Wirtschaftsexperte Every: "Wenn Deutschland sich weiter auf die USA verlässt, wird es scheitern"
Der renommierte Finanzexperte Michael Every spricht im Interview mit der Berliner Zeitung Klartext über die aktuelle wirtschaftliche Weltlage. Im Gegensatz zu regierungsnahen "Experten", die regelmäßig bei ihren Prognosen danebenliegen, zeichnet er kein rosiges Bild von der Zukunft der bundesdeutschen Ökonomie, ganz im Gegenteil.
Angesprochen auf die aktuelle Bankenkrise in den Vereinigten Staaten und die Frage"Erleben wir gerade den Anfang vom Ende der finanziellen Globalisierung?", erwidert Every:
"Was in den USA mit der Bankenkrise passiert, kann man nicht getrennt von der gesamten Struktur der Weltwirtschaft betrachten. Es sollte für niemanden eine Überraschung sein, was gerade passiert. In den westlichen Volkswirtschaften wurden 15 Jahre lang unglaublich niedrige Zinssätze angeboten und plötzlich werden innerhalb eines Jahres die Zinssätze sehr aggressiv angehoben. Das führt sofort zu Problemen. Es zeugt aber von intellektueller Kurzsicht, zu glauben, die derzeitigen Ereignisse seien eine Überraschung oder ein Schock. Es handelt sich vielmehr um einen allmählichen Rückgang der Nachfrage und eine allmähliche Verschärfung der an die Kreditvergabe gebundenen Standards. Wenn die Zinssätze so hoch bleiben, kann es passieren, dass die Wirtschaft einen Kipppunkt überschreitet. Das wirtschaftliche Konstrukt, das wir seit der Finanzkrise von 2008 kennen, wurde auf einer sehr ineffizienten und ungerechten Wirtschaftsstruktur aufgebaut. Es hat sich eine Wirtschaftsform entwickelt, die auf Sand gebaut wurde, und das Fundament wird wackliger."
Deutlich wird der Finanzexperte auch bei der Frage, ob sich der "Kapitalismus in einer Sackgasse" befinde. Er meint: "Zur Nullzinspolitik zurückzukehren, ist keine Lösung. All die Vorhaben, von denen Politiker und Zentralbanker wie Christine Lagarde schwärmen: Nachhaltigkeit, Widerstandsfähigkeit, nationale Sicherheit, strategische Autonomie – nichts davon wäre möglich, wenn man wieder zu Nullzinsen zurückkehrt." Dadurch würde die aktuelle Situation noch schlimmer. Denn der Westen könne nicht mehr, "wie es in den letzten 40 Jahren üblich war, die Arbeiter weiter auspressen und, anstatt höhere Löhne zu zahlen, lieber Waren aus China und anderen Niedriglohnländern importieren, statt sie selber zu produzieren". Nicht zuletzt trage dazu die angespannten Situation zwischen den USA und China bei. Die geht vor allem auf Kosten Europas. Dabei nehme auch die internationale Gefahr eines großen Krieges zu, da alle großen Staaten derzeit aufrüsten:
"Der Westen wird eine ganze Menge zu tun haben. [...] Für Investitionen in zentrale Bereiche der Wirtschaft, in denen die Widerstandsfähigkeit der Lieferketten, die Nachhaltigkeit oder die nationale Sicherheit gestärkt werden sollen, müssen niedrige Zinssätze garantiert werden. In weniger wichtigen Sektoren können die Zinsen angehoben werden. Denn man muss Prioritäten setzen, welche Wirtschaftsbereiche man entwickeln will. Es geht darum, Bereiche als Gemeinwohlgüter zur Verfügung zu stellen. Es geht um Kanonen statt Butter – und das meine ich nicht im übertragenen Sinn. Die Rivalitäten auf globaler Ebene werden größer und die Staaten müssen ihre Wirtschaft entwickeln."
