"Der Schein trügt" – Jurist bewertet den Freispruch des Friedensaktivisten Heinrich Bücker
Felicitas Rabe im Interview mit dem Juristen und Prozessbeobachter Hans Bauer
Nach dem Freispruch des Friedensaktivisten Heinrich Bücker, der sich am 27. April vor dem Berliner Amtsgericht Tiergarten verantworten musste, nahm am Sonntag der Jurist und Prozessbeobachter Hans Bauer dazu in einer ersten Bewertung Stellung. Das Urteil ist bisher nicht rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft hat auf Verurteilung plädiert; ob sie Berufung einlegt, ist nicht bekannt. Im Gespräch mit der Autorin erklärte Bauer, dass das Gericht in seiner Urteilsbegründung der eigentlichen Frage nach dem Recht auf Meinungsfreiheit nach Artikel 5 des Grundgesetzes ausgewichen sei.
Die Motive des Angeklagten Heinrich Bücker für seine Gedenkrede
Bücker wurde vorgeworfen, bei seiner Gedenkrede – im Rahmen einer Friedenskundgebung am 22. Juni 2022 am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park – anlässlich des Jahrestages des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion die Straftat "Belohnung und Billigung von Straftaten" nach § 140 Strafgesetzbuch begangen zu haben. In seiner Rede habe er sich nicht von "Putins Angriffskrieg" distanziert und diesen mutmaßlich sogar gut geheißen. Aus diesem Grund wurde gegen den Betreiber des Berliner Coop Anti-War Cafés seitens der politischen Abteilung der Berliner Staatsanwaltschaft beim Berliner Amtsgericht Tiergarten am 9. Januar 2023 ein Strafbefehl erwirkt und eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen verhängt.
Laut seinem Strafverteidiger hat er in seiner Rede unter der Überschrift "Wir vergessen nicht!" daran erinnert, dass in diesem "verbrecherischen Krieg allein 27 Millionen Bürger der Sowjetunion, die Mehrheit Zivilisten, zum Opfer gefallen sind". Er habe weiter darauf hingewiesen, dass "allein in der Ukraine mehr als 1,5 Millionen Juden unter den Opfern waren". Der Friedensaktivist habe dazu aufrufen wollen, "schmerzliche und beschämende Erinnerung an den so ungeheuerlichen und grausamen Vernichtungskrieg, den das faschistische Deutschland der gesamten Sowjetunion, vor allem der ukrainischen, der belarussischen und der russischen Republik angetan hat, wachzuhalten", so die Verteidigung. Man solle sich daran erinnern, dass die Befreiung Europas vom Faschismus den Völkern der Sowjetunion zu verdanken sei. Daraus erwachse die Verpflichtung, "für eine gedeihliche, vernünftige und friedliche Nachbarschaft mit Russland in Europa einzustehen".
Bücker hatte gegen den Strafbefehl Einspruch erhoben. Darüber wurde am 27. April vor dem Strafgericht Tiergarten verhandelt. Nach kurzer Prozessdauer, das Verfahren dauerte nur etwa zwei Stunden, sprach die Richterin den Friedensaktivisten von den Anklagen frei.
Stellungnahme des Angeklagten nicht zugelassen, rechtliches Gehör verweigert
Als Prozessbeobachter sei er trotz des Freispruches über die Verhandlungsführung und die Urteilsbegründung erschüttert gewesen, berichtete Bauer der Autorin. Insgesamt sei bei ihm der Eindruck entstanden, die Richterin habe den Termin so schnell wie möglich abhandeln wollen, ohne die Anklagepunkte und die rechtlichen Fragen überhaupt zu erörtern.
Nach den Anfangsformalien sei gleich zu Beginn der Verhandlung das Video mit der umstrittenen Gedenkrede Bückers vorgeführt worden. Dazu wollte der Angeklagte anschließend Stellung nehmen. Der Friedensaktivist habe sich sehr gründlich auf die Verhandlung vorbereitet und eine ausführliche Stellungnahme formuliert. Schon nach kurzer Zeit sei er beim Verlesen von der Richterin unterbrochen worden. Sie habe ihn belehrt, dass ein Vorlesen eines vorbereiteten Textes nicht üblich sei. Bücker habe also nur ganz kurz auf die Anklage reagieren können. Sein gesetzlicher Anspruch auf rechtliches Gehör sei damit beschnitten worden, erklärte der Jurist.
Dem Angeklagten sei nicht gestattet worden, seine Sicht der Dinge auf die Schuldigen im Krieg in der Ukraine umfassend und zusammenhängend darzustellen. Die Bundesregierung habe laut Bücker seit 2014 Neonazis und faschistische Kräfte in der Ukraine unterstützt. Mit den Worten "Das ist dem Gericht alles bekannt" habe die Richterin den Vortrag des Angeklagten unterbrochen.
