"Sonst hat NATO keinen Sinn" – Russischer Politiker erklärt, warum Moskau die "Hauptbedrohung" ist
Das langjährige Mitglied des Obersten Rates, Alexei Puschkow, gilt als einer der bekanntesten Politanalysten in Russland. Als Interpret der russischen Politik wird Puschkow oft auch ins Ausland eingeladen, um dort auf Foren und Konferenzen an Streitgesprächen teilzunehmen.
In einem großen Fernsehinterview nahm er nun Bezug auf die aktuellen Äußerungen des ehemaligen deutschen Verteidigungs- und Innenministers Thomas de Maizière. Als Spitze einer Expertengruppe, die Reformpläne für die NATO ausarbeitet, nannte er Russland "die Hauptbedrohung" für das Verteidigungsbündnis.
Dies sei absurd, sagte Puschkow. Seit dem Jahr 1999 habe die NATO 13 neue Mitglieder aufgenommen und sich damit den russischen Grenzen unmittelbar angenähert. "Russland wird näher und damit 'bedrohlicher'. Das ist eine verquere Logik", sagte Puschkow. An diese Logik zu glauben sei zu einem Dogma geworden, das nicht hinterfragt werden darf.
Dabei wies er auf den expansionistischen Charakter des Bündnisses hin. Es habe für die NATO-Aufnahme in den Bewerberstaaten aktiv geworben. In der Slowakei ließ die NATO das Referendum über die NATO-Mitgliedschaft so oft stattfinden, bis das Ergebnis passte. Ähnliche Situation habe es in Montenegro gegeben.
"Die NATO hält am Dogma der russischen Bedrohung fest, weil sie sonst ihre Daseinsberechtigung verliert", sagte Puschkow.
NATO-Militäreinsätze hätten in den letzten Jahrzehnten zu negativen Folgen geführt. In Afghanistan sei die NATO militärisch gescheitert, in Libyen hätte sie zwar militärisch gewonnen, sei jedoch politisch gescheitert. Dass Libyen nun ein gescheiterer Staat sei, erkannten die Staats- und Regierungschefs derjenigen NATO-Staaten an, die den militärischen Einsatz in Libyen im Jahr 2011 unterstützten – Frankreich und Italien. Dabei wies der russische Politiker darauf hin, dass in beiden Fällen die NATO außerhalb seines Stammgebiets in Europa und im Nordatlantik agierte.
Die realen Herausforderungen heutiger Zeit liegen laut Puschkow nicht bei Russland. Dies seien COVID-19-Pandemie, Erderwärmung, Bekämpfung des Terrorismus und Migrationsströme. Bei der Lösung der realen Probleme Europas spiele das Bündnis keine Rolle.
"Deswegen denken sie sich russische Pseudobedrohungen aus und wiederholen diese von Jahr zu Jahr."
Dieses Problem ist im Bündnis selbst gut bekannt. Der NATO-Experte de Maizière hält den Nordatlantikpakt für stark reformbedürftig. Aus seiner Sicht habe der französische Präsident Emmanuel Macron im letzten Jahr eine fruchtbare Debatte in Gang gesetzt, als er sagte, die NATO sei "hirntot".
Die NATO brauche jetzt eine neue Strategie, um mit den sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts umgehen zu können, so de Maizière. Die jetzige NATO-Strategie stamme aus dem Jahr 2010. Dort werde Russland als strategischer Partner bezeichnet. China komme gar nicht vor.
"Deswegen empfehlen wir dringend, dass es eine aktualisierte NATO-Strategie geben soll. Gegen Russland empfehlen wir weiterhin die Doppelstrategie aus Abschreckung und Bedrohung", zitiert der BR den ehemaligen Verteidigungsminister. (Anm. d. Red.: De Maizière hat sich offenbar versprochen, denn die von der Politik viel bemühte NATO-Formel lautet: "Doppelstrategie aus Abschreckung und Dialog".)
Anfang Dezember stellte seine Arbeitsgruppe einen Bericht mit 138 Reformvorschlägen für die NATO vor.
Kein Raum mehr für Dialog
Alexei Puschkow will warten, bis die NATO sich "konstruktiv" zeigt. "Bis dahin macht auch der NATO-Russland-Rat keinen Sinn." Wie ein Dialog nach NATO-Vorstellungen funktionieren soll, habe laut Puschkow die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer vor wenigen Wochen gezeigt, als sie im Deutschen Bundestag dazu aufrief, mit Russland aus einer "Position der Stärke" heraus zu sprechen. Es sei aber die "Summe der Ultimaten".
"Die 'Stärke' macht den Dialog kaputt. Dialog findet dann statt, wenn die Seiten einander zuhören. In der NATO will man Russland nicht zuhören und wir sind müde, uns diese absurden Sachen anzuhören. Solange sich die NATO so feindselig verhält, brauchen wir keinen solchen 'Dialog'", sagte Puschkow.
Ähnlich argumentierte auch der russische Präsident Wladimir Putin bei seiner letzten mehrstündigen Pressekonferenz am Donnerstag, als ihn ein BBC-Korrespondent fragte, ob Russland seinen Anteil an der Verschlechterung der Beziehungen mit dem Westen hat – erwähnt wurden USA, Großbritannien und die NATO.
Putin wies darauf hin, dass die NATO-Infrastruktur den russischen Grenzen immer näher rücke. Außerdem seien die USA aus dem ABM-Vertrag und dem INF-Vertrag ausgestiegen. Putin thematisierte auch die einseitige Aufkündigung des Open-Skies-Abkommens durch die US-Regierung.
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