Lauterbach legt Gesetzentwurf zur Triage vor – scharfe Kritik vom grünen Koalitionspartner
Das Bundesverfassungsgericht forderte im vergangenen Dezember den Deutschen Bundestag auf, "unverzüglich" Vorkehrungen zum "Schutz Behinderter im Fall einer pandemiebedingten Triage" zu treffen. Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen hatten eine dementsprechende Verfassungsbeschwerde eingereicht. SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat nun zu diesem kontrovers diskutierten Thema einen neuen Gesetzesentwurf vorgelegt. So soll laut Informationen des RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) aus dem Entwurf hinsichtlich einer Triage-Situation hervorgehen:
"Bei knappen Kapazitäten während einer Pandemie soll es künftig rechtlich auch möglich sein, die intensivmedizinische Behandlung eines Menschen zugunsten eines Patienten oder einer Patientin mit einer höheren Überlebenschance abzubrechen."
Diese Empfehlung einer "Ex-post-Triage" wird vom Koalitionspartner nun scharf kritisiert. Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Grünen, kommentierte:
"Mit diesem Gesetz kommt der Staat seiner besonderen Schutzpflicht nicht nach. Behinderte Menschen laufen nach wie vor Gefahr, aufgrund ihrer Behinderung von einer intensivmedizinischen Behandlung ausgeschlossen zu werden."
Die Ex-post-Triage ist dadurch gekennzeichnet, dass "bei einer nicht ausreichenden Anzahl intensivmedizinischer Beatmungsplätze ein Patient extubiert wird, um den freiwerdenden Platz einem anderen intensivpflichtigen Patienten zur Verfügung zu stellen".
Der überarbeitete Entwurf der Triage-Regelung sei "enttäuschend" und bleibe hinter dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zurück, so das RND in einem aktuellen Artikel. Grundsätzlich darf nach der von Lauterbach erarbeiteten "Formulierungshilfe" für die Koalitionsfraktionen bei der "Zuteilung von pandemiebedingt nicht ausreichenden überlebenswichtigen, intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten im Krankenhaus" niemand aus "Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität benachteiligt werden", heißt es beim RND.
Die Ex-post-Triage soll nach dem Gesetzesvorschlag allerdings künftig nur dann zulässig sein, wenn "drei intensivmedizinisch erfahrene Fachärzte oder Fachärztinnen die Entscheidung einvernehmlich treffen". Wörtlich heißt es dazu in dem Entwurf:
"Bei bereits zugeteilten pandemiebedingt nicht ausreichend vorhandenen überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten ist eine Zuteilungsentscheidung (...) von drei mehrjährigen intensivmedizinisch erfahrenen praktizierenden (...) Fachärzten mit der Zusatzausbildung Intensivmedizin einvernehmlich zu treffen, die den Patienten (...) unabhängig voneinander begutachtet haben."
Rüffer sprach von einem "traurigen Höhepunkt" in der Triage-Diskussion und präzisierte ihre Kritik an Lauterbachs Plänen:
"Das hieße, Schwerkranke müssten im Krankenhaus permanent mit der Angst leben, dass die medizinisch notwendigen lebenserhaltenden Maßnahmen zugunsten einer anderen Person beendet wird."
Laut Rüffer seien die beabsichtigten Pläne auch "juristisch hochumstritten", da die Ex-post-Triage "vermutlich als Totschlag zu werten wäre". Die Entscheidungsregelung eines "Sechs-Augen-Prinzips", auf das sich Minister Lauterbach und Justizminister Marco Buschmann (FDP) laut dem Entwurf geeinigt hätten, mache "einen solchen Tabubruch nicht besser", so die Behindertensprecherin der Grünen gegenüber dem RND. Eine weitere Kritik an das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) wie auch an das Bundesministerium für Justiz (BMJ) lautet, dass von Anfang an Betroffene, also Menschen mit Behinderungen und ihre Selbstvertretungen, an dem Prozess hätten beteiligt werden müssen. Dem war nicht so. Rüffer fordert daher:
"Es muss sichergestellt sein, dass das Parlament unter Beteiligung von Menschen mit Behinderung und Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Recht und Ethik eine Regelung erarbeitet und beschließt, die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerecht wird und Menschen mit Behinderung ausreichend Schutz bietet."
"Der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, Behinderte bei Triage-Entscheidungen besser zu schützen, wird durch die Übertragung der Entscheidung an drei Privatpersonen keinesfalls erfüllt", erklärte der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.
Der Hamburger Rechtsanwalt Oliver Tolmein, Prozessvertreter der neun Kläger vom Dezember 2021, zeigte sich laut dem Berliner Tagesspiegel "erschüttert" über die politische Umsetzung aus den Ministerien von Lauterbach und Justizminister Buschmann. Die nun bekannt gewordenen Pläne seien "eine Karikatur des Schutzes vor Benachteiligung, um den es in der Verfassungsbeschwerde ging". Zudem irritiere, dass der Entwurf demnach "auf recht eigenwillige Weise" regeln soll, dass bezugnehmend auf die bei den meisten Strafrechtlern verpönte "Ex-post-Triage"-Entscheidung künftig nur solche Juristen berufen werden, die "eine Minderheitenmeinung des Fachs vertreten und die Ex-Post-Triage für zulässig halten, heißt es im Artikel.
Die Autorin des Tagesspiegel konstatierte zu Beginn der Woche: "Weshalb sich der Gesundheitsminister, ein Professor der Medizin, einen juristisch umstrittenen Passus, der zudem mit dem ärztlichen Berufsethos bricht, in den eigenen Gesetzentwurf diktieren ließ, blieb gestern offen."
Am 10. Mai meldet dann der Tagesspiegel, dass Gesundheitsminister Lauterbach "den Abbruch einer intensivmedizinischen Behandlung zugunsten eines Patienten mit größerer Überlebenschance nun doch nicht erlauben will." Der eigene Gesetzesvorschlag soll nun korrigiert werden.
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