"… sonst müssen wir diese Regierung ablösen" – Ziele und Ambitionen einer neuen Friedensbewegung
Von Wladislaw Sankin
Einzeln, auch in Gruppen, huschten Besucher am Infoschalter im Verlagsgebäude Neues Deutschland am Berliner Ostbahnhof vorbei, an diesem bundesweiten Streiktag der Deutschen Bahn. Ihr Ziel war ein unspektakulär als "Seminarraum 1" markierter schmaler Konferenzsaal im ersten Stock. Für die meisten hier im Ostberliner Friedrichshain ein seit Langem vertrauter Ort für Diskussionen und Treffen. Diesmal hieß der Titel "Dialog statt Waffen. Überparteilich gegen den Krieg". Ohne den Verkehrsstreik hätte sich der Raum hier sicher komplett gefüllt. Aber immerhin kamen knapp hundert Teilnehmer. Neun Videokameras wurden aufs Podium gerichtet, darunter eine des chinesischen Fernsehens.
Viele der Versammelten waren gleichzeitig auch Redner – hochrangige Offiziere und Generäle der NVA und Militärangehörige der Bundeswehr, Wissenschaftler, Autoren, Friedensaktivisten. Organisiert wurde die Konferenz vom Ostdeutschen Kuratorium der Verbände e. V. (OKV), der unter seinem Dach 28 Vereine beheimatet. Durch einen Spendenaufruf in befreundeten Medien haben die Veranstalter genug Geld auch für eventuelle Folgeveranstaltungen gesammelt und eine Aufklärungskampagne zu den Ursachen und möglichen Folgen des Krieges in der Ukraine gestartet. Reden und Aufsätze gibt es nun in Druckform und im Internet.
Angestoßen wurde die Veranstaltung von zwei emotionalen Briefen der NVA-Generäle a. D. Sebald Daum und Manfred Grätz an die Russische Botschaft, die am 31. Januar veröffentlicht wurden. "Wut kocht in mir hoch, wenn ich die völlig haltlose einseitige Schuldzuweisung an Russland verfolgen muss", schrieb Grätz und forderte Gleichgesinnte zu aktiverer Protesttätigkeit auf – "sofern ihr noch rüstig seid". Danach haben sich viele weitere hochrangige Militärangehörige der NVA mit den beiden Verfassern solidarisiert. Nun versuchen die ostdeutschen Friedensvereine mit der Initiative eine breitere Friedensbewegung aus dem Boden zu stampfen.
Die Organisatoren und mehrere Redner des Forums machten deutlich: Parteipolitische und weltanschauliche Differenzen sollen für alle Friedensbewegten zurückgestellt werden. Kontaktverbote zur AfD und generell nach "rechts" wurden als linkssektiererisch angeprangert. Sie betonen, es müsse nicht einfach ein abstrakter Frieden angestrebt werden, denn darunter wird in der Regel der Sieg der Ukraine und des Westens über die Atom-Supermacht Russland verstanden. Das sei ein selbstmörderisches Ziel. Die neue Friedensbewegung soll ausdrücklich "Frieden mit Russland" auf ihre Fahnen schreiben.
"Denn Frieden mit Russland bedeutet nicht nur die Beendigung des US-/NATO-Krieges in der Ukraine und dessen potentieller Ausweitung auf den Rest Europas, sondern auch das Ende der Deindustrialisierung Deutschlands durch die USA."
Das Angebot einer Öffnung "nach rechts" zwecks Frieden wurde gehört. Unter den Anwesenden war auch der Chef-Redakteur eines in rechtsnationalen Kreisen bekannten Magazins. Wie auch der Autor dieser Zeilen sprach er in den Pausen mit Organisatoren der Veranstaltung. In seinen Medien wird nun eine verstärkte Zusammenarbeit der linken und rechten Opposition gefordert – als "winzige Chance, den endgültigen Untergang der Demokratie in Deutschland zu verhindern".
Eine scharfe politische Analyse und Zustandsbeschreibung steht am Anfang jeder Bewegung. So auch am Montag im Konferenzsaal in Berlin-Friedrichshain. Die Redner waren sich einig. Schuld am gegenwärtigen Krieg seien die USA und die NATO. Die einflussreichen Verfechter der Wolfowitz-Doktrin in den USA hätten seit Langem einen Schlag gegen Russland mit dem nachfolgenden Ziel der Zerstückelung des Vielvölkerstaates auf drei bis zwölf Nationen angestrebt, betonte die Bundesvorsitzende der Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo) Helga Zepp-LaRouche. Bei den deutschen Medien ernte diese Aktivität wohlwollende Zustimmung, kritisierte sie. Deutschland müsse sich statt mit der NATO mit den Ländern des Globalen Südens verbünden, war ihr Lösungsansatz zur Krisenbewältigung zu Zeiten des Kampfes des einstigen Welthegemons für den Erhalt der unipolaren Weltordnung.
Deutsche Außenpolitik stand auch im Mittelpunkt des analytischen Vortrags des Physik-Wissenschaftlers Prof. Dr. Joachim Wernicke (in kurzer und langer Fassung hier abrufbar). Er sah den Krieg in der Ukraine als Folge des "deutschen Fehlverhaltens", das er an zehn Schritten festmachte, angefangen mit der Täuschung Gorbatschows über die NATO-Osterweiterung bis zum Betrug beim Minsker Abkommen und der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, und "zwar in der Rolle eines Angreifers, denn Russland hatte Deutschland nicht angegriffen, und es bestehen keine Bündnisverpflichtungen gegenüber der Ukraine, weder über die NATO noch über die EU".
