Hilft die NATO der Ukraine gegen Russland, oder benutzt sie die Ukraine gegen Russland?
Von Glenn Diesen
Die westliche Öffentlichkeit ist, wie alle anderen, entsetzt über das menschliche Leid und den Schrecken des ukrainischen Krieges. Die Empathie ist eine der großen Tugenden der Menschheit, die sich in diesem Fall in die Forderung übersetzt, den Ukrainern zu helfen.
Aber die Propaganda nutzt üblicherweise das Beste der menschlichen Natur, wie das Mitgefühl, um das Schlimmste hervorzubringen. Während Sympathie und der Wunsch, den Flüchtenden zu helfen, angeregt werden, um öffentliche Unterstützung für Konfrontation und Krieg mit Russland zu mobilisieren, ist es nötig zu fragen, ob die westliche Öffentlichkeit und die Ukrainer manipuliert werden, einen Stellvertreterkrieg zu unterstützen.
Hilft die NATO der Ukraine, gegen Russland zu kämpfen, oder benutzt die NATO die Ukraine, um Russland zu bekämpfen?
Die Organisation als passiver Akteur?
Der von den USA angeführte Militärblock stellt sich meist als unschuldige dritte Partei dar, die nur auf das überwältigende Begehren des ukrainischen Volkes reagiert, sich seinen Reihen anzuschließen. Aber über Jahre hinweg hat die NATO versucht, eine zögernde Ukraine in ihren Orbit hineinzuziehen. Eine NATO-Veröffentlichung von 2011 gestand ein, dass "die größte Herausforderung für die Beziehungen zwischen der Ukraine und der NATO in der Wahrnehmung der NATO in der ukrainischen Bevölkerung liegen. Eine NATO-Mitgliedschaft wird im Land nicht weithin unterstützt ‒ einige Umfragen legen nahe, dass die öffentliche Unterstützung dafür bei weniger als 20 Prozent liegt."
2014 wurde dieses Problem gelöst, indem man das unterstützte, was George Friedman von Stratfor "den offensichtlichsten Putsch der Geschichte" nannte, da keine Mühe darauf verwandt wurde, die westliche Einmischung zu verbergen. Die Rechtfertigung des Regimewechsels war, man helfe den Ukrainern mit ihrer "demokratischen Revolution". Sie beinhaltete aber den verfassungswidrigen Sturz einer gewählten Regierung als Ergebnis eines Aufstands, der, wie selbst die BBC zugab, in der Bevölkerung nicht von einer Mehrheit unterstützt wurde. Die Amtsträger, die vom ukrainischen Volk gewählt worden waren, wurden durch von Washington handverlesene Individuen ersetzt. Ein berüchtigtes geleaktes Telefongespräch zwischen der Funktionärin des State Department, Viktoria Nuland, und Botschafter Geoffrey Pyatt enthüllte, dass Washington bereits mehrere Wochen, bevor Präsident Janukowitsch entmachtet wurde, genau ausgewählt hatte, wer in der neuen Regierung sitzen würde.
Wie vorherzusehen war, lehnte der Donbass die Legitimität des neuen Regimes in Kiew ab und widerstand ihr mit russischer Unterstützung. Statt eine "Regierung der Einheit" zu fordern ‒ ein Plan, den westeuropäische Staaten als Garanten unterzeichnet hatten ‒, unterstützten die NATO-Länder stillschweigend eine "Anti-Terror-Operation" gegen die Ostukraine, die mindestens 14.000 Tote forderte.
Das zweite Minsker Abkommen vom Februar 2015 wies einen Weg zum Frieden, aber die USA und Großbritannien sabotierten es die nächsten sieben Jahre. Mehr noch, jüngst gestanden Deutschlands Angela Merkel wie Frankreichs François Hollande ein, dass sowohl Deutschland als auch Frankreich den Vertrag als Möglichkeit sahen, Zeit zu erkaufen, damit die Ukraine sich bewaffnen und auf Krieg vorbereiten könnte.
