"Fata Morgana" Fachkräftemangel: Politiker ignorieren Arbeitssuchende ebenso wie Marktlogik
Am Freitag konnte man erfahren, dass Deutschland wohl bald noch mehr als bisher in das Anwerben ausländischer Arbeitskräfte investieren wird. Denn zwar gebe es vielerorts Interesse am Einwandern, doch wurden auch Barrieren identifiziert. So würden sich Interessenten mehr Unterstützung in der Frage wünschen, wie sie mit Firmen Kontakt aufnehmen können, zeigt eine Befragung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Auftrag des deutschen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.
Während die Kontaktaufnahme zu großen Unternehmen auch für Privatpersonen hierzulande – sowohl für Arbeitsinteressierte als auch für Verbraucher – schon schwierig ist, werden sich im Ausland sicherlich die bereits bestehenden öffentlich geförderten Institutionen, wie beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), bei denen es um Kontaktaufnahme zu und Anwerbung von Arbeitnehmern für Deutschland als attraktivem Wohn- und Arbeitsort geht, sicherlich noch intensiver mit der nun identifizierten Aufgabe befassen. Bereits im Jahr 2015 hatte die GIZ als GmbH mit der Bundesrepublik Deutschland als alleiniger Gesellschafterin beispielsweise im Kosovo ein Informationsbüro unterhalten, mit dem die Beratung zu Arbeits-, Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten in Deutschland angeboten wurde.
Aus der am Freitag veröffentlichten Befragung der OECD, für die für zwischen Anfang August und Mitte Oktober knapp 30.000 internationale Fachkräfte interviewt wurden, geht hervor, dass sich auch Fachkräfte aus Indien, Kolumbien und der Türkei für ein Leben in Deutschland interessieren. Die meisten von ihnen hatten über die Webseite "Make It In Germany" ihr Interesse am Einwandern zu Erwerbszwecken bekundet.
Den Angaben zufolge haben 74 Prozent der Befragten einen Hochschulabschluss. 15 Prozent sind IT-Fachkräfte. Neun Prozent sind weder Akademiker noch haben sie einen Berufsabschluss. 70 Prozent derjenigen, die angaben, sich für eine berufliche Zukunft in Deutschland zu interessieren, sind männlich. Knapp die Hälfte der potenziellen Arbeitsmigranten ist alleinstehend. Von den Übrigen äußerten rund 80 Prozent die Absicht, ihre Familie nach Deutschland mitzubringen.
Laut der Studie sind Inder mit 19 Prozent unter den Befragten mit Deutschland als Zielland die größte Gruppe. Jeder Zehnte ist aus Kolumbien. Neun Prozent der Interessierten sind Türken, fünf Prozent philippinische Staatsbürger. Drei von fünf Teilnehmern der Studie erklärten, für sie sei eine positive Einstellung gegenüber Migranten im Zielland sehr wichtig. Nur die Qualität des Gesundheits-, Sozial- und Bildungssystem wurden noch häufiger als entscheidende Faktoren genannt.
Das Bundeskabinett hat nun am Mittwoch einen Plan verabschiedet, mit dem mehr Arbeitskräfte nach Deutschland gelockt werden sollen. Flankiert werden soll die geplante Gesetzesänderung von Werbemaßnahmen im Ausland, um Deutschland als mögliches Zielland für Fachkräfte noch bekannter zu machen. Außerdem sollen Ausländer, die zwar noch keinen Arbeitsvertrag haben, aber bestimmte andere Kriterien erfüllen, leichter nach Deutschland kommen können, um hier einen Job zu finden. Auch soll ihnen bei Bedarf die Ausbildung in Deutschland erleichtert werden.
Dass allerdings der sogenannte Fachkräftemangel einerseits ein Mythos ist, mit dem Unternehmen einen bereits straffen, internationalisierten Wettbewerb unter verfügbaren Arbeitskräften zu verschärfen suchen, um so die Konditionen, also die Arbeitsbedingungen oder die Entlohnung noch weiter drücken zu können, findet aktuell wie auch früher schon in der Debatte ebenso wenig Erwähnung wie eine Reihe anderer Probleme.
