Sicherheitspolitischer Appell: Für Entspannung mit Moskau und Warnung vor Kriegsgefahr
Fast 30 deutsche – überwiegend ehemalige – Diplomaten und Generäle, hohe Offiziere, aber auch Professoren, Wissenschaftler und Friedensforscher haben am 5. Dezember 2021 einen dringlichen Appell veröffentlicht, der dazu aufruft, die gefährliche Eskalationspolitik gegenüber Moskau zu beenden und einen "Neuanfang im Verhältnis zu Russland" zu suchen.
Zu den Unterzeichnern zählen unter anderem
- Botschafter a.D. Ulrich Brandenburg, Deutscher Botschafter bei der NATO und in Russland;
- Brigadegeneral a.D. Helmut Ganser, Abteilungsleiter Militärpolitik bei der deutschen NATO-Vertretung in Brüssel;
- Botschafter a.D. Hans-Dieter Heumann, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik;
- Botschafter a.D. Hellmut Hoffmann, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der Genfer Abrüstungskonferenz;
- Botschafter a.D. Heiner Horsten, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der OSZE in Wien;
- Brigadegeneral a.D. Hans Hübner, Kommandeur des Zentrums für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr;
- General a.D. Klaus Naumann, Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses;
- Botschafter a.D. Dr. Johannes Seidt, Chefinspekteur des Auswärtigen Amts;
- Brigadegeneral a.D. Reiner Schwalb, Verteidigungsattaché an der Deutschen Botschaft Moskau;
- Brigadegeneral a.D. Armin Staigis, Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik.
Konfrontation und Kriegsgefahr in Europa
In einer Phase der Ungewissheit und des politischen Übergangs in Berlin sowie großer außen- und sicherheitspolitischer Spannungen nicht nur in Europa äußern die früheren Spitzenbeamten und -militärs ihre deutliche Besorgnis vor einer drohenden militärischen Konfrontation mit Russland. In ihrem durchaus dramatisch zu nennenden Aufruf schreiben die erfahrenen Sicherheitsexperten:
"Mit allergrößter Sorge beobachten wir die sich abermals verstärkende Eskalation im Verhältnis zu Russland. Wir drohen in eine Lage zu geraten, in der ein Krieg in den Bereich des Möglichen rückt. Von dieser Lage kann niemand profitieren, und dies liegt weder in unserem noch im russischen Interesse. Es gilt deshalb jetzt alles zu tun, um die Eskalationsspirale zu durchbrechen. Ziel muss es sein, Russland und auch die NATO wieder aus einem konfrontativen Kurs herauszuführen."
Dies ist insofern bemerkenswert, als es sich bei den Unterzeichnern überwiegend um hoch- und höchstrangige Vertreter des sicherheitspolitischen Establishments handelt.
Solche selbstkritischen Töne sind für die Angehörigen der westlichen diplomatischen und militärischen Funktionseliten alles andere als selbstverständlich – stehen sie doch in engster Verbindung zu den USA und der NATO und verdanken in jeder Hinsicht ihre Karriere und Stellung der transatlantischen Bindung der Bundesrepublik.
Westlich geprägte Konfliktwahrnehmung
So verwundert es nicht, dass die Autoren (vermeintliche) "Drohgebärden Russlands gegenüber der Ukraine" und (angebliches) Moskauer "Imponiergehabe gegenüber NATO-Staaten" rügen, doch nun sei von westlicher Seite "nüchterne Realpolitik gefragt", nicht jedoch "Empörung und formelhafte Verurteilungen". Selbstkritisch an die westliche Adresse gerichtet stellen die Sicherheitsexperten fest:
"Eine einseitig auf Konfrontation und Abschreckung setzende Politik ist nicht erfolgreich; wirtschaftlicher Druck und die Verschärfung von Sanktionen haben – dies zeigt die Erfahrung der vergangenen Jahre – Russland nicht zur Umkehr bewegen können. Vielmehr sieht sich Russland aufgrund der westlichen Politik herausgefordert und sucht durch aggressives Auftreten die Anerkennung als Großmacht auf Augenhöhe mit den USA sowie die Wahrung seines Einflussbereiches im postsowjetischen Raum."
Kritisch sieht man die US-Drohung, Russland aus dem internationalen SWIFT-Zahlungssystem auszuschließen, und befürchtet eine "Destabilisierung der Sicherheitslage besonders in Europa".
Trotz der grundsätzlich russlandkritischen Grundhaltung plädieren die Autoren dafür, dass die NATO "aktiv auf Russland zugehen" solle und "auf eine Deeskalation der Situation hinwirken" müsse. Man betrachtet die Lage als so angespannt, dass "auch ein Treffen ohne Vorbedingungen auf höchster Ebene nicht ausgeschlossen werden" solle.