In den Wahlen von 2019 waren Millionen Ukrainer entrechtet, eingeschlossen jene, die in Russland leben. Dennoch war das Ergebnis ein Erdrutschsieg, bei dem 73 Prozent der Ukrainer für die Friedensplattform von Wladimir Selenskij stimmten, die auf der Umsetzung von Minsk 2 beruhte, auf Verhandlungen mit dem Donbass, dem Schutz der russischen Sprache und einer Wiederherstellung des Friedens mit Moskau. Die rechtsextremen Milizen, die von den USA bewaffnet und ausgebildet wurden, legten jedoch effektiv ein Veto ein, indem sie Selenskij bedrohten und sich an der Frontlinie weigerten, die schweren Waffen zurückzuziehen, als er es von ihnen verlangte. Nachdem er auch von den USA unter Druck gesetzt wurde, verkehrte Selenskij schließlich die gesamte Friedensplattform, für die die Ukrainer gestimmt hatten, in ihr Gegenteil. Stattdessen wurden Oppositionsmedien und politische Parteien "gesäubert" und der wichtigste Anführer der Opposition, Wiktor Medwedtschuk, wurde verhaftet. Die Wünsche der Ukrainer zu untergraben, um das Land in Richtung einer Konfrontation mit Russland zu steuern, wurde ein weiteres Mal als "Hilfe" für die Ukraine bezeichnet.
Hin zu einem Stellvertreterkrieg
2019 veröffentlichte die RAND-Corporation eine von der US-Armee beauftragte Studie von 325 Seiten mit dem Titel "Russland überdehnen: aus vorteilhafter Stellung konkurrieren". In der Sprache eines Stellvertreterkriegs befürwortete der Bericht, die Ukraine zu bewaffnen, um Moskau auszubluten, und stellte fest: "Die Lieferung von mehr US-Militärausrüstung und -beratung könnte Russland dazu bringen, seine direkte Beteiligung am Konflikt zu erhöhen und damit den Preis, den es dafür zahlt." Der Vorsitzende des Geheimdienstausschusses des US-Abgeordnetenhauses, Adam Schiff, erklärte die Strategie, die Ukraine zu bewaffnen, auf ähnliche Weise und sagte: "Die Vereinigten Staaten helfen der Ukraine und ihrem Volk, damit wir Russland dort bekämpfen können und Russland nicht hier bekämpfen müssen."
Im Dezember 2021 warnte der ehemalige Chef der Russlandanalyse bei der CIA, dass der Kreml unter wachsendem Druck stehe, einzumarschieren, um Washington an einem weiteren Aufbau seiner militärischen Präsenz an seinen Grenzen zu hindern, der mit einschloss, ukrainische Häfen für das Anlaufen von US-Kriegsschiffen zu modernisieren. "Diese Beziehung [USA-Ukraine] wird weit stärker und tiefer werden, und in zwei oder drei Jahren von heute an wird das US-Militär in der Ukraine weit tiefer eingegraben sein. Nicht zu handeln, ist also riskant auf der Seite [des Kreml]", erklärte George Beebe. Aber obwohl es überzeugt war, dass Russland einmarschieren würde, weigerte sich Washington, Moskau irgendwelche vernünftigen Sicherheitsgarantien zu geben.
Kiew stimmte drei Tage nach dem russischen Einmarsch zu, Verhandlungen aufzunehmen, die einige Wochen später in den Umrissen eines Friedensabkommens endeten. Die ehemaligen Geheimdienstmitarbeiterinnen Fiona Hill und Angela Stent verfassten später einen Artikel, der bestätigte, dass "die russischen und ukrainischen Unterhändler sich auf die Umrisse einer verhandelten Übergangslösung geeinigt zu haben schienen: Russland würde sich auf seine Positionen vom 23. Februar zurückziehen, als es einen Teil des Donbass und die gesamte Krim kontrollierte, und im Gegenzug würde die Ukraine versprechen, keine Mitgliedschaft in der NATO anzustreben und stattdessen Sicherheitsgarantien von einer Reihe von Ländern erhalten."
