Welche Rolle hat die G20 in der gegenwärtigen Geopolitik?
Eine Analyse von Alexei Grjasew
Zu Themen, die für die Welt von entscheidender Bedeutung sind, wurden beim G20-Gipfeltreffen der Außenminister keine Durchbrüche erzielt. Dieses Treffen war eine weitere Generalprobe für den im November geplanten eigentlichen G20-Gipfel, der aufgrund des Konflikts zwischen Russland und dem Westen sowie der immer größer werdenden Spannungen zwischen den USA und China zum Scheitern verurteilt scheint. Russische Experten sind sich einig, dass diese Organisation, die der Welt nach 2008 noch bei der Überwindung der Finanzkrise geholfen hatte, aufgrund dieser Probleme nicht in der Lage sein wird, die aktuelle Energie- und Lebensmittelkatastrophe einzudämmen.
Wird die G20 im Kontext eines großen Konflikts zwischen ihren wichtigsten Teilnehmern überleben können? Wer leidet am meisten unter der Ineffizienz der Organisation, und welche Allianzen werden in der neuen Realität für die Behandlung globaler Probleme verantwortlich sein?
Die Moskau-Frage
Zum ersten Mal seit Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine trafen dort die Außenminister der G7-Staaten wieder persönlich mit dem russischen Außenminister Sergei Lawrow zusammen. Das Treffen fand in Indonesien auf der Insel Bali statt.
Aber es lief nicht gut.
Erstens weigerten sich die Teilnehmer zum ersten Mal in der Geschichte der G20-Treffen, gemeinsam für ein Foto zu posieren. Zweitens tauschten der russische Minister und seine westlichen Amtskollegen lediglich gegenseitige Vorwürfe aus: Westliche Minister warfen Russland vor, angeblich Getreidelieferungen zu blockieren, Lawrow warf dem Westen ein gefährliches Vorgehen gegen Russland vor.
"Wenn der Westen keine Gespräche will, aber wünscht, dass die Ukraine Russland auf dem Schlachtfeld besiegt – beides wurde geäußert – dann gibt es vielleicht nichts, worüber man mit dem Westen sprechen könnte. (...) Aggressoren, Eindringlinge, Besatzer. Wir haben heute schon von einigen solchen Dingen gehört",
sagte er über das Treffen.
Letztendlich verließ der russische Außenminister die Veranstaltung, noch bevor sie zu Ende war. Medienberichten zufolge verließ er den Saal just in dem Moment, als der ukrainische Außenminister Dmitri Kuleba per Videokonferenzschaltung zu sprechen begann – obwohl die Ukraine gar kein Mitglied der G20 ist. Der russische Minister fehlte dann folglich auch bei der Rede der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock.
Auch das vorangegangene G20-Treffen, das im April stattfand, war nicht produktiv. Die britische, amerikanische und kanadische Delegation verließen den Raum, als Anton Siluanow, Russlands Finanzminister, per Videoschaltung seine Rede begann, er war also nicht einmal physisch anwesend. Seine Botschaft konzentrierte sich ausgerechnet auf die Folgen explodierender Energiepreise und auf mögliche Lösungen für das Problem, das viele Länder betrifft, insbesondere auch die westlichen Staaten. Angesichts all dessen und der jüngsten Entwicklungen muss man sich fragen, ob der nächste G20-Gipfel im November irgendwelche Ergebnisse bringen kann.
Die größte Sorge scheint bisher die Liste der Teilnehmer zu sein. Der US-Präsident Joe Biden sagte im März, "Russland sollte aus der G20 entfernt werden". Im Juni berichtete der italienische Premierminister, er wisse aus verlässlicher Quelle, dass Indonesien Russland nicht am Gipfel teilnehmen lasse, was aber später von Jakarta und Moskau dementiert wurde. Der neue australische Premierminister Anthony Albanese sagte, er werde den russischen Präsidenten Wladimir Putin "mit der Verachtung behandeln, die er verdient", während sich Wladimir Selenskij als Außenstehender bereits überzeugt gab, dass "nicht viele Länder zum Gipfel kommen werden, wenn Russland unter den Teilnehmern ist".
