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Multipolare Welt: Warum die aktuelle Krise Indien und Russland noch näher zusammenbringt

In der Außenpolitik mag es keine "ewigen Freundschaften" geben. Länder wie Russland und Indien können ihre Kräfte dennoch bündeln. Aktuell gewinnen Wirtschaftsbeziehungen an Bedeutung. Nationen weltweit müssen ihre Interessen im wirtschaftlichen Bereich neu entdecken.
Multipolare Welt: Warum die aktuelle Krise Indien und Russland noch näher zusammenbringtQuelle: www.globallookpress.com © Hindustan Times / www.imago-images.de

Eine Analyse von Ivan Schtschedrow

Die Krise rund um die Ukraine hat einen dramatischen Wandel in der Struktur der internationalen Beziehungen offengelegt. Dies manifestiert sich in der Beschleunigung der Ausrichtung Russlands nach Asien und in der Divergenz der Interessen zwischen den Großmächten. Diese Zerrüttung ist ein Symptom eines grundlegenderen Prozesses: Dem entstandenen Riss im gegenseitigen Verständnis. Ein Phänomen, das sich nicht erst im laufenden Jahr zu entwickeln begann.

Obwohl wir das Datum seines Beginns aufgrund seiner verschwommenen und flüchtigen Natur kaum bestimmen können, sind die Symptome unübersehbar. Sanktionspolitik, Handelskriege, Kontroversen um die COVID-19-Pandemie, Protektionismus, die nuklearen Ambitionen Irans und Nordkoreas sowie der Abzug der USA aus Afghanistan sind nur einige Beispiele für eine Welt in Aufruhr.

Die aktuelle Krise hat die wachsende Kluft und das wachsende Missverständnis nur noch vertieft. Diese neue Umgebung erfordert eine gewisse Selbstreflexion und eine Neubewertung der Werte und Prinzipien der Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen. So scheint es zumindest aus Moskau heraus betrachtet. Die Tatsache, dass ähnliche Signale auch in anderen Teilen der Welt sichtbar sind, deutet jedoch darauf hin, dass die Fragen einer Neukonfiguration äusserst relevant sind, wie dies von Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar am Rande des Raisina-Dialogs gut reflektiert wurde.

Während er der Kritik an Indiens Haltung zur Ukraine entgegentrat, betonte er, dass die aktuelle Krise ein "Weckruf" für Europa sein könnte, sich auch mit jenen Dingen zu befassen, die seit zehn Jahren in Asien geschehen. Darin spiegelt sich ein Zustand des Schlafwandelns wider, der von einer Vernachlässigung der Krisen in Asien und der Ignoranz gegenüber den nationalen Interessen des Südens gekennzeichnet ist. Zum Beispiel zeigt sich jetzt, dass die Position der westlichen Länder gegenüber Indien darauf hinausläuft, dass "ihr entweder für uns oder gegen uns seid".

Eine solche Haltung scheint besonders unbegründet, wenn man bedenkt, dass in den ersten zwei Monaten der Ukrainekrise mehr als 70 Prozent der russischen Exporte fossiler Brennstoffe auf die EU-Länder entfielen und der Anteil der US-Importe jene von Indien übertraf. Darüber hinaus scheint die westliche Haltung einen Mangel an Verständnis für die Rolle Indiens auf der internationalen Bühne sowie für die Entwicklungsgeschichte des Landes zu zeigen.

Seit der Erlangung der Unabhängigkeit basiert die politische Kultur Indiens auf drei Säulen: Dem Streben nach einem größeren politischen und wirtschaftlichen Status, dem Neutralitätsprinzip und dem Versuch, seine moralische Haltung als Stimme in der postkolonialen Welt zu erheben und – wenn möglich – auszubauen. Diese ausgewogene politische Haltung wurde von Indiens erstem Ministerpräsident Jawaharlal Nehru bereits vor der Unabhängigkeit seines Landes deutlich vorgezeichnet, bis schließlich die Makroziele dieser Außenpolitik zu einem Prinzip des nationalen Konsens wurden.

