Was die Entscheidungsschlacht bei Soledar und Artjomowsk für den Westen bedeutet
Eine Analyse von Rainer Rupp
Trotz der alarmierenden Nachrichten über die bevorstehende Niederlage der ukrainischen Truppen in den seit acht Jahren mithilfe der USA und des restlichen Westens ausgebauten Donbass-Festungen Artjomowsk und Soledar hat der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij letzten Sonntag in einer realitätsfernen Rede an die ukrainische Volksgemeinschaft Zuversicht verkündet:
"Die Schlacht um den Donbass geht weiter. Und obwohl die Okkupanten ihre Kräfte jetzt auf Soledar konzentriert haben, wird doch das Ergebnis dieser schweren und langen Schlacht die Befreiung unseres gesamten Donbass sein. (…) Danke an alle Kämpfer in Soledar, die immer neue und immer härtere Angriffe der Okkupanten aushalten! Das ist sehr schwer – dort steht fast kein Stein mehr auf dem anderen. (…) Dank der Standhaftigkeit unserer Krieger dort, in Soledar, haben wir für die Ukraine zusätzliche Zeit und Kräfte gewonnen."
Selenskijs surreale Ansprache, die von Rundfunk und Fernsehen übertragen wurde, konnte jedoch nur dort empfangen werden, wo es noch Elektrizität gab, was vermuten lässt, dass seine Durchhalteparolen hauptsächlich an Anhänger seines antirussischen Regimes gerichtet waren, die sich in den vorerst noch sicheren Gebieten in der Westukraine oder im nahen Polen in Sicherheit gebracht haben.
Dennoch kommt man nicht umhin, Selenskijs Kiewer Propaganda-Clique eine gewisse Bewunderung zu zollen. Wenn es um die Kunst geht, eigene Niederlagen hübsch zu servieren und gar in Siege zu verwandeln, sind sie unschlagbar. Wie durch einen Zauberstab verwandelte sich denn auch in Selenskijs Rede der Ort Soledar, der bisher stets als "uneinnehmbare Festung" und als besonders wichtiges Kernstück der ukrainischen Verteidigungslinie gepriesen worden war, in ein "nicht besonders wichtiges Objekt", dessen Hauptaufgabe es war, der Ukraine "Zeit zu verschaffen".
Soledar und die benachbarte Stadt Artjomowsk (ukrainisch Bachmut) befinden sich grob gerechnet in der Mitte der quer durch den Donbass von Nordost nach Südwest verlaufenden ukrainischen Verteidigungsline, die während der letzten acht Jahre vom Westen ausgebaut worden war. Die aktuelle Front verläuft zu einem großen Teil entlang dieser Linie, die einerseits aus einem Labyrinth von ineinandergreifenden befestigten Grabensystemen und unterirdischen Anlagen besteht und andererseits aus zwei weiteren, in die Tiefe nach hinten gestaffelten, ähnlich stark befestigten Linien, auf die sich die Verteidiger nach dem Fall der jeweils vorderen Linie zurückziehen können.
In der aktuellen Phase des Ukraine-Krieges sind Soledar und Artjomowsk deshalb von solch hoher strategischer Bedeutung, weil durch ihren Fall die ukrainischen Verteidigungslinien in Richtung Nord und Süd von hinten aufgerollt werden könnten. Weil Soledar und Artjomowsk wegen einiger besonderer Bedingungen als uneinnehmbar gegolten hatten, waren sie als Schlüsselstein der ukrainischen Verteidigungslinie gewählt worden. Tatsächlich können sie einander mit ihrer militärischen Feuerkraft teils über unterirdische Verbindungen und teils über tiefe Rinnen in der Landschaft logistisch unterstützen, wobei auch die Versorgungswege aus dem Hinterland als besonders sicher galten.
Jewgeni Prigoschin, dessen "Wagner"-Truppen vor allem in Artjomowsk eingesetzt sind und auf deren Konto die schrittweise, aber unaufhaltsame Verdrängung der ukrainischen Verteidiger geht, hatte vor einigen Tagen folgende anschauliche Beschreibung der geographischen Besonderheiten von Artjomowsk aus militärischer Sicht gegeben:
"Artjomowsk ist der zentrale Stützpunkt an der Ostfront und ein wichtiges Logistikzentrum. … Die wesentliche Besonderheit von Artjomowsk sind seine einzigartigen historischen und geografischen Verteidigungsmöglichkeiten. Dazu gehört zum einen die Aufteilung der Stadt in mehrere Abschnitte durch Wasserbarrieren. Zweitens besteht die Umgebung von Artjomowsk aus einem Komplex von Ortschaften, die ein einheitliches Verteidigungssystem darstellen. Drittens kommt die einzigartige Landschaft dazu: Täler, tiefe Anhöhen, die zusammen natürliche 'Tunnel' bilden. Und viertens, das Sahnehäubchen: das System der Bergwerkszechen von Soledar und Artjomowsk – also de facto ein Netz von unterirdischen Verbindungen. Dort, in einer Tiefe von 80 bis 100 Metern, finden nicht nur viele Menschen Platz, sondern sogar Panzer und Schützenpanzer bewegen sich dort. Zudem werden dort schon seit dem Ersten Weltkrieg Waffenbestände gelagert."