Fairerweise waren auch mäßigende Stimmen zu hören. Bundeskanzler Olaf Scholz etwa meinte, der Konflikt mit Russland dürfe die G20 nicht lahmlegen, und es sei keine gute Idee, wenn die Mitgliedsstaaten den Gipfel wegen Putin boykottieren. Es ist allerdings noch unklar, ob Russland überhaupt eine Teilnahme plant. Es scheint, als wüsste der Kreml bereits, dass ein Konflikt unvermeidlich wird, und hat deshalb eine Entscheidung über das Format einer Anwesenheit von Putin noch nicht getroffen, falls er denn überhaupt teilnimmt.
Was ist vom Gipfel zu erwarten?
Russische Experten äußerten ihre Besorgnis darüber, dass angesichts all der Kontroversen die G20 nicht mehr wie in der Vergangenheit als effektive Organisation zur Lösung globaler Probleme und Herausforderungen dienen kann. Professor Sergei Lunew, der Geschichte am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) lehrt, sagte gegenüber RT DE, dass die G20 nunmehr "null Ergebnisse liefern" werde. Er glaubt, dass sich die Situation auch dann nicht ändern wird, wenn Russland und der Westen einen Weg aus dem aktuellen Konflikt finden, denn die Gründe für die Degradierung der G20 seien fundamentaler Natur.
"Wir sprechen von einer großen Transformation des globalen Systems, der wirtschaftlichen Aspekte und vor allem des Systems, in dem der Westen seine derzeitige Position verlieren wird. Die Spaltung der G20 ist durch die Zweifel am alten System definiert, in welchem die westlichen Länder alle Privilegien hatten und die Grundlage der Weltwirtschaft darstellten. Positive Effekte der G20 sind in diesem Zusammenhang kaum mehr möglich",
sagt Lunew.
Dmitri Suslow, stellvertretender Direktor der Abteilung für Weltwirtschaft und internationale Angelegenheiten der Higher School of Economics (HSE), sieht die Aussichten für die G20 noch optimistischer. Er glaubt, dass die Organisation in der Lage sein könne, einige der Themen auf der globalen Agenda des bevorstehenden Gipfels anzugehen, wenn auch wohl nicht die dringendsten Probleme.
"Die Möglichkeiten für eine konstruktive Partnerschaft sind jetzt sehr begrenzt. Ich denke, die G20 wird auf diesem Gipfel einige abschließende Dokumente verabschieden, die derzeit auf niedrigeren Ebenen vereinbart werden. Aber das Gesamtmaß an Entscheidungen, welche der Gipfel hervorbringt, wird im Vergleich zu den Vorjahren deutlich bescheidener ausfallen. Und sie werden wahrscheinlich allgemeiner und mehrdeutiger formuliert sein, um sozusagen symbolisch das Gute zu unterstützen und das Böse zu bekämpfen. Man sollte keine konkreten Lösungen erwarten – das ist in einer konfrontativen Atmosphäre fast unmöglich",
so der Experte.
Versuche, einen Ausweg aus der globalen Krise zu finden, werden jedoch sicherlich unternommen werden, da der drohenden Notlage, die sich bis jetzt noch gar nicht in ihrem vollen Ausmaß entfaltet hat, aber bereits in vielen Ländern der Welt zu spüren ist, nur begegnet werden kann, wenn die größten Volkswirtschaften der Welt ihre Anstrengungen gemeinsam bündeln.
Auf der diesjährigen Agenda stehen mindestens zwei Themen – die globale Nahrungsmittelkrise und die Energiekrise. Und auch die COVID-19-Pandemie ist immer noch da, wobei Europa derzeit mit einer neuen Infektionswelle konfrontiert ist. Ganz zu schweigen vom jüngsten Ausbruch der Affenpocken und dem Risiko anderer virulenter Krankheiten, von denen die Weltbevölkerung in Zukunft getroffen werden könnte.