Deutschland habe für die USA auf dem europäischen Kontinent eine entscheidende geostrategische Position und ein Verlust dieser logistischen Drehscheibe für das US-Militär würde das System der militärischen Kontrolle der ganzen Region durch die USA zum Einsturz bringen. Die europäischen NATO-Truppen bezeichnete Wernicke in diesem Zusammenhang als US-Fremdenlegion.
Der Vorsitzende des Deutschen Friedensrates Gerhard Fuchs-Kittowski wies in seinem Vortrag und abschließenden Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen auf die Verletzung des völkerrechtlich bindenden Zwei-plus-Vier-Vertrages hin, wonach es u. a. nicht erlaubt sei, Truppen und Militärgerät über das Territorium der ehemaligen DDR in Richtung Osten zu verlegen. Ministerpräsidenten ostdeutscher Bundesländer müssten durch öffentlichen Druck dazu gedrängt werden, sich gegenüber der aktuellen Waffenlieferung durch Ostdeutschland querzustellen.
Er erinnerte auch an die Tradition der überparteilichen Runden Tische zur späten DDR-Zeit, die eine gewaltlose Übergangszeit ermöglichten.
"Bei einer Regierung, die von einem politischen Kurs nicht abweicht, den wir nicht mittragen wollen und der uns mit Russland verfeindet, was wir nicht wollen, dass wir im schlimmsten Fall nach unserem Grundgesetz, diese Regierung unter Umständen sogar ablösen müssen. Das gebietet sogar unser Grundgesetz."
So weit müsse es aber nicht kommen, wenn man sie zu einem Runden Tisch zwingt und bei Diskussionen zur Rechtfertigung drängt.
Auch der Publizist und ehemalige Aufklärer im NATO-Hauptquartier Rainer Rupp sieht Chancen für Runde Tische als Plattform, wo kritische Menschen aus dem Mainstream und Friedensaktivisten wie er und seine Mitstreiter zusammentreffen können. "Es gibt Menschen aus dem Mainstream, die auch anerkennen, dass es so weit gar nicht gehen kann ... Mit denen müssten wir eine möglichst breite, überparteiliche Front gegen diesen US-NATO-Krieg gegen Russland schaffen", sagte er im anschließenden Gespräch.
Ganz zentral ist bei der Suche nach einem gemeinsamen Nenner in der künftigen Friedensbewegung die Frage der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine. Friedensaktivist Fuchs-Kittowski macht in seinem Redebeitrag deutlich:
"Der Knackpunkt ist nicht, ob man für die Ukraine oder für Russland sei. Der Knackpunkt ist, ob man für oder gegen Waffenlieferungen eintritt ... Der Feind steht nicht links oder rechts, der Feind steht woanders, denn wir sind für den Frieden, egal in welcher Partei sich die Menschen engagieren".
Andere Teilnehmer des Forums wiesen in den Gesprächen darauf hin, dass die wirtschaftlichen Folgen des beispiellosen Sanktionskrieges gegen Russland für dessen Urheber in Deutschland mittelfristig einen Bumerang-Effekt verursachen können. Deindustrialisierung, Teuerung der Energiepreise und Schließung der Betriebe würde schließlich auch der Jugend die Zukunft rauben und für deren politisches Aufwachen sorgen. Darin liege die Chance, dass Friedensaktivismus des ostdeutschen Schlags den bundesweiten Widerhall in breiteren Bevölkerungsschichten findet. Aber auch für sich genommen, sei er eine ungeheure Kraft – das hätten die Proteste mit 50.000 Teilnehmern am 25. Februar im Berliner Regierungsviertel gezeigt.
Die Teilnehmer der Konferenz nahmen mit ihrer NATO- und US-Kritik kein Blatt vor den Mund und weigerten sich vehement, Russland Schuld an dem Konflikt zu geben – in dieser Deutlichkeit und intellektueller Schärfe wahrscheinlich zum ersten Mal seit Beginn der russischen Militäroperation. Politisch korrekte Disclaimer, dass auch Russland für dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine scharf zu verurteilen sei – typisch für viele gemäßigte Kritiker der Waffenlieferungen und Verfechter einer differenzierteren Sichtweise auf den Konflikt – wurden in dieser Runde komplett über die Bande geworfen. Rainer Rupp warnte in diesem Zusammenhang in einem Artikel bei RT DE bereits im Vorfeld der Konferenz vor "Fake-Friedendemos".
Den zentralen Punkt im Mainstream-Narrativ über den Konflikt, Russland der unprovozierten Aggression zu bezichtigen, erwiderte Fuchs-Kittowski in seiner Rede mit dem folgenden Machiavelli-Zitat.
"Nicht wer zuerst die Waffen ergreift, ist der Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt."
Ob schließlich die Angst vor möglichen Schlägen Russlands auf US-Basen auf dem deutschen Territorium infolge der weiteren Eskalation des Konflikts die Menschen massenhaft auf die Straße treiben wird, so wie es einst im Zuge der Pershing-Proteste der Achtziger der Fall war, ist immer noch ungewiss. Bezeichnend ist jedoch, dass sich in der Friedensbewegung ein radikalerer Kern herausgebildet hat, der nun entschlossen ist, das offene Dissidententum zu wagen und die organisatorische Last für die Erweiterung der Protestfront auf sich zu nehmen.
Voraussetzung dafür bleiben allerdings nach wie vor die Spendenbereitschaft und eine breite Unterstützung auf lokaler und regionaler Ebene. Der Druck auf Landesregierungen könnte auch ein Weg sein für das Erreichen der politischen Ziele. Was heute utopisch klingt, kann morgen wegen einer weiteren Eskalation des Krieges oder weiterer Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse Realität werden.
Mehr zum Thema – Köln: Razzia bei Friedensaktivisten wegen "Unterstützung der russischen Armee"
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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.