Auf internationaler Ebene wurde diese Haltung in der Bewegung der Blockfreien Staaten institutionalisiert und nach dem Zusammenbruch des bipolaren Systems in eine "Mehrfachorientierung" modifiziert. Tatsächlich zeigte Indiens Politik hin und wieder eine gewisse Konvergenz sowohl mit den USA als auch mit der UdSSR, bemühte sich jedoch, die Positionen beider Länder auszugleichen. Trotz konzeptioneller Angleichungen blieb das Wesen seiner Außenpolitik aber erhalten. Indien verfolgt eine ausgewogene Position und vertritt ausdrücklich die Interessen der Entwicklungsländer. Im Allgemeinen sicherte diese Politik damals die funktionalen, koexistenziellen und existenziellen nationalen Interessen des Landes.

Kern des funktionalen Aspekts ist ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum, das zunächst auf den Binnenmarkt ausgerichtet war. Ende des vergangenen Jahrhunderts fügten Reformen zur Liberalisierung diesem Element eine externe Dimension hinzu. Trotz einiger sozioökonomischer Hindernisse sind die Ergebnisse vorerst offensichtlich. Indien hat sich zu einer der großen Wirtschaftsmächte entwickelt.

Das Entwicklungsmuster kann als Wechselspiel zwischen den Grundsätzen und Interessen der nationalen Politik Indiens beschrieben werden. Für viele in Indien wurde die amerikanische Politik als schädlich für die drei oben genannten Dimensionen angesehen. Der chaotische Rückzug aus Afghanistan und eine schwer vorhersehbare Sanktionspolitik gegenüber Iran durch zwei aufeinanderfolgende US-Regierungen sind deutliche Beispiele dafür. Trotz der Tatsache, dass Indien und die USA versuchten, ihre Positionen zum iranischen Hafen von Tschahbahar und zu den Ölimporten zu kalibrieren, fügten die auferlegten Sanktionen einen Unsicherheitsfaktor hinzu, der die wirtschaftliche und konnektive Zusammenarbeit behinderte sowie die Energiesicherheit beeinträchtigte, die für die indische Wirtschaft von großer Bedeutung sind.

Da durch die aktuelle Krise keine Signale der Verständigung ausgesendet werden, bleibt als einziger Weg für eine Neubewertung der Werte, neue und zielgerichtete Wege und Quellen der Zusammenarbeit zu finden. Dies würde auch für Russland gelten, das sich im Rahmen seiner wirtschaftlichen Interaktionen in Richtung Asien orientiert. Moskau kann sich auch auf Indien zubewegen, dem sich dadurch politische und wirtschaftliche Vorteile eröffnen können, indem das Land als Vermittler zwischen anderen Ländern auftritt und in einer wachsenden Rolle als Wirtschaftszentrum aus lukrativeren Geschäften finanziellen Profit ziehen kann.

Einer der Schlüsselbereiche der bewährten Zusammenarbeit zwischen Russland und Indien ist der militärische Sektor, der die Veränderungen des Zeitgeschehens überdauert hat. Beispielsweise waren Indiens Militärimporte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Rettungsleine für den militärisch-industriellen Sektor Russlands. Aber angesichts der Tatsache, dass der gesamte Warenumsatz etwa 12 Milliarden US-Dollar beträgt und nur 1,3 Prozent des gesamten Handels ausmacht, gibt es hier noch Raum für eine Steigerung.

Der landwirtschaftliche Sektor 

Trotz der geringen Abhängigkeit von Agrarimporten, die aufgrund wachsender heimischer Produktion zurückgeht, spielt Russland traditionell eine wichtige Rolle beim Zugang Indiens zu Speiseöl und Düngemitteln. Gleichzeitig versteht die Russische Föderation, dass Indien im Zuge der aktuellen Krise eine stärker exportorientierte Position einnimmt. Dies führt nicht zwangsläufig zu einem Interessenkonflikt.