Was hat der G20 geschadet?
Wenden wir uns zunächst der Geschichte des Gipfels zu und erinnern uns daran, dass sich die G20 im Jahr 1999 zum ersten Mal traf, als eine Reaktion auf die G8 zum Zwecke der Bewältigung der asiatischen Finanzkrise Ende der 1990er Jahre. "Damals haben die USA und der Rest der Welt erkannt, dass solche globalen Probleme nicht allein vom Westen effektiv angegangen werden können", erklärt Dmitri Suslow.
Da die asiatische Finanzkrise zum Zeitpunkt des G20-Gründungstreffens jedoch bereits abzuflauen begann, geriet diese neue Gruppe bald in Vergessenheit, nur regelmäßige Treffen der Finanzminister der Mitgliedsstaaten verhinderte, dass die G20 vollständig auseinanderfiel. Aber die nächste Finanzkrise von 2008 hauchte der G20 wieder neues Leben ein.
In weniger als einem Jahr hielten ihre Mitgliedsstaaten dann drei Gipfeltreffen ab, auf denen Dutzende von Entscheidungen zur Stützung des globalen Finanzsystems getroffen wurden. Und Fachleute sind sich einig über die herausragende Rolle der G20 bei der Lösung der globalen Finanzkrise von 2008.
Die G20 behielt ihren Status als weltweit wichtigstes Instrument für das Reagieren auf globale Krisen jedoch nur für weniger als zehn Jahre. Die Ereignisse von 2014 in der Ukraine war eine erste Warnung vor dem Verlust der Wirksamkeit der G20. "Die G20 wurde wesentlich weniger effizient, nachdem die Administration von Trump ihre Politik gegenüber China von freundlich zu offen konfrontativ geändert hatte", sagt Suslow.
"Ab 2018 wurde es für die G20-Mitgliedsstaaten aufgrund der US-amerikanisch-chinesischen Konfrontation immer schwieriger, eine gemeinsame Basis zu finden, da die USA und China – die beiden weltweit mächtigsten und einflussreichsten Länder mit dem größten Potenzial – das letzte Wort bei der Lösung von Problemen auf globaler Ebene haben. Wenn sich die beiden Hauptakteure streiten, ist es äußerst schwierig, eine Einigung zu erzielen, die zur Lösung globaler Probleme erforderlich ist",
meint der Experte.
Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, dass die G20 viel von ihrer Wirksamkeit eingebüßt hat. Der improvisierte Krisenstab erwies sich bei der Bewältigung der globalen Gesundheitskrise als im Wesentlichen nutzlos. Die USA waren vor allem damit beschäftigt, China die Schuld an der Pandemie zuzuweisen, und auch Peking wurde ziemlich feindselig.
"Bereits seit vier Jahren ist die G20 nicht mehr in der Lage, die dringend benötigte Koordinierung zwischen den wichtigsten Volkswirtschaften der Welt zu gewährleisten. Aber jetzt werden die Probleme noch schlimmer, viel schlimmer“,
prophezeit Suslow.
Könnten die G20 gerettet werden, wenn man Russland und China rausschmeißen würde?
Als eine ziemlich offensichtliche Lösung erscheint, wenn das Funktionieren der G20 durch den Konflikt des Westens mit Russland und China gestört wird, diese Blockade möglicherweise beheben zu können, indem man diese beiden Mächte einfach ausschließt und ohne sie zum normalen Geschäft zurückkehrt. Fachleute gehen jedoch davon aus, dass dies nicht passieren wird, da laut Professor Sergei Lunew weder Russland noch China kritische Meinungsverschiedenheiten mit vielen anderen Mitgliedern der G20 haben, wie etwa mit Argentinien, Brasilien, Indien, Indonesien, Mexiko, Saudi-Arabien, der Türkei, Südkorea und Südafrika.
