Fünf Schachzüge, mit denen die USA ihre Hegemonie über die EU erfolgreich verteidigen konnten
Von Andrew Korybko
Die erfolgreiche Rückeroberung der zuvor schwindenden unipolaren Hegemonie der USA über die EU war eine der wichtigsten Entwicklungen des Jahres 2022. Die Objektivität dieser Einschätzung wird durch den Generaldirektor des renommierten russischen Rates für internationale Angelegenheiten, Andrei Kortunow, belegt. Er beschrieb diesen Trend ausführlich in seinem Bericht über "Die neue westliche Kohäsion und Weltordnung", den er Ende September veröffentlichte. Der Bericht ist für all jene lesenswert, die Kortunows Gedankengänge noch nicht kennen.
Die vorliegende Analyse wird die Erkenntnisse dieses geschätzten Experten nicht erneut aufwärmen, sondern mit Blick auf die Geostrategie darauf aufbauen. Der übergreifende Trend, für dessen eingehende Untersuchung Kortunow viel Zeit verwandte, birgt einige zusätzliche Facetten, die er in seinem Bericht entweder beschönigt oder gänzlich übersehen hat. Die vorliegende Analyse wird daher darauf abzielen, diese Lücken zu füllen, während ich demütig anerkenne, dass auch meine Abhandlung alles andere als umfassend ist und zugegebenermaßen einige Details übersieht.
Im Folgenden sind die fünf Schachzüge aufgeführt, mit denen die USA ihre Hegemonie über Europa im Jahr 2022 erfolgreich verteidigen konnten. Diese Faktoren haben sich im vergangenen Jahr auf die russische Großstrategie transformierend ausgewirkt. Denn sie zwangen den Kreml, sich entschieden gegen den US-geführten kollektiven Westen zu stellen, nachdem die russische Führung diese Schachzüge erkannt hatte. Eine potenzielle Annäherung an diesen Block des Neuen Kalten Krieges war fortan unmöglich, selbst wenn man zu diesem Zweck einige pragmatische Kompromisse eingegangen wäre. Und so haben die USA dieses Endergebnis 2022 unvermeidlich gemacht:
1. Einflussnetzwerke und sogenannte "Werte" wurden benutzt, um die EU von Russland abzukoppeln
Die US-amerikanischen Geheimdienste nutzten ihre tief reichenden Verbindungen bei Einflussnetzwerken auf dem gesamten europäischen Kontinent, um die EU dazu zu bringen, einseitig ihre objektiven und nationalen – und insbesondere ihre wirtschaftlichen – Interessen gegenüber Russland aufzugeben. Dabei nutzten sie auch nebulöse Interpretationen der sogenannten "westlichen Werte", um Russlands militärische Sonderoperation nicht als eine militärische Operation zur Verteidigung der roten Linien in den nationalen Sicherheitsinteressen Russlands darzustellen, sondern als eine angebliche existenzielle Bedrohung für den kollektiven Westen und seiner "Werte".
2. Der liberale Totalitarismus wurde als Selbstverteidigung gegen Russland neu definiert
Seit dem Ende des ersten Kalten Krieges hat sich die totalitäre Neigung, die der liberal-globalistischen Ideologie innewohnt, in der gesamten EU ausgebreitet. Dieser Totalitarismus wurde von den USA neu definiert, um die Abkopplung der Europäischen Union von Russland unumkehrbar zu machen. US-amerikanische Wahrnehmungsmanager provozierten dabei die faschistischsten Manifestationen des Liberalismus, zum Beispiel die zügellose Russophobie. Schließlich kamen ebendiese Manifestationen unter dem falschen Vorwand an die Oberfläche, dass "westliche Werte" gegen die sogenannte "russische Subversion" verteidigt werden müssten. Und dies wiederum führte zu unüberbrückbaren Differenzen zwischen der EU und Russland.
3. Die Sicht auf den Zweiten Weltkrieg wurde manipuliert, um die Vasallenschaft der EU zu zementieren
Mithilfe der beiden erstgenannten Schachzüge wurde die EU dazu gebracht, Russland als eine seit dem Zweiten Weltkrieg nie dagewesene existenzielle Bedrohung zu betrachten. Anschließend ließ die Europäische Union sich leicht dazu bewegen, ihre Souveränität an die USA abzugeben. Auf der falschen Grundlage, dass dies einen "neuen Hitler" verhindern würde, von dem Europa – im Anschluss an die Ukraine – überrollt würde. Den USA die Kontrolle über die eigene Verteidigungspolitik zu überlassen, bedeutet, dass die Europäer auf unbestimmte Zeit Opfer bei den "Kriegsanstrengungen" aufbringen müssen. Was wiederum in der Praxis dazu führen dürfte, dass sie ihre Volkswirtschaften ebenfalls den USA unterordnen.