Alle Beweisanträge der Strafverteidiger abgelehnt
Bauer schilderte, wie Bückers Strafverteidiger dann mit Beweisanträgen eine konkrete inhaltliche Gegendarstellung zum Vorwurf "Billigung einer Straftat" führen wollte. Schließlich würde Bücker vorgeworfen, die Schuldigen an einem Angriffskrieg zu unterstützen. Da müsse ihm wohl gestattet sein, seine Sicht auf die Schuldfrage an diesem Krieg darzustellen. In seinem Beweisantrag habe der Verteidiger ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages über die militärische Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten angeführt.
Außerdem sei eine Studie der von der Bundesregierung finanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die den erheblichen Einfluss der rechtsextremen Nationalisten auf die ukrainische Regierungspolitik konstatierte, im Beweisantrag enthalten gewesen. Schließlich habe es darin Belege von Monitor-Sendungen über den Krieg in der Ukraine gegeben, mit Berichten, wonach Kiew seit 2014 Krieg gegen die Menschen im Donbass führen soll, und Berichten über das Vordringen und die Bedrohung der NATO gegen Russland. Sämtliche Beweisanträge der Verteidigung wurden mit der Begründung, dies sei dem Gericht bekannt, abgelehnt.
In seinem Bericht bewertete der Prozessbeobachter das Verhalten der Richterin als nicht unparteiisch. Die Art und Weise, wie alle inhaltlichen Argumente und Beweise entweder heruntergespielt oder erst gar nicht zugelassen worden seien, habe von Anfang bis Ende des Prozesses auf eine Befangenheit des Gerichts in der Sache schließen lassen, konstatierte er.
Die Begründung des Freispruchs: Ein Konstrukt, um einer Auseinandersetzung über Meinungsfreiheit auszuweichen
Der Freispruch sei schließlich mit einer lapidaren Begründung entschieden worden: Nach Auffassung des Gerichts hat der Angeklagte das für eine Verurteilung nach § 140 Nr. 2 StGB notwendige Straftatbestandsmerkmal "Belohnung und Billigung von Straftaten in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören", nicht erfüllt. Weil nur "seine Fans" und kein Ukrainer an der Gedenkveranstaltung am 22. Juni 2022 teilgenommen hätten, so die Richterin, habe es insofern keine Öffentlichkeit gegeben und damit auch keine Störung des öffentlichen Friedens. Warum es im Prozess nicht um politische Meinungen gehen dürfe, habe die Richterin wie folgt begründet:
"Das Gericht ist schließlich keine politische Veranstaltung."
Dann habe sie aber doch noch ihre politische Meinung verkündet und sagte, Russland führe natürlich einen "völkerrechtswidrigen Angriffskrieg" und Putin sei ein "Kriegsverbrecher", gab Bauer die Richterin wieder.
Diese Freispruchsbegründung klinge für den erfahrenen Strafverteidiger wie ein Konstrukt, um sich ohne tatsächliche Prüfung zum Vorwurf und zu den rechtlichen Fragen der Meinungsfreiheit äußern zu müssen.
Freispruch, um weiteren internationalen Protest und eine Blamage für den "Rechtsstaat BRD" zu vermeiden
Womöglich sollte der Rechtsstaat mit dem Freispruch hier vor der Öffentlichkeit großzügig und gerecht erscheinen, schlussfolgerte Bauer. Bei einer Verurteilung wäre zudem der Protest gegen diese Verfolgung noch verstärkt worden. Offenbar sei der Fall Bücker in der Öffentlichkeit, auch international, bis zur Erwähnung im UN-Sicherheitsrat und im chinesischen Fernsehen, derart blamabel für den "Rechtsstaat BRD", dass die Angelegenheit schnell beendet werden musste. Bauer erklärte:
"Die Anklage des bekannten Friedensaktivisten soll natürlich entpolitisiert werden und in der Versenkung verschwinden. Es soll nicht darüber geurteilt werden, ob man zur Situation in der Ukraine eine andere öffentliche Meinung äußern darf als die vorgegebene – wie es der Staatsraison entspricht."
Der Freispruch sei zu begrüßen, aber aus anderen Gründen. Denn der Schein trüge. Mit der Begründung des Urteils werde der Rechtsstaat vorgeführt und die Meinungsdiktatur indirekt sogar bestätigt, so der Rechtsexperte. Zusammenfassend sei festzustellen: Freispruch, aber keine Meinungsfreiheit.
Hans Bauer ist seit 1993 Vorsitzender der "Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung". Er wurde in der DDR zum Juristen ausgebildet und war dort zuletzt stellvertretender Generalstaatsanwalt. Seit 1992 arbeitet er als Rechtsanwalt und Strafverteidiger in Berlin. Der Jurist ist auch Mitinitiator des Appells "Meinungsfreiheit verteidigen". Das Strafverfahren gegen Heinrich Bücker begleitete er seit Beginn der Anklage als Prozessbeobachter.
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