In den letzten Tagen und Stunden wird sowohl in russischen als auch in ukrainischen Internetforen zunehmend über den bevorstehenden Rückzug der ukrainischen Truppen aus Soledar diskutiert, namentlich aufgrund der hohen Verluste und ihrer Unfähigkeit, die Stadt zu halten.
Dessen ungeachtet hat der Sprecher des ukrainischen Verteidigungsministeriums zur gleichen Zeit erklärt, dass nun der größte Teil der ukrainischen Armee mobilisiert sei. Dabei ging es nicht um die Unterstützung von Soledar und Artjomowsk, sondern anscheinend um den Aufbau des bereits angekündigten neuen Armeekorps, mit dem anscheinend immer noch die "Befreiung der Krim" geplant ist. Der Wahnsinn nimmt kein Ende, denn auch diese neuen, hastig und somit schlecht ausgebildeten Soldaten ohne militärische Erfahrung sollen dann mit den vom Westen noch zu liefernden, meist veralteten Waffen bis zum letzten Mann für die NATO als Kanonenfutter geopfert werden, mit dem erklärten US-Ziel, dadurch die Russen zu schwächen.
Bisher jedoch hat der US/NATO-Stellvertreterkrieg in der Ukraine auf beiden Seiten das Gegenteil der vom Westen erhofften Wirkungen erzielt. Die russische Währung wurde nicht zu Toilettenpapier, sondern sie gehört heute zu den stärksten der Welt, im Gegensatz zum Dollar und Euro. Die Wirtschaft Russlands wurde nicht ruiniert, wie die unselige Annalena Baerbock angekündigt hatte, sondern sie brummt und wird dieses Jahr wieder kräftiges Wachstum bei stark gesunkener Inflation zeigen, im Gegensatz zu den mehr als trüben Aussichten im Westen, vor allem in der EU, wo ganze Wirtschaftszweige vor dem Ruin stehen.
Im Unterschied zu den untereinander zunehmend gespaltenen Gesellschaften der westlichen Länder, die immer mehr Vertrauen in ihre staatlichen Institutionen und in die gleichgeschalteten Medien verloren haben und weiter verlieren, steht die russische Nation geeint hinter ihrem Präsidenten. Gerade wegen der US/NATO-Lügen und deren Aggression in der Ukraine unterstützen alle Nationalitäten der Russischen Föderation mit sehr großen Mehrheiten Präsident Wladimir Putins Spezialoperation in der Ukraine.
Denn inzwischen hat auch der letzte Zweifler verstanden, dass die NATO mithilfe der Ukraine das Ziel verfolgt, in Russland politisches Chaos zu säen und mit einem Maidan-ähnlichen Putsch auf dem Roten Platz die Regierung zu stürzen, um anschließend die einzelnen Nationalitäten gegeneinander auszuspielen und Russland in verschiedene Teile aufzuspalten, um es – wie zu Boris Jelzins Zeiten – besser auszuplündern. Das sind keine Elemente einer Verschwörungstheorie, sondern elementare Bestandteile von Strategien, die von hochangesehenen und einflussreichen US-Denkfabriken wie die RAND Corporation (z. B. "Extending Russia") zur Vorbereitung politischer Entscheidungen in Washington herausgearbeitet worden sind.
Auch militärisch steht Russland heute nicht geschwächt, sondern stärker da als zuvor. Die russischen Soldaten haben gezeigt, dass sie nicht nur kämpfen können, sondern dies auch mit großer Effizienz und Intelligenz tun und dass sie ihre neuen Waffensysteme gut beherrschen und einsetzen können. Dagegen haben sich die verschiedenen vom Westen gelieferten "Wunderwaffen" als faule Eier erwiesen.
Diese Wunderwaffen sollten nach den zunehmenden Rückschlägen der ukrainischen Armee in den letzten Monaten die Wende zum Sieg Kiews bringen. Aber von der hochgepriesenen Javelin Panzerabwehrrakete redet heute niemand mehr und auch um den US-Mehrfachraketenwerfer vom Typ M142 HIMARS ist es still geworden, denn die Russen machen diese Systeme schneller zu Alteisen, als der Westen sie nachliefern kann.
Das soll nicht heißen, dass diese neuen Waffen den Kampf der Russen nicht anfänglich erschwert hätten, aber sie haben sich darauf eingestellt und Gegenmaßnahmen ergriffen. Die Waffen sind und bleiben im besten Fall militärische Nadelstiche: Sie tun weh, haben aber keinen entscheidenden Einfluss auf das weitere Kriegsgeschehen. Die erhoffte große Wende auf dem Schlachtfeld haben diese westlichen "Wunderwaffen" jedenfalls nicht gebracht.
