Die Einsamkeit der Plünderer: Kolonialismus ist für immer Makel des Westens
Von Luis Gonzalo Segura
Der Aufstieg des Westens in den letzten Jahrhunderten basierte auf der Plünderung von Reichtum, Ressourcen und sogar von Menschen fremder Länder. Alles, was Wert hatte, wurde jahrhundertelang aus einem großen Teil des Planeten nach Europa verbracht – und später auch nach Amerika – zum Nutzen von deren Eliten und ganzer Gesellschaften. Die Plünderungen vermehrten dort den Reichtum und verbesserten die Lebensbedingungen, während sich das Niveau des Daseins der Ausgeraubten beständig verschlechterte und die Ungleichheit mit jedem Tag noch wuchs.
Denken wir nur an die Geschichte der nordamerikanischen Sklaverei. Die USA verweigern heute nicht nur den afroamerikanischen Nachkommen der Sklaven, die noch immer unter den traumatischen Folgen ihrer Verschleppung leiden, humanitäre Entschädigungen. Sie verweigern auch den afrikanischen Ländern, denen deren Vorfahren als "Humankapital" brutal entrissen wurden, die Reparationen dafür.
Ein Ausdruck dessen ist auch die arrogante Antwort Spaniens auf die Bitte Mexikos, sich doch endlich für das begangene Unrecht zu entschuldigen. Auch Mexiko wurden, wie den heutigen Ländern in ganz Lateinamerika, unzählige Ressourcen geraubt, vor allem wertvolles Silber und Gold.
Desgleichen bestehen die Reparationsforderungen aus Haiti, das die Franzosen und die Amerikaner ausgeplündert hatten. Sie hielten dort jahrzehntelang die Regime grausamer Diktatoren ohne Sanktionen an der Macht, und unterstützten vor wenigen Jahren wieder einen Staatsstreich … und so gibt es noch viele, viele andere Beispiele.
Vom Westen verursachte Wunden
Die Wunden des europäischen Kolonialismus und des nordamerikanischen Imperialismus bluten immer noch auf dem Planeten. Besonders in Lateinamerika, Afrika und Asien, wo man sich noch heute an die Peitschenhiebe, die Kugeln und die Staatsstreiche erinnert. Aber vor allem ist es die alte Ideologie der weißen “Herrenmenschen” mit ihren Vorrechten, die es dem Westen erschwert, echte Unterstützung außerhalb seiner kulturellen Festung zu finden. Deren Mauern wachsen jeden Tag noch mehr in die Höhe und isolieren die Privilegierten vom Rest des Planeten. Erinnern Sie sich doch, wie der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell im Jahre 2018 bei einem öffentlichen Akt an einer Universität darauf hinwies, die USA hätten lediglich "vier Indianer getötet"– in Bezug auf den Völkermord an indigenen Völkern in Nordamerika. Das führte nicht zu seinem Rücktritt, sondern im Gegenteil zum weiteren Aufstieg in seiner politischen Karriere. Heute ist er einer der führenden Köpfe der europäischen Außenpolitik.
Nun war Borrell einer der Teilnehmer der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz und machte natürlich die Russen für das Scheitern des Westens in Lateinamerika, Afrika, Asien oder Ozeanien verantwortlich. Seiner Meinung nach haben die Nachkommen der "vier Indianer", die nicht von den USA oder den europäischen Mächten ausgerottet wurden, das russische Märchen gekauft. Und auch das der Chinesen, denn auch die Chinesen erzählen bekanntlich viele Geschichten.
Was ist der Westen für den globalen Süden?
Das Problem des Westens ist ein wachsender Mangel an Glaubwürdigkeit und Gewicht in den Nationen des globalen Südens, die früher als "blockfreie Länder" galten. Darauf hat auch der französische Präsident Emmanuel Macron hingewiesen. Doch daran sind wiederum andere schuld: Weil die Chinesen Geld investieren, ohne die Länder zu "demokratisieren" zu wollen, die Russen Sicherheit bieten, aber ideologisch "manipulieren" und weil die "Inder" zum Maßstab für den Süden werden. Das zeigen die Feierlichkeiten eines Gipfeltreffens, an dem über hundert Länder des globalen Südens teilnahmen. Nicht allein, dass die demokratischen Ideale in Marokko oder Saudi Arabien eigentlich zweitrangig sind, auch Afrika ernährt sich weitgehend mit russischem Getreide. Kurz gesagt, die "bösen" Russen, Chinesen und Inder setzen weiterhin böse Künste ein, um die Eliten dieser Länder zu korrumpieren und im Austausch dafür angeblich zu plündern. Wenn man diese Version für selbstverständlich hält, könnte man fragen: Haben nicht eigentlich die Westler in den letzten Jahrhunderten genau das getan? Wollen sie nicht auch weiterhin genau das tun?
Unglücklicherweise ist es für den Westen eine Realität, dass er inzwischen allein gelassen wurde und sich jeden Tag unfähiger fühlt, mit China, Indien oder Russland zu konkurrieren. Das zeigt auch die Tatsache, dass die Mehrheit der Welt die Sanktionen gegen Moskau nicht unterstützt hat – nur vierzig Länder von mehr als einhundertachtzig Ländern, also weniger als ein Viertel. Und es muss klargestellt werden, dass viele von ihnen dazu gezwungen wurden, entweder direkt durch andere Staaten und Mächte oder indirekt durch den äußeren Druck, wie es auch bei den Waffenlieferungen in die Ukraine der Fall war.