Europa und insbesondere Deutschland haben dabei ein besonderes Problem, da die USA zwar auf bedingungslose Gefolgschaft und die Abwendung von Russland und China drängen, wirtschaftlich aber letztendlich auf ihre eigene nationale Souveränität setzten – auf Kosten der westlichen Partner. Dabei geht Every mit der aktuellen Bundesregierung – aber auch der GroKo unter Angela Merkel sowie den deutschen Managern – hart in Gericht:
"Deutschland ist auf Exporte nach China, Importe aus Russland und Waffen aus Amerika angewiesen. Wenn Deutschland sich weiter auf die USA verlässt, wird es scheitern, weil die amerikanische Wirtschaft das Tempo der eigenen Militärausgaben nicht aufrechterhalten kann, um Europa vor Russland zu verteidigen und den Zugriff auf Deutschland und Asien zu behalten. Amerika hat dafür nicht mehr die industrielle Basis. [...] Was die Exporte nach China angeht, hat sich Deutschland verspekuliert. Die politische Ökonomie des Landes wurde völlig falsch eingeschätzt. Die aktuellen Handelsdaten geben bereits einen Vorgeschmack darauf, dass die deutschen Exporte keine großen Sprünge mehr machen und in naher Zukunft schrumpfen werden. Stattdessen werden deutsche Firmen chinesische Waren verkaufen und dadurch mit den USA in Konflikt treten, unter Sanktionen fallen etc. China hat Deutschland bereits den Rang als größter Autoexporteur abgelaufen. Diese Entwicklung war seit Jahren absehbar und ich habe sie meinen Kunden in Deutschland versucht klarzumachen. Aber sie lächelten nur und sagten: 'Wir sind deutsche Unternehmer, wir wissen, was am besten ist.'"
Besonders das fehlende russische Gas, das durch das teure und umweltschädliche Fracking-Gas aus den USA kompensiert werden soll, treffe die deutsche Wirtschaft besonders hart. Das wird fatale Konsequenzen für den Euro und die wirtschaftliche Entwicklung für den ehemaligen Exportweltmeister haben:
"Letztlich wird der Euro schwächer und die Inflation steigen. Um die Inflation zu bekämpfen, müssen die Leitzinsen erhöht werden, worunter die Gesellschaft leiden wird. Und auch über steigende Exporte können keine Mehreinnahmen mehr erzielt werden. Deutschland wird zu einer Entwicklungsökonomie herabgestuft."
Im Konflikt USA gegen China sieht Every statt Entspannung eher eine weitere "Eskalation". Dabei geht es vor allem um die Rolle der ehemaligen Leitwährung: "Der Dollar wird noch lange die wichtigste Weltwährung bleiben, denn er bietet ein Netzwerk von Währungstransaktionen. Alles hängt daran, dass Amerika das weltgrößte Handelsdefizit hat. Die US-Dollar strömen ins Ausland, jeder glaubt, dass er auch in Zukunft immer mehr von ihnen bekommen kann. Deshalb verschulden sie sich fortwährend auf dem Rücken des Dollars." Doch bedrohe die weltweiten Rezession in den USA auch die "Liquidität" der noch amtierenden Weltwährung – eine Tatsache, die vor allem von China interessiert beobachtet wird. Final zieht der Finanzexperte einen wenig euphemistischen historischen Vergleich:
"China kann die Dollar-Vorherrschaft unterlaufen, indem es die Zahlungsabwicklung beim Handel mit einigen Staaten von US-Dollar auf chinesische Yuan verändert. Die zweite Möglichkeit ist, die Handelsroute physischer Güter zu verändern, sodass weniger Waren in Regionen exportiert werden, die in Dollar bezahlen. Das heißt, die globalen Handelsströme werden neu strukturiert. Diese Vorgänge konnte man sehr ähnlich in den 1930ern beobachten – und wir wissen, wie es geendet hat."
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