Als Fata Morgana hat der Arbeitsmarktexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Karl Brenke, sogar den angeblichen Fachkräftemangel bezeichnet, welcher in erster Linie die Trägheit der Arbeitskräfte suchenden Unternehmen widerspiegele, wie er in einem Interview im Jahr 2013 gegenüber der Computerwoche sagte. Im Jahr 2017 wiederholte er in einem Artikel mit dem Titel "Der Fachkräftemangel ist ein Mythos" in der Wirtschaftswoche:
"Von einem flächendeckenden Fachkräftemangel kann ... keine Rede sein."
Dennoch bleibt diese These seit Jahren bestehen und wird immer wieder von Wirtschaftsinstituten ebenso wie von Personalvermittlern bekräftigt, teils mit schiefen Statistiken, teils als Botschaft an die Politiker und auch für die Personalvermittler zur Bekräftigung, dass deren Arbeit dringend benötigt werde. Angesprochen darauf, dass doch zahlreiche Bewerbungen eingehen würden, bemängeln Unternehmen nicht selten eine vermeintlich unzureichende Qualität der Bewerber, während in Ausschreibungen mit "Leistungen" der Firmen wie etwa Kaffeeautomaten und Obstschalen bis hin zu einer "freundlichen Atmosphäre" oder anderen Faktoren geworben wird, welche die spätere Rentenhöhe wohl kaum tangierenden und objektiv schwer nachvollziehbar sind.
Selbst hochqualifizierte MINT-Fachkräfte, also aus dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, haben schon festgestellt, dass sie unerwartet lange auf einem beruflichen Abstellgleis verweilen, weil Arbeitgeber absolut unrealistische Ideen gepaart mit massiven Diskrepanzen zwischen den verlangten Fähigkeiten von Bewerbern einerseits und den Arbeitsbedingungen andererseits hegen, vor allem bei der Höhe des angebotenen Gehalts. Ein arbeitssuchender berufserfahrener Ingenieur brachte es so auf den Punkt, wie man es auch aus zahlreichen anderen Branchen über Unternehmen hört und bei einem Blick in die Stellenausschreibungen quer durch alle Branchen und in verschiedenen Ländern feststellen kann:
"Sie suchen nach der Eier legenden Wollmilchsau."
Also nach Arbeitskräften, die sich wohl von den eigenen Eiern auch noch ernähren kann – denn gleichzeitig sollen Personalkosten unangemessen gering gehalten werden. So hat beispielsweise der zitierte Ingenieur wiederholt zu hören bekommen, er sei "überqualifiziert", was eher einer euphemistischen Umschreibung dafür gleichkommt, dass die Unternehmen das eigentlich angemessene Gehalt nicht zahlen wollen, und zwar nicht einmal annähernd. Zwar hätte der Ingenieur sich sogar von vormals 170.000 Euro Jahresgehalt auf 150.000 Euro herunterhandeln lassen. Doch es kam zu keinem Arbeitsverhältnis in seiner Branche, weil die interessierte Firma maximal 70.000 Euro Jahresgehalt zahlen wollten. Zwar sind dies Summen, von denen sehr viele Arbeitskräfte in anderen Branchen auch hierzulande nur träumen können, doch ist sie nicht angemessen angesichts dessen, was verlangt wird. Und an dieser Kluft zwischen den an Arbeitssuchende gestellten Anforderungen und den Leistungen, die die Unternehmen anbieten, scheitern zahlreiche potenzielle Einstellungen von sehr gut und kostenaufwendig in Deutschland ausgebildeten Bewerbern.
Die als Argumentation in der Fachkräftemangel-Debatte vorgebrachten Statistiken kalkulieren auch schon mal Arbeitslosenzahlen gegenüber der Zahl offener Stellen, obwohl dieser Vergleich nichtssagend bis irreführend ist, denn Brenke erklärt: "Nicht jeder, der einen neuen Job sucht, ist arbeitslos gemeldet." Und weiterhin werden auch öfter mal mehrere Stellenanzeigen für einen einzigen Arbeitsplatz durch Personalvermittler geschaltet, wie selbst die Bundesagentur für Arbeit bestätigt.