"Vierfacher politischer Ansatz"
Im Grundsatz stellen die Ex-Diplomaten, -Militärs und sicherheitspolitischen Experten ein Vier-Punkte-Programm auf und fordern eine Art Neuauflage der "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa", die zur sogenannten Helsinki-Schlussakte 1975 und dem Abbau von Spannungen zwischen den Militärblöcken in den siebziger Jahren geführt hatte.
Solange diese neue europäische Sicherheitskonferenz tagen würde – "dafür wäre realistischerweise ein Zeitraum von mindestens zwei Jahren anzusetzen" –, solle "auf jede militärische Eskalation auf beiden Seiten verzichtet werden". Ebenso solle die "Stationierung von zusätzlichen Truppen und die Errichtung von Infrastruktur auf beiden Seiten" ausgeschlossen werden.
Ebenso solle der NATO-Russland-Dialog "auf politischer und militärischer Ebene ohne Konditionen wiederbelebt" werden. Neben einem "Neuansatz für die europäische Rüstungskontrolle" müssten "Maßnahmen zur Schaffung von mehr Transparenz, zur Förderung von Vertrauen durch Verstärkung von Kontakten auf politischen und militärischen Ebenen sowie zur Stabilisierung regionaler Konfliktsituationen" vereinbart werden.
Schließlich plädieren die Unterzeichner dafür, über "weitergehende ökonomische Kooperationsangebote" an Moskau nachzudenken. Der sinkende Export fossiler Energieträger berge die "Gefahr wachsender wirtschaftlicher Risiken für Russland, die wiederum politische Instabilitäten bedingen könnten". Im Gegensatz dazu könne die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen West und Ost einen "wichtigen Beitrag zu europäischer Stabilität leisten". Die Autoren meinen, dass darin ein "Anreiz für Russland zur Rückkehr zu einer kooperativen Politik gegenüber dem Westen" liegen könne – und unterstellen damit Moskau eine entgegengesetzte Haltung für die Gegenwart.
Bemerkenswerter Perspektivenwechsel
Nach über einem Jahrzehnt konfrontativer Russlandpolitik seitens der NATO-Staaten ist die andere Tonlage des Appells eine kleine Sensation. Die Autoren bewegt offenkundig die brennende Sorge, dass es tatsächlich zu einem heißen Krieg in Europa kommen könnte. Die als gefährlich erkannte Lage hat zumindest unter den "Ehemaligen" zu Ernüchterung und neuem Realismus geführt. Zwar heißt es in westlich geprägter Marketing-Sprache:
"Es müssen mithin win-win-Situationen geschaffen werden, die die derzeitige Blockade überwinden. Dazu gehört die Anerkennung der Sicherheitsinteressen beider Seiten."
Doch die ausdrückliche Anerkennung der berechtigten Moskauer Sicherheitsinteressen war bis vor kurzem so deutlich nicht von hochrangiger westlicher Seite zu vernehmen. Auch die Entscheidung über die Mitgliedschaft in NATO, EU und dem östlichen Gegenstück OVKS solle für die Dauer der neuen Sicherheitskonferenz auf Eis gelegt werden. Der Schluss des Aufrufs gibt der neuen Berliner Regierung eine Mahnung auf den Weg, trotz aller transatlantischen Bindungen dringend auf eine Entspannung des Verhältnisses mit Moskau hinzuarbeiten und die Ukraine-Krise ausschließlich mit diplomatischen Mitteln zu lösen:
"Das mag für viele nicht einfach sein und auch nicht der reinen Lehre entsprechen. Aber jede Alternative ist deutlich schlechter. Deutschland kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Deutschland sollte alles unterlassen, was seine feste Verankerung im transatlantischen Verbund schwächen könnte, sollte auf De-Eskalation hinwirken und auf Vereinbarungen dringen, die den Einsatz militärischer Mittel in Europa jenseits der Bündnisverteidigung ausschließen. Dies sollte nicht als Einladung an Russland zur Veränderung des territorialen Status quo in Europa missverstanden werden, aber es gibt für die Ukraine-Krise keine militärische Lösung, die nicht zu einer unkontrollierbaren Eskalation führt."
Angesichts der in den letzten Tagen erneut gestiegenen Spannungen – als Beispiele mögen die Manöver eines ukrainischen Marineschiffs im Asowschen Meer oder die Drohungen der neuen Chefin im Auswärtigen Amt an die Adresse Moskaus genügen – erhält der Appell der deutschen Ex-Diplomaten und -Generäle eine eindringliche, ja beinahe beklemmende Aktualität. Bleibt zu hoffen, dass in Berlin noch genügend nüchterne Realisten in den betreffenden Ministerien und sicherheitspolitischen Apparaten sitzen.
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