Zunächst einmal ist Indien trotz ziemlich großer Getreidereserven nicht immun gegen Klimaanomalien, insbesondere nicht gegen Hitzewellen, Wirbelstürme und Überschwemmungen. Zweitens wird der Binnenkonsum mittelfristig den Bedarf an Getreide, Öl und – angesichts der starken Zunahme der Viehbestände – an Viehfutter und anderen Produkten sicherstellen. Günstigere Transaktionen machen dieses Kooperationsfeld zudem noch attraktiver. Drittens kann die für beide Seiten vorteilhafte Partnerschaft auf andere Länder ausgeweitet werden, in denen ein großer Bedarf besteht, die Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Im Fall von Bangladesch könnte es beispielsweise dazu beitragen, gelegentliche Spannungen mit Indien in der Frage der Migration zu "mildern".

Kooperation im Energiesektor

Indien verfolgt derzeit Initiativen zur Energiewende, die darauf abzielen, den Anteil erneuerbarer Energien zu erhöhen. Ein Schlüsselaspekt dabei ist das Engagement der Regierung, die Energiesicherheit des Landes zu gewährleisten, während die Rolle konventioneller Energiequellen nicht stark zurückgehen wird. Russland kann dabei ein Partner bei Kohle-, Gas- und Öllieferungen werden. Eine solche Zusammenarbeit würde externe Risiken vermeiden, die im vergangenen Jahr in bestimmten Staaten die Kohlekrise und Energieknappheit teilweise verursacht haben. Zudem würde sich eine Möglichkeit für Rabattgeschäfte eröffnen, die finanzielle Gewinne bringen würden.

Allein die Erhöhung der Kosten für ein Barrel Öl um einen US-Dollar würde dem indischen Staatshaushalt mehr als eine Milliarde US-Dollar entziehen. Deshalb hat Indien doppelt so viel Öl aus Russland bestellt wie 2021 und erhöht nun seinen Anteil am Sachalin-1-Projekt.

Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit im Energiesektor unter Berücksichtigung der reibungslosen Erhöhung der Gasanteile, die durch Initiativen wie "One Nation, One Gas Grid" (Eine Nation, ein Gasnetz) unterstützt wird, für beide Seiten von großem Vorteil.

Was oft unbeachtet bleibt, ist, dass Russland Indiens Initiative zur Energiewende unterstützen kann. Zum einen wird der Bau von Wasserkraftwerken in Uttarakhand, Arunachal-Pradesh, Himachal-Pradesh, Jammu und Kaschmir helfen, Energieknappheit zu überwinden. Zweitens haben sich gemeinsame Arbeiten auf dem Gebiet der Kernenergie nicht nur in Indien, sondern auch in anderen Ländern bewährt. So zum Beispiel beim Atomkraftwerk Rooppur. Die Relevanz multilateraler regionaler Energieprojekte wie jenes zwischen Nepal, Bhutan und Bangladesch wird in Zukunft zunehmen.

Projekte im Bereich der Konnektivität 

Viele bilaterale Projekte erfordern einen Ausbau der logistischen Infrastruktur. Lange Zeit verlief die Zusammenarbeit zwischen Indien und Russland im Bereich Konnektivität sehr zaghaft. Jetzt wurden sie ganz oben auf die Agenda gesetzt. Zunächst wird die Entwicklung der Verkehrskorridore von Norden nach Süden und die Achse Chennai-Wladiwostok ausgebaut, womit eine höhere Versorgungsstabilität gewährleistet wird. Russland intensiviert nun die Verhandlungen mit Iran, dem Land, das für viele Handelsgüter zu einem Drehkreuz werden kann. Dies wird nicht nur der infrastrukturellen Entwicklung der russischen Regionen zugutekommen und den bilateralen Handel steigern, sondern kann auch zu Indiens Tor nach Zentralasien werden, das als "erweiterte Nachbarschaft" betrachtet wird.