Weitere Aspekte werden in der aktuellen Euphorie über die vermeintliche Lösung eines eigentlich fragwürdigen Problems durch das Anwerben im Ausland ausgeblendet. Zum einen können zwar Geldüberweisungen in ärmere Länder durch im reicheren Ausland tätige Arbeitskräfte einen Unterschied für die so Begünstigten ausmachen. Zum anderen ist aber seit Jahren bekannt und auch in uns näher liegenden Staaten wie Polen oder Griechenland spürbar, dass am Ende Fachkräfte dort tatsächlich fehlen, weil sie in reichere Länder abgeworben wurden. Dazu zählen auch in jedem Land existenziell benötigte Fachkräfte wie etwa Ärzte. Selbst ökonomistische Analysen über abwanderndes "Humankapital" zeigen, dass "die effektive Abwanderung von Fachkräften ... in der überwiegenden Mehrheit der Entwicklungsländer, insbesondere in Afrika südlich der Sahara, in Mittelamerika und in kleinen Ländern, das einkommensmaximierende Niveau übersteigt". Das fällt somit womöglich auf die Entwicklungspolitik zurück und muss wieder durch öffentliche Investitionen – an denen sich hierzulande auch Beschäftigte mit Mindestlohn beteiligen dürfen – wie die des BMZ aufgefangen werden. Innerhalb der Europäischen Union ist diese Problematik durch die aktiv geförderte Arbeitnehmermobilität seit Jahren bekannt, die sich auch auf die Entwicklungsländer auswirkt. So hieß es sogar in einer Publikation der EU, dass diese Freiheit in den "Senderegionen" zu einer erheblichen Abwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften geführt hat.
Somit tragen also letztlich Gesellschaften in den Entsenderegionen die sozioökonomischen Auswirkungen des erheblichen Verlusts von Talenten durch den altbekannten "Braindrain". Doch auch die aufnehmenden Gesellschaften, um in dem Jargon zu bleiben, haben einiges zu tragen, und zwar nicht nur die Anwerbemaßnahmen, welche mit öffentlichen Geldern und höchstens mit einem begrenzten Anteil von den begünstigten Unternehmen getragen werden. Hinzu kommen wohl die Ausbildungsaufwendungen samt Sprachkursen. Jessica Tatti, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag, kritisierte zudem:
"Die Bundesregierung kommt mit immer neuen Ankündigungen um die Ecke, wie sie die Nachfrage nach neuen Arbeitskräften bedienen kann. Die Debatte versteift sich aber darauf, wie den Unternehmen möglichst billig und unkompliziert ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland zugeführt werden können. Die Bundesregierung verdrängt offenbar völlig, dass es immer noch sehr viele Arbeitslose gibt und sich immer noch viel zu viele Menschen in unfreiwilliger Teilzeit und prekären Beschäftigungen finden. Die Ampel setzt aufs falsche Pferd."
Angesichts der Arbeitslosenquote von 5,3 Prozent dürfe die Bundesregierung nicht weiter an der Aus- und Weiterbildung arbeitsloser Menschen sparen, vielmehr sollte die Bundesregierung demnach möglichst Fachkräfte aus diesem Bereich schöpfen und hier die Weiterbildung besser fördern.
Weiterhin geht es in der Fachkräftemangel-Debatte um den Arbeitsmarkt, der als ein "Markt" die Balance zwischen Angebot und Nachfrage durch Preise spiegeln sollte. So bestätigte der Arbeitsmarktexperte Brenke, dass der einzig zuverlässige Indikator, um Engpässe am Arbeitsmarkt zu messen, die Lohnentwicklung sein müsse.
"Gäbe es tatsächlich einen Fachkräftemangel, müssten die Reallöhne viel stärker steigen."
Und das ist, wie wohl allen spätestens seit dem Pflegekräfte-Desaster bekannt und immer deutlicher auch an Streiks in unterschiedlichsten Sektoren und mehreren Ländern festzustellen ist, auch im Jahr 2022 oftmals eben nicht der Fall.
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