"Würden Kern der deutschen Industrie stilllegen" – Bosch-Chef warnt vor Stopp russischer Gasimporte
Von vielen Seiten wird derzeit immenser Druck auf Berlin ausgeübt – aus moralischen Gründen müsse man sich ohne Wenn und Aber umgehend von russischen Energieimporten lossagen. Dies fordern nicht mehr nur ukrainische und US-Stimmen, sondern auch moralisch besorgte Bürger hierzulande mit Verweis auf die Vorfälle in Butscha, die Deutschland ansonsten mitverantworte, weil man sie indirekt mitfinanziere, auch wenn es bisher keine Untersuchung der Vorfälle gegeben hat.
Noch vor einigen Wochen warnte der Grünen-Politiker Robert Habeck in seiner Rolle als Wirtschaftsminister vor weitreichenden wirtschaftlichen Folgen und sozialem Unfrieden, würde man die Energieimporte aus Russland abrupt kappen. Inzwischen scheint die ständige wiederholte Frage, ob ein Embargo weiter ausgeschlossen sei, schwerer zu beantworten. Wie auch Finanzminister Christian Lindner und Kanzler Olaf Scholz schloss Habeck in dieser Woche ein sofortiges Gas-Embargo zwar weiter aus, klang aber defensiver: "Wir arbeiten ja an der Unabhängigkeit von russischem Öl und von Kohle und Gas."
Nach Darstellung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) könnte Deutschland schon im laufenden Jahr ohne russisches Erdgas auskommen. Der Trick: mehr Gas aus anderen Ländern und hohe Einsparungen. Das DIW rechnete verschiedene Szenarien durch, wie es ohne diese Lieferungen gehen könnte.
Danach könnte mehr Flüssiggas aus Norwegen und den Niederlanden sowie über Terminals der Nachbarländer bezogen werden. Zudem könnten schwimmende Terminals für Flüssigerdgas an der deutschen Küste genutzt werden. Deutschland könne über virtuellen Handel auch mit Terminals in Südeuropa verbunden werden. Feste Terminals seien für Deutschland jedoch nicht sinnvoll, hob das Institut hervor. Ihr Bau dauere zu lange, zudem sinke mittelfristig der Erdgasbedarf.
Das DIW hält große Einsparungen für notwendig, 18 bis 26 Prozent weniger Erdgasverbrauch seien möglich. Der Anteil russischer Lieferungen am Gas sank nach jüngsten Angaben der Bundesregierung inzwischen auf gut 40 Prozent – nach zuvor etwa 55 Prozent.
Auch die Bürger sollen laut DIW weiter aktiv mitwirken: Privathaushalte sollten etwa weniger stark heizen als gewohnt und weniger Warmwasser verbrauchen, die Industrie Wärme mit Strom, Kohle oder Biomasse erzeugen. Die Wirtschaftsforscher gehen davon aus, dass die Industrie ihren Erdgasverbrauch um bis zu ein Drittel senken kann. Dabei würde die Produktion allerdings vorübergehend deutlich sinken. Für stark betroffene Unternehmen und einkommensschwache Haushalte müsse es finanzielle Hilfen geben, hieß es.
"Wenn das deutsche Energiesystem schnell angepasst wird, könnte im Lauf des Jahres 2022 der Wegfall russischer Erdgasexporte kompensiert und die Energieversorgung im kommenden Winter gesichert werden", wie das Institut am Freitag mitteilte. Dafür sei es auch notwendig, die deutschen Erdgasspeicher wie geplant vor Beginn der Heizperiode zu 80 bis 90 Prozent aufzufüllen.
Wirtschaft benötigt Energiesicherheit
Vor einem deutschen Ausstieg aus den russischen Gaslieferungen warnte indes der neue Bosch-Chef Stefan Hartung im Interview mit dem Handelsblatt:
"Fakt ist: Wir brauchen Gas für die Produktion", so Hartung.
Bosch selbst decke 20 Prozent seines Energiebedarfs mit Gas, manche Lieferanten weitaus mehr. Insbesondere die Halbleiterproduktion benötige zwingend Energiesicherheit. "Wenn Deutschland einseitig auf russische Gaslieferungen verzichtet, brechen nicht nur bei Bosch hochrelevante Elemente der Lieferkette weg. Ich bin daher entschieden dafür, vorerst nicht auf Gaslieferungen zu verzichten", erklärt Hartung. Stimmen, die behaupten, ein Lieferstopp sei machbar, verwiesen dazu auf die Erfahrungen in der Pandemie, was jedoch nur eine überschaubare Periode betraf. Bliebe das Gas bei einem Lieferstopp aus, "könnten wir nicht wieder anfahren, mit allen Folgen", warnte Hartung. Damit fiele die industrielle Grundlage unseres Wirtschaftsstandorts weg, "und das nicht nur für ein paar Monate".
"Wir würden den Kern der deutschen Industrie stilllegen", so der promovierte Fertigungstechniker.
Das hieße laut Hartung Kurzarbeit für alle, solange der Staat das bezahlen kann, während bei Corona vor allem Handel und Gastronomie länger schließen mussten – dabei hatte die Pandemie bereits erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die soziale Ungleichheit. Das Szenario bei einem Stopp der Gasimporte wäre weitaus verheerender.
"Wer für einen Gaslieferstopp aus Russland plädiert, sollte all dies der Bevölkerung auch ehrlich sagen."
Bosch wolle sich nicht komplett aus Russland zurückziehen. Für die Versorgung der normalen Bevölkerung relevante Aktivitäten, die nicht von den Sanktionen betroffen sind, setzt Bosch fort. "Diese wollen wir nicht ohne Rechtsgrundlage einstellen", sagte Hartung. Statt hier dem Beispiel anderer Unternehmen zu folgen, die sich auch in Sorge um ihren Ruf komplett aus Russland zurückzogen, kommt Bosch laut Hartung seiner fürsorglichen Pflicht für alle Mitarbeiter nach, rund 360 in der Ukraine und 3.500 in Russland.
Eine Reihe anderer Stimmen aus der Wirtschaft warnte in den letzten Wochen vor ungeahnten Folgen eines Energieembargos. Vor allem in der gashungrigen Chemie- und Pharmabranche, aber auch in der Stahl-, Keramik- und Glasindustrie sind die Sorgen vor einem plötzlichen Ausbleiben russischer Energie groß. "Ein kurzfristiger und unbefristeter Lieferstopp hätte spätestens im Herbst massive negative Auswirkungen nicht nur auf die chemisch-pharmazeutische Industrie, sondern über ihre Funktion in den Wertschöpfungsketten auf das gesamte Produktionsnetzwerk des Industrielandes Deutschland", sagte jüngst Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie. Bei Gas gebe es keinen Ersatz.
Auch Ökonomen der Hans-Böckler-Stiftung rechnen bei einem Lieferstopp mit einem größeren Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Leistung als im Corona-Krisenjahr 2020. Im schlimmsten Szenario, in dem die Energiekosten infolge eines Embargos rasant steigen, ergebe sich für das Jahr 2022 ein "Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um mehr als sechs Prozent", hieß es in einer Sonderanalyse des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Stiftung. Laut dem Präsidenten des Bundesverbandes deutscher Banken, Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing, würde die deutsche Wirtschaft und wahrscheinlich auch die europäische Wirtschaft in eine Rezession verfallen, mit langfristigen Folgen.
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