Zur selben Zeit hat der Westen damit seine eigenen Reserven weitestgehend aufgebraucht, und jetzt geht es um die Frage, ob die westlichen Regierungen ihre eigenen Streitkräfte entblößen und deren Waffen in die Hände von unausgebildeten ukrainischen Soldaten liefern sollen, wo sie – wie bereits ihre Vorgänger – von den Russen eine nach der anderen zerstört und zu Schrott gemacht werden. Oder werden sich die liberalen und neokonservativen Falken in Washington mit ihren Forderungen durchsetzen, US- und NATO-Soldaten gemeinsam mit ihren Waffen in die Ukraine zu schicken, um dort die Niederlage der Ukraine zu verhindern, was laut Erklärungen hochrangiger US-Politiker auch einer totalen Niederlage der "regelbasierten", US-diktierten Weltordnung gleichkäme?
Vieles wird sich in den nächsten Tagen, womöglich schon in den nächsten Stunden in Soledar und Artjomowsk entscheiden. Bis gestern abend noch klammerten sich in Soledar die Überreste der noch kampfbereiten ukrainischen Truppeneinheiten an einigen Punkten fest. Aber auf die eine oder andere Weise neigt sich die Waage nicht zugunsten der ukrainischen Streitkräfte. Nach Berichten aus dem Feld über Telegram-Kanäle kontrollieren russische Streitkräfte bereits die "Lebensader", die Straße zwischen Artjomowsk und Soledar, was bedeutet, dass die operative Versorgung der ukrainischen Soldaten maßgeblich unterbrochen ist, was dem Einschluss in einem Kessel gleichkommt. Früher oder später lautet dann das Ergebnis, dass – wie in Mariupol – die Eingeschlossenen sich entweder ergeben oder sterben werden.
Derweil mehren sich auch in den USA die Anzeichen, dass selbst führende Falken befürchten, dass im Ukraine-Konflikt die Zeit nicht auf der Seite von Kiew ist. Das umso mehr, weil Wirtschaft und Militär der Ukraine jetzt fast vollständig von der Unterstützung des Westens abhängen. Deshalb machen sich die ehemalige US-Außenministerin Condoleezza Rice (im Amt von 2005 bis 2009) und der ehemalige Pentagon-Chef Robert Gates (2006 bis 2011) in einem gemeinsamen Artikel in der Washington Post große Sorgen um das Prestige der USA, das mit einem Sieg der Ukraine auf Gedeih und Verderb verbunden ist. In dem am 7. Januar veröffentlichten Meinungsartikel stellen die beiden Autoren fest, dass, falls es dem ukrainischen Militär nicht gelingen wird, einen signifikanten Durchbruch in dem Konflikt zu erzielen, der Druck des Westens auf Kiew mit jedem Monat des militärischen Patts wachsen wird, Waffenstillstandsgespräche zu führen.
"Die einzige Möglichkeit, dieses Szenario zu vermeiden", so die Autoren Rice und Gates, besteht für Washington und seine NATO-Verbündeten darin, die militärische Unterstützung für Kiew derart zu verstärken, dass sie ausreichen würde, um eine neue russische Offensive zu verhindern und die russischen Streitkräfte im Osten und Süden zurückzudrängen. Das aber ist gelinde gesagt reines Wunschdenken, das der Tatsache zugrunde liegt, dass sich die US- und die anderen westlichen Kommentatoren einzig und allein auf die stark geschönten Kriegsberichte der ukrainischen Propaganda verlassen und somit jeder Realität entbehren. Das kann folglich zu falschen bzw. katastrophalen Schlüssen führen wie z.B.:
"Was wir jetzt brauchen, sind Entscheidungen der USA und ihrer Verbündeten, den Ukrainern zusätzliche militärische Ausrüstung zu liefern, insbesondere mobile gepanzerte Fahrzeuge", schrieben die ehemaligen Leiter des Außenministeriums und des Pentagon.
Die Dynamik des Kampfgeschehens in und um Soledar und Artjomowsk und die bereits erkennbaren, wenn auch noch vereinzelten Auflösungserscheinungen der dort kämpfenden ukrainischen Truppenteile könnten den hochtrabenden US-Plänen der vollständigen Militarisierung der Ukraine bis zum letzten Mann zuvorkommen und sie zunichte machen.
Zugleich aber haben der russische Außenminister Sergei Lawrow und andere russische Regierungsvertreter wiederholt auf die Gefahr hingewiesen, dass die vom Westen an die Ukraine gelieferten Waffen auf andere Regionen übergreifen könnten. Auch der russische Botschafter in den Vereinigten Staaten Anatoli Antonow warnte jüngst erneut, dass die Militarisierung der Ukraine durch den Westen eine direkte Bedrohung auch für die europäische und globale Sicherheit darstellt.
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