten Hemmnisse, es jemals zu besseren Lebensbedingungen zu bringen. Die Größe des Niedriglohnsektors schwäche gar die Situation der Beschäftigten in den unteren Einkommensgruppen zusätzlich.
Dabei war die Bertelsmann Stiftung einst selbst ganz vorn bei dem politischen Umbau mit dabei, der diesen prekären Sektor boomen ließ: Die Agenda 2010 mit ihrem Umbau des Sozialsystems in ein repressives Zwangssystem zu Beginn des neuen Jahrtausends. Wer länger arbeitslos war, konnte fortan mittels existenzvernichtender Sanktionen in jede noch so schlecht bezahlte Arbeit genötigt werden. Das war eine Einladung für Ausbeuter zum schnelleren Reichtum.
Diktat der Monopole
Nun hat der politische Umbau seit Beginn der Corona-Krise im vergangenen Jahr die Lebensbedingungen für Milliarden Menschen weltweit und wohl ein paar Millionen in Deutschland weiter verschlechtert. Wenngleich eine Viruspandemie für die meisten wohl nicht absehbar war: Diese Entwicklung hätte es sein können.
So tendiert die profitgetriebene Wirtschaft aus ihrer eigenen "Logik" heraus dazu, dass immer größere und mächtigere multinationale Monopole entstehen. Das ist seit langem zu beobachten: Rüstungsschmieden verschmolzen zu Superunternehmen; Agrarkonzerne verleibten sich viele Millionen Hektar Land ein und zwangen Kleinbauern im ungleichen Preiskampf zur Aufgabe; der Chemie- und Pharmakonzern Bayer schluckte sogar den Saatgut- und Herbizid-Giganten Monsanto und so weiter.
Die Bildung von Kartellen, Trusts, schließlich Oligopolen und Monopolen ist kein unbekanntes "Phänomen". Halbherzig steuerten die Staaten über viele Jahrzehnte mit Verboten und Behörden dagegen. Das Resultat war stets mager, die Entwicklung nahm ihren Lauf und die Aufstiegsgeschichte vom Tellerwäscher zum millionenschweren Jungunternehmer schrumpft in der Realität mehr und mehr zu einer bloßen Fiktion zusammen. Je größer und wirtschaftlich stärker die Monopole werden, desto mehr fräsen sie Mittelstand und politische Apparate unter ihr Diktat.
Kapitalismus im Krisenmodus
Dass in einer solchen Wirtschaftsordnung mit zunehmender Kapitalkonzentration Mittelstand und Mittelschicht auf der Strecke bleiben, war abzusehen. Doch auch der technologische Fortschritt spielt dabei eine Rolle. Der sorgt zuerst einmal dafür, dass immer mehr einst halbwegs gut bezahlte Lohnarbeitsplätze, vor allem in der Produktion, verloren gehen. Das heißt: Computer und Maschinen ersetzen Menschen.
Nun hat der Staat recht lange für ruhiges Fahrwasser gesorgt. Besser Ausgebildete kamen in einem wachsenden bürokratischen Apparat unter. Dazu gehören inzwischen nicht mehr nur Behörden und Ministerien, sondern in gewisser Weise auch Nichtregierungsorganisationen (NGO), Gewerkschaften, Forschungsanstalten und diverse Verbände, die auf Fördermittel angewiesen sind. Mit ihnen hat sich nicht zuletzt die Mittelklasse selbst einen Pool mit unzähligen Jobs geschaffen. Doch der Kampf um diese wird härter. Wer da hinein will, braucht Kontakte und muss sich anpassen.
Zudem der technologische Fortschritt einer immer schnelleren und effizienteren Produktion von Waren aller Art mit immer weniger Arbeitskräften. Dies vermehrt nicht nur Arbeitslosigkeit und Armut. Die profitorientierte Wirtschaft stößt auch an natürliche Grenzen. Zum einen: Wo die Kaufkraft schwindet, werden in Massen produzierte Waren zu Ladenhütern. Und: Ein endlos wachsender Verbrauch an Rohstoffen scheitert an der Endlichkeit der Ressourcen. Kurzum: Die Unternehmen bleiben auf ihren Waren sitzen und müssen dennoch immer effizienter und schneller produzieren. Beides macht den Lebensraum der Menschen zu einer ausgeplünderten Müllhalde.
Die Mechanismen der Profitlogik lassen das System in immer neue, globale Kapitalverwertungskrisen schlittern. Leidtragend sind alle, die nicht ganz oben mitfrühstücken: In den Vorständen der größten Aktiengesellschaften, in den Chefetagen der Hightech-, Finanz- und Biotech-Konzerne und – noch – in den bezahlten politischen Ämtern, wo den Interessen der stärksten Kapitalfraktionen Genüge getan wird.
Autoritäre Entwicklung
In einer solchen Wirtschaftsordnung, wo einflussreiche Monopole nach der Macht greifen, ist kein Platz für Kleinunternehmer, mittelständische Betriebe und "querulatorische" Beamte, Professoren und Anwälte. Die Arbeitsplätze werden rarer, der Kampf um sie rauer. Und nicht zuletzt sinken die Profite, was Großkonzerne dazu treibt, die Märkte nur aggressiver abzugrasen, egal, wie viele Menschen dabei auf der Strecke bleiben.
Der Niedergang der Mittelschicht, den die Bertelsmann-Autoren in ihrer Studie beklagen, als handele es sich um eine verwunderliche Entwicklung, liegt im Wirtschaftssystem begründet. Corona hat dies nur beschleunigt – durchaus im Interesse der mächtigen multinationalen Großunternehmen. Zugleich zeichnet sich eine gefährliche autoritäre Entwicklung ab – hin zu mehr Unterdrückung und Rundumüberwachung.
Durch bloße Makulatur an den Symptomen wird die Entwicklung nicht aufzuhalten sein. Es wäre an der Zeit, die Verfügungsgewalt über die Ressourcen und Produktionsmittel den wenigen, die sie besitzen, zu entziehen. Wenn die Wirtschaft allen dienen soll, gehört sie in die Hände der Allgemeinheit – und mit ihr alle gemeinnützigen Aufgaben, die die Politik dem Diktat des Marktes unterworfen hat.
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