Boris Palmer: "Deutschland hat den Zenit überschritten"
Der Tübinger Oberbürgermeister und frühere Grünen-Politiker Boris Palmer hat in einem Gastbeitrag für das Springerblatt Welt am Sonntag (WamS) festgestellt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland im Niedergang befindet. Palmer nimmt in dem Beitrag, der in seiner früheren Partei für Aufregung sorgen dürfte, eine umfassende Bestandsaufnahme vor, deren Ergebnis kaum vernichtender ausfallen könnte.
Ausgangspunkt seiner Betrachtung sind zwei Nachrichten von einem Tag: Ein neues Umfragehoch der AfD in Baden-Württemberg und der Befund des Allensbacher Elite-Panels, dass Deutschland seinen Zenit überschritten habe:
"Wenn 19 Prozent der Baden-Württemberger sagen, sie wollten die AfD wählen, fällt die Erklärung mit den vermeintlichen Demokratiedefiziten hinterwäldlerischer Ossis flach."
Palmer widerlegte damit die gängige Darstellung, AfD-Wähler seien verhetzte Subjekte, die sich mit eingebildeten Problemen beschäftigten:
"Viel plausibler erscheint mir, dass die Leute etwas ernsthaft umtreibt, für das sie bei den etablierten Parteien keine Lösungen mehr sehen. Ich glaube, dass es sich um Angst vor dem Verlust der Heimat handelt, verbunden mit der Sorge vor wirtschaftlichem und sozialem Abstieg. Und da scheint es mir bemerkenswert, dass immer mehr Entscheider zumindest die Bedenken hinsichtlich der wirtschaftlichen Zukunft des Landes teilen, man also nicht nur von eingebildeten Problemen eines geistigen Prekariats ausgehen kann."
Nachfolgend nennt Palmer zahlreiche drängende Probleme, die er ausführlich beschreibt. Er habe noch nie so viele besorgte Unternehmensführer getroffen wie in den vergangenen Monaten:
"Der Cocktail aus Bürokratieverstrickung, Digitalisierungsrückstand, Energiekostenexplosion, Fachkräftemangel, Nachfrageausfall und politischer Nonchalance ist zu giftig geworden."
Verfallende Gasthäuser in den Dörfern wirkten auf ihn "wie Mahnmale zur Erinnerung an eine bessere Zeit". Die baden-württembergische Schlüsselindustrie, der Fahrzeugbau, stehe vor dem Verbot des Verbrennungsmotors, während Batterien hierzulande bisher nicht konkurrenzfähig herzustellen seien:
"Elektroautos made in Germany sind ein Ladenhüter. Wenn man den Trend im Automobilbau zehn Jahre weiter rechnet, ist Baden-Württemberg ein neues Ruhrgebiet."
Das alles sei so offensichtlich, dass es kaum verborgen bleiben könne. Und die Krise sei bei den Menschen längst angekommen:
"Kurzarbeit und betriebsbedingte Kündigungen haben wieder eingesetzt. Die Inflation macht das Leben teurer. Der Wohnungsbau ist zum Erliegen gekommen. Ein Eigenheim aus eigenem Einkommen zu finanzieren, ist faktisch unmöglich geworden. Eine bezahlbare Wohnung zu finden ist ein Sechser im Lotto."
Palmers Schlussfolgerung:
"Wenn dann der Bundeskanzler beständig von einem bevorstehenden großen Aufschwung redet, sind Zweifel an der Realitätsnähe der Berliner Politik im einfachen Volk nicht gänzlich irrational."
In der Folge beschreibt der Oberbürgermeister die Folgen der gegenwärtigen Migrationspolitik für die soziale Lage und die innere Sicherheit. So finde sich etwa in seiner Stadt kein Wohnraum mehr:
"Wenn wieder Wohnraum für Geflüchtete geschaffen und umgewidmet wird, protestieren immer mehr Menschen und fragen, wo sie selbst wohnen sollen. In der Stadt Tübingen, für die ich Verantwortung trage, sind alle seit 2015 im Saldo neu geschaffenen Sozialwohnungen mit Flüchtlingen belegt. Die Verzweiflung der Wohnungssuchenden, darunter besonders viele mit Migrationshintergrund, wächst."
Die Ablehnung "der nun wieder dominierenden Gruppe arabischer und afrikanischer Flüchtlinge mit einem großen Überhang junger Männer" nehme zu, weil die Ressourcen in den Kommunen erschöpft seien. Dazu kämen Sicherheitsprobleme:
"Der nicht abreißende Strom der Nachrichten von Messerangriffen im öffentlichen Raum und in öffentlichen Verkehrsmitteln, bei denen sich regelmäßig ein Geflüchteter als Täter ermitteln lässt, verbindet diese Entwicklung mit dem Gefühl eines gravierenden Sicherheitsverlustes, wie die viel kritisierte Polizistin Claudia Pechstein korrekt berichtet hat.
Die Freibadschlägereien sollte man auch nicht als Sommerlochproblem abtun. Sie werden von vielen Menschen als Symbol verstanden, dass uns die Lage langsam entgleitet und man sich im eigenen Land nicht mehr wohlfühlen kann, sobald man das Haus verlässt."
Palmers Lösungsansätze wirken vergleichsweise simpel: Eine "nationale Kraftanstrengung für unsere Wirtschaft" und eine Wende in der Migrationspolitik, weniger "Fachkräfte", mehr Fachkräfte. Zur "Kraftanstrengung für die Wirtschaft" müsse dem Politiker zufolge gehören:
"Ein drastischer Abbau von Bürokratie und wirtschaftsfeindlichen Vorschriften; eine Wiederentdeckung des Leistungsprinzips an Stelle des Proporzdenkens bis in den letzten Winkel der Gesellschaft; endlich ein Deutschlandtempo beim Ausbau einer preiswerten und klimaneutralen Energieversorgung und der Digitalisierung; eine starke Antwort auf die Investitionsanreize der USA aus Europa; und die Einsicht, dass unser Bildungssystem heillos überfordert ist, soziale Probleme, Kinder von Geflüchteten und Inklusion in einer Klasse ohne Lehrer zu bearbeiten."
Ein Umsteuern in der Migrationspolitik sei durch die Einigung auf eine gemeinsame EU-Asylpolitik so einfach nicht. Es brauche Härte gegenüber "unberechtigten Einwanderern" an den EU-Außengrenzen, wohingegen man "Krankenschwestern, Köchen, Altenpflegern oder Metallbauern" die Tore öffnen müsse. Palmers Fazit:
"Wer den Aufstieg der AfD stoppen will, muss also dem drohenden wirtschaftlichen Niedergang unseres Landes entschieden entgegentreten und die Ordnung der Migration durch die Beschlüsse der EU zu einem gemeinsamen Asylsystem nach Kräften fördern. Die AfD bekämpft man nicht durch eine Eskalationsspirale der Beschimpfung und moralischen Abwertung, sondern durch kluge Problemlösungen."
Der 51-jährige Palmer ist seit 2007 Oberbürgermeister von Tübingen. Er wurde zuletzt im Oktober 2022 als unabhängiger Kandidat mit absoluter Mehrheit im Amt bestätigt. In seiner früheren Partei war er zuvor immer wieder in die Kritik geraten, vor allem wegen seiner Positionen in der Migrationspolitik.
In der Corona-Krise forderte Palmer im November 2021, dass sich Ungeimpfte "bei einer Coronainfektion nicht mehr auf der Intensivstation behandeln" lassen sollten. Er verlangte für "Impfverweigerer" auch höhere Kassenbeiträge, Rentenkürzungen und sogar Beugehaft.
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