Mehr noch, Lunew weist darauf hin, dass diese Nationen im Gegenteil "Russland in unterschiedlichem Maße unterstützen, wenn auch manchmal verdeckt – aus Angst, vom Westen mit Sanktionen belegt zu werden". Und fügt hinzu:
"Wir sprechen von einer Transformation der Weltordnung und der Weltwirtschaft, die der Grund dafür ist, dass der Westen seine Vormachtstellung überhaupt verloren hat. Es ist nur natürlich, dass andere Mächte an dieser Entwicklung sehr interessiert sind und deshalb Russland weiterhin unterstützen werden. Es ist ganz ausgeschlossen, dass all diese Mächte, einschließlich China, sich freuen würden, wenn Russland ganz allein mit dem Westen ringt".
Laut Dmitri Suslow gibt es einen weiteren Grund, warum die G20 gar nicht ohne Russland und China weitermachen kann, und der ist ziemlich einfach: der Mangel an Ressourcen. "Ohne China über Klimawandel, Nahrungsmittelversorgung, Energiequellen und Weltwirtschaft diskutieren zu wollen ist genauso sinnlos wie der Versuch, all das ohne die USA zu diskutieren oder Fragen über die globale Sicherheit oder die Energie- oder Lebensmittelversorgung ohne Russland zu diskutieren. Russlands Rolle ist in diesen Bereichen entscheidend", erklärt Suslow.
Wie werden also globale Bedrohungen nun gehandhabt?
Niemand zieht einen Vorteil aus einer schwächeren G20, da globale Bedrohungen nun einmal Grenzen überschreiten. Jeder auf dem Planeten ist von Dingen wie dem Klimawandel, einer globalen Pandemie oder einer globalen Rezession betroffen. So schlimm das alles auch ist, die Dinge können nur noch schlimmer werden, wenn die führenden Mächte der Welt nicht einer Meinung sind. Ein Beispiel: Die US-Regierung ist nun gezwungen, die lokale Ölförderung zu steigern und sogar stillgelegte Ölquellen zu reaktivieren, um die Energieknappheit der USA zu bewältigen – was genau das Gegenteil von dem ist, was Joe Biden während seines Wahlkampfes bezogen auf die Klimafront versprochen hatte.
Während die Experten unterschiedliche Ansichten darüber haben, wie die Welt ihrer Meinung nach die globalen Herausforderungen in Zukunft angehen wird, scheinen sie sich alle in einer Sache einig zu sein, nämlich dass es in unmittelbarer Zukunft zwei große Machtzentren auf der globalen Bühne geben wird, und die werden ihre eigenen, unterschiedlichen Regelwerke erlassen.
"Nichtwestliche Allianzen werden an Dynamik gewinnen. Ein Beispiel sind die BRICS-Staaten, die kürzlich Beitrittsanträge von Iran und Argentinien erhalten haben. Sollten andere nichtwestliche Mächte, die Mitglieder der G20 sind, ebenfalls beschließen beizutreten, wird die Welt am Ende im Wesentlichen zwei Clubs haben: einen, der auf die G7 reduziert ist und die Interessen des Westens vertritt, und BRICS, der die Interessen aller anderen vertritt ",
glaubt Lunew.
Während Suslow dem zustimmt, ist er auch davon überzeugt, dass die Existenz der G20 nicht wirklich bedroht ist, nämlich in Ermangelung einer anderen globalen Organisation, die behaupten kann, 85 Prozent der Weltwirtschaft zu repräsentieren.
"Es stimmt, dass die G20 weniger effizient wird. Es wird im Wesentlichen eine bipolare Organisation werden, deren zwei Pole jeweils von den Mächten der G7 und von BRICS definiert werden. Beide verfolgen ihre eigene Agenda sowie eine globale Agenda. Letzteres werden sie aus ihrer jeweiligen Perspektive angehen.
Die G20 selbst wird versuchen müssen, diese beiden Wege koordiniert zu beschreiten, aber wie gut sie das hinbekommt, bleibt abzuwarten",
schlussfolgert Lunew.
Übersetzt aus dem Englischen
Alexei Grjasew ist ein russischer Journalist mit den Schwerpunkten Politik, Philosophie und militärische Auseinandersetzungen.
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