Wie viele der vierzig an Sanktionen gegen Russland beteiligten Länder hätten einseitige Sanktionen verhängt oder sich daran beteiligt, wenn sie nicht auf die eine oder andere Weise dazu gezwungen worden wären? Wie viele hätten freiwillig Waffen geschickt?
Die Pandemie als Beispiel
Und obwohl man manchmal auf den Gewichtsverlust des Westens in Ländern wie Brasilien, Indonesien oder der Türkei hinweist, ist die Lage in Wahrheit noch dramatischer, da der Westen in ganzen Regionen an Einfluss verliert. Und das liegt nicht daran, wie Borrell betont, dass die europäischen Länder die Auswirkung ihrer Politik auf Drittländer noch stärker bewerten müssten, und zwar nicht nur in Bezug auf Palmölpflanzungen oder die Folgen der Entwaldung. Sie müssten vielmehr vor allem damit Schluss machen, sich als rassistische Ausplünderer zu betätigen. Ein aktuelles Beispiel findet man in der COVID-19-Impfung. Während China und Russland ihre Impfstoffe dem Rest des Planeten anboten, hat der Westen in Wahrheit Millionen davon in den Mülleimer geworfen, obwohl Millionen von Menschen des globalen Südens sie benötigten.
Aber die Angelegenheit geht über Impfstoffe und Geschichten hinaus. Um ein Beispiel zu nennen: China hat Lateinamerika zwischen 2010 und 2015 mehr Ressourcen zugeteilt als die Weltbank, die Interamerikanische Entwicklungsbank (IDB) oder die Entwicklungsbank der Andenstaaten ("Corporacion Andina de Fomento" – CAF) zusammen. Das sage nicht ich, das schreibt die Zeitung El País aus Madrid – aus einer der Hauptstädte des Westens.
Die Pandemie traf einen Großteil der Länder des globalen Südens sehr schwer, weil die informelle Wirtschaft deren Auswirkungen deutlich schlechter aushalten konnte. Dazu sank der Wert der Rohstoffpreise im ersten Halbjahr 2020 um bis zu 37 Prozent ab. In dieser Situation hatten die USA keine "bessere" Idee, als den Beitrag der USA für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einzufrieren. Sie haben nicht nur die Impfstoffe an die reichen Westler verkauft und den Rest gedankenlos weggeworfen, sie setzten auch ihren Beitrag zur Weltgesundheit zu einer Zeit aus, als die Menschheit unter einer katastrophalen Situation litt. Das heißt, in den Entscheidungen des globalen Südens steckt viel mehr als nur Worte – denn es geht dabei um 20 Prozent des weltweiten Bruttosozialproduktes und 75 Prozent der Weltbevölkerung.
Es sind diese Arroganz und dieser Egoismus, der Dritten die Tür öffnet und die meisten der bestehenden Konflikte verursacht, weil man Reichtum nicht verteilt und technologische Fortschritte nicht zum Gemeingut macht. Der Westen arbeitet nicht daran, Ungleichheiten auf dem Planeten zu verringern oder die enorme Armut in so vielen Teilen der Welt abzumildern. Ganz abgesehen von der ideologischen Vision, die sich sehr von denjenigen anderer Regionen unterscheidet. Und natürlich werden auch die Interessen oder Gefühle von Drittstaaten nicht berücksichtigt. Ein Beispiel dafür ist die Milliarden-Unterstützung für die Ukraine, während Millionen von Menschen vor den Toren Europas oder der USA ungestraft auf schändliche Weise misshandelt, erniedrigt oder ermordet werden.
Tatsächlich ist der globale Süden nicht einverstanden mit der Politik, die die USA und der Rest des gehorsamen Westens in der Ukraine verfolgen: einen Konflikt so lange wie möglich auszudehnen, nur um Russland ausbluten zu lassen. Diese Vision wird von der Mehrheit auf der Welt nicht geteilt. Hier ist man der Ansicht, dass der Westen die Dauer eines Konflikts in die Länge zieht, der sich direkt gegen den globalen Süden auswirkt. Denn die gegen Russland verhängten Sanktionen haben globale Auswirkungen. Hunderte unserer politischen Persönlichkeiten haben das erklärt, darunter auch der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. Aber den Westen scheint das nicht zu interessieren.
Sie glauben, dass es ausreicht, die UNO, den IWF oder die Weltbank neu zu kostümieren und noch ein paar Almosen zu verteilen. Doch die Realität sieht ganz anders aus: Es gibt eine unaufhaltsame demografische Welle, die echte Veränderungen einfordert. Und die wichtigste dieser Veränderungen besteht darin, gleichberechtigt behandelt zu werden, weil man gleich ist.
Der Westen muss seine rassistische Sichtweise in Bezug auf die Probleme der Welt aufgeben. In der Konsequenz muss eine Strukturreform der globalen Institutionen durchgeführt werden, die die UNO, den IWF oder die Weltbank zu von den USA unabhängigen und mächtigen Akteuren macht und die Gleichberechtigung der Mehrzahl der Länder verwirklicht. Falls der Westen nicht auf seine Privilegien verzichtet, wird er ein ernsthaftes Problem bekommen, oder besser gesagt, er hat es bereits: Er wird allein sein. Sehr einsam. Geradezu verlassen.
Übersetzung aus dem Spanischen von Maria Müller
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