Indiens Handelsniveau liegt jedoch nicht nur weit unter den Indikatoren Russlands und Chinas. Es liegt auch weit unter dem Handelsniveau mit anderen Teilen der Nachbarschaft. Der bilaterale Handel mit dem Golfkooperationsrat (GCC) und dem Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) macht jeweils mehr als elf Prozent des gesamten Handels Indiens aus. Inzwischen liegt das Handelsniveau mit Zentralasien mehr als das Fünfzigfache niedriger.

Theoretisch wird dieses Projekt Indiens Position in der Region stärken und könnte es zu einem "Gegengewicht" zu Chinas aktiver Wirtschaftspolitik machen, die den zentralasiatischen Staaten weitgehend Anlass zur Sorge gibt. Wichtig ist auch, dass der Internationale Nord-Süd-Verkehrskorridor (INSTC) eine alternative Route zur Anbindung der Europäischen Union bilden kann, mit der Indien kürzlich ein Abkommen zur Partnerschaft bei der Konnektivität unterzeichnet hat und die ebenfalls stark von Waren aus China abhängig ist.

Mit der verstärkten Ausrichtung auf den Indopazifik gewinnt auch die Seetransportroute von Chennai nach Wladiwostok an Bedeutung, denn Indien betrachtet diesen konzeptionellen Rahmen nicht als einen Club für ausgewählte Teilnehmer. Das Land versucht lediglich zu verhindern, dass eine einzelne Macht die Region oder ihre Wasserstraßen dominiert. Somit besteht die Möglichkeit, Projekte bei der Konnektivität voranzutreiben, um den bilateralen Handel und die Rolle Indiens und Russlands in der Region zu stärken.

Wenn Indien zu einer Alternative in Zentralasien werden kann, dann kann gleichzeitig die zunehmende Rolle Russlands auch in Südostasien positiv wahrgenommen werden.

Tatsächlich ist das Kooperationspotenzial nicht auf die oben genannten Bereiche beschränkt und kann in Bereichen verwirklicht werden, die von der Schwerindustrie über die Infrastruktur für den Katastrophenschutz bis hin zu Smart-City-Initiativen reichen. Russlands Außenminister Sergei Lawrow hat gegenüber dem Magazin India Today Moskaus Position gut zum Ausdruck gebracht: "Mit unserer Kooperation mit Indien unterstützen wir das 'Make in India'-Konzept von Premierminister Narendra Modi. Wir haben damit begonnen, den einfachen Handel durch lokale Produktion zu ersetzen und die Produktion der von Indien benötigten Waren auf sein Territorium zu verlagern."

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in schwierigen Zeiten die Fähigkeit, gemeinsame Interessen zu finden und für beide Seiten vorteilhafte praxisorientierte Projekte zu entwickeln, besonders relevant ist. So wird Freundschaft unter Beweis gestellt.

Gleichzeitig versteht die russische Regierung, dass Indien seine eigenen nationalen Interessen verfolgen wird und "ewige Freundschaft" in der Außenpolitik nicht existiert. Während frühere Beziehungen zwischen Ländern nicht immer eine starke wirtschaftliche Grundlage hatten, ändert sich dies jetzt. Die strategische Partnerschaft zwischen der Sowjetunion und Indien entstand, weil die Länder versucht hatten, gemeinsame Interessen zu finden.

In der heutigen Zeit haben Wirtschaftsbeziehungen an Bedeutung gewonnen, weshalb die Länder gemeinsame Interessen im wirtschaftlichen Bereich wieder neu entdecken und besondere Kooperationsmodelle entwickeln müssen. Damit diese zu Markenzeichen einer Zusammenarbeit zwischen Russland und Indien werden, bedarf es auf beiden Seiten eines großen politischen Willens, der sich aus der Geschichte gegenseitiger Freundschaft und dem Prinzip gegenseitigen Respekts ergibt.

Übersetzt aus dem Englischen.

Ivan Schtschedrow ist Junior Forschungsstipendiat bei IMEMO RAS.

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