4. Der von den USA geförderte "freundschaftliche Wettbewerb" zwischen den EU-Ländern erhält die Spaltung der Union aufrecht
Der in der EU bereits existierende Trend zur Zentralisierung wurde angesichts der präsentierten "russischen Bedrohung" beispiellos beschleunigt. Aber die USA provozierten als Teil der "gemeinsamen Kriegsanstrengungen" geschickt einen "freundschaftlichen Wettbewerb" unter ihren Vasallen, um sicherzustellen, dass sie gespalten bleiben und sich niemals gegen die USA verbünden. Dies führte dazu, dass eine Rivalität zwischen Deutschland und Polen um die Führung in Mittel- und Osteuropa entstand, die voraussichtlich auf unbestimmte Zeit vom britischen Juniorpartner der USA im Sinne des Teilens und Herrschens weiterhin geschürt werden dürfte.
5. Afrikas künstlich herbeigeführte Nahrungsmittel- und Treibstoffkrise wird als Damoklesschwert eingesetzt
Die antirussischen Sanktionen des Westens verursachten eine künstlich herbeigeführte Nahrungsmittel- und Treibstoffkrise in Afrika, die sonst nie eingetreten wäre, aber von den USA als Damoklesschwert über ihre EU-Vasallen gehängt wurde. Im schlimmsten Fall, sollte die EU jemals ernsthaft rebellieren, werden die USA diese systemische Krise verschärfen, um beispiellose politische Unruhen in Afrika zu provozieren, die dann unweigerlich zu einer lähmenden Welle unkontrollierbarer Migration in die EU führen werden.
Die fünf oben genannten Schachzüge der USA untermauern die Schlussfolgerung von Andrei Kortunow, dass die Vereinigten Staaten im Jahr 2022 tatsächlich erfolgreich ihre zuvor abnehmende unipolare Hegemonie über Europa verteidigen konnten. Und dies stellt einen der weltweit bedeutendsten Trends des Jahres 2022 dar. Die ersten drei Schachzüge wurden im Rahmen einer antirussischen Informationskampagne seitens der US-Geheimdienste getätigt, in deren Folge verfälschte Wahrnehmungen in die Köpfe der europäischen Elite eingetrichtert wurden.
Aufbauend auf diesen Maßnahmen erfolgten dann zwei weitere Schachzüge, um Europa in einem cleveren Spiel des Teilens und Herrschens neu zu gestalten. Gleichzeitig wird die Alte Welt von einem Damoklesschwert sich ausweitender Krisen in Afrika bedroht, die unweigerlich als Strafe für die Vasallen der USA nach Europa übergreifen würden, sollten die EU-Länder es jemals wagen, ernsthaft zu rebellieren. Letzteres wird jedoch wahrscheinlich nicht notwendig sein. Denn die frühere "Arbeitsteilung", die durch die Manipulation der Denkweise der Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg durch die USA vorangetrieben wurde, hat sich als ausreichend erwiesen, um die Alte Welt unter Kontrolle zu halten.
Mit Blick auf die Zukunft wird erwartet, dass die USA ihre wiederhergestellte Hegemonie über die EU ausnutzen werden, um sich in ihren laufenden Gesprächen über eine neue Entspannung einen Vorteil gegenüber China zu verschaffen. Sie werden damit drohen, ähnlich drastische Sanktionen gegen die Volksrepublik China zu verhängen wie gegen Russland. Und dies auf einer ebenso manipulativen, von "Werten" getriebenen Grundlage, sollte China seine Sicherheitsinteressen im asiatisch-pazifischen Raum nicht aufgeben. Dieses Szenario sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden, vor allem weil die USA die EU bereits dazu bringen konnten, ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen gegenüber Russland zu opfern.
Aus dem Englischen.
Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien spezialisiert hat sowie auf Chinas Belt & Road-Initiative, Russlands geopolitischem Balanceakt und hybrider Kriegsführung.
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