Nach einem Besuch des britischen Premierministers Boris Johnson zog sich jedoch Kiew plötzlich von den Friedensverhandlungen zurück. Berichte in ukrainischen und US-amerikanischen Medien legten nahe, dass London und Washington Kiew unter Druck gesetzt hatten, die Verhandlungen zu verlassen und stattdessen den Sieg auf dem Schlachtfeld mit NATO-Waffen zu suchen.
Johnson hielt unzählige Reden, in denen er vor einem "schlechten Frieden" warnte, während der deutsche General Harald Kujat, ehemaliger Vorsitzender des NATO-Militärrats, bestätigte, dass Johnson die Friedensverhandlungen sabotiert hatte, um einen Stellvertreterkrieg mit Russland zu führen: "Seine Begründung war, dass der Westen noch nicht für ein Ende des Krieges bereit sei."
Die US-Ziele hatten ebenfalls wenig damit zu tun, der Ukraine zu "helfen". US-Verteidigungsminister Lloyd Austin benannte als US-Ziel in der Ukraine die Schwächung eines strategischen Rivalen: "Wir wollen Russland in dem Maß geschwächt sehen, dass es solche Dinge nicht mehr tun kann, die es getan hat, als es in die Ukraine einmarschierte". US-Präsident Biden argumentierte für einen Regimewechsel in Moskau, da Putin "nicht an der Macht bleiben kann", was Boris Johnson in einem Pressekommentar wiederholte, in dem er feststellte, dass "der Krieg in der Ukraine nur mit Wladimir Putins Niederlage enden kann".
Dan Crenshaw, Abgeordneter im US-Kongress, äußerte sich für einen Stellvertreterkrieg durch die Lieferung von Waffen an die Ukraine, da "es mir eine gute Idee scheint, in die Zerstörung des Militärs unseres Gegners zu investieren, ohne einen einzigen amerikanischen Soldaten zu verlieren". Entsprechend argumentierte Senator Lindsey Graham, die USA sollten Russland bis zum letzten Ukrainer bekämpfen: "Ich mag den strukturellen Pfad, auf dem wir hier sind. Solange wir der Ukraine mit den Waffen helfen, die sie braucht, und der Wirtschaftsunterstützung, werden sie bis zur letzten Person kämpfen." Die Rhetorik hier ähnelt gespenstisch jener des ungarischen Milliardärs George Soros, der vertrat, die NATO könne dominieren, wenn sie osteuropäische Soldaten nutzen könne, da diese mehr Gefallene hinnähmen als ihre westeuropäischen Gegenstücke: "die Kombination osteuropäischen Menschenmaterials mit den technischen Fähigkeiten der NATO würde das militärische Potential der Partnerschaft gewaltig erhöhen, weil es das Risiko von Leichensäcken für die NATO-Länder reduziert, das ihren Willen, zu handeln, am meisten beschränkt".
Wenn man NATO-Generalsekretär Jens Stoltenbergs jüngster orwellscher Aussage folgt, dass "Waffen der Weg zum Frieden sind", erscheint es sinnvoll zu untersuchen, ob die NATO der Ukraine hilft oder die Ukraine benutzt. Die NATO-Mächte haben erklärt, sie belieferten die Ukraine mit Waffen, damit sie eine stärkere Position am Verhandlungstisch habe, doch nach einem Jahr Krieg hat noch kein wichtiger westlicher Staatschef zu Friedensverhandlungen aufgerufen. Die NATO hat ein mächtiges Stück Verhandlungsmasse, das der Ukraine tatsächlich helfen könnte, nämlich eine Vereinbarung, die Ausdehnung der NATO in Richtung der russischen Grenze zu beenden. Dass der direkte Beitrag des Blocks zu dem Krieg reingewaschen wird, verhindert jedoch eine Beilegung durch Verhandlungen.
Glenn Diesen ist Professor an der Universität von Südostnorwegen und Redakteur der Zeitschrift "Russia in Global Affairs".
Mehr zum Thema - Harald Kujat: Boris Johnson hat im April den russisch-ukrainischen Frieden verhindert
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.
Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.