Europa produziert rasant neue Waffen – und das nicht wegen Russland
Von Geworg Mirsajan
Bis vor Kurzem galten der Nahe Osten und Ostasien als Regionen, die sich am schnellsten militarisieren. Ausgerechnet dort verfügten die Staaten über genügend Geld, um Waffen zu kaufen sowie über die Notwendigkeit, dies wegen zahlreicher Konflikte in ihren Regionen zu tun.
Doch im jüngsten Bericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) wurde im Hinblick auf das Wachstum von Militärausgaben eine andere Region als die führende genannt, nämlich Europa. Im Jahr 2022 stiegen seine Militärausgaben um 13 Prozent. Dies ist fast dreimal so viel wie das weltweit durchschnittliche Wachstum von Militärausgaben von 3,7 Prozent.
Auf welchen Krieg bereitet sich Europa also vor?
Version eins: Ein Krieg gegen Russland
Diese Version erscheint am naheliegendsten. Im Laufe des ganzen Jahres 2022 behaupteten europäische Politiker, dass sie sich quasi in einem Kriegszustand mit Russland befinden, das im Februar eine spezielle Militäroperation in der Ukraine begonnen hatte. Im Laufe des ganzen Jahres 2022 nahmen sie de facto an dieser Militäroperation aufseiten des Kiewer Regimes teil, indem sie es erst mit Ausrüstung, dann mit Waffen und schließlich mit Soldaten (sogenannten Freiwilligen) belieferten.
Im Laufe des ganzen Jahres 2022 behaupteten sie, dass Russland eine Bedrohung für ganz Europa darstelle, weswegen nicht nur der ukrainische Vorposten, sondern auch die Grenzen der NATO befestigt werden müssen. Nicht umsonst wird das größte Wachstum von Militärausgaben in denjenigen europäischen Ländern verzeichnet, die an Russland grenzen, also in Finnland (36 Prozent), Litauen (27 Prozent), Schweden (zwölf Prozent) und Polen (elf Prozent).
Diese Zahlen erscheinen auf den ersten Blick klein und stehen scheinbar in keinem Verhältnis zu dem Niveau der militärischen Bedrohung, die Russland für Europa angeblich darstellt. So wuchs der Militärhaushalt der Ukraine nicht um 36, sondern um 640 Prozent – ein deutliches Beispiel für einen Staat, der wirklich Krieg führt. Dennoch sind hierbei nicht nur Prozentanteile, sondern auch absolute Werte wichtig.
"Die gesamten Verteidigungsausgaben der NATO-Mitglieder haben einen Anteil von fast 60 Prozent an den weltweiten Militärausgaben, deswegen ist ein Anstieg um 13 Prozent nicht wenig". Das erklärte der leitende wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften, Dmitri Ofizerow-Belskij, gegenüber der Zeitung Wsgljad. So betragen die ukrainischen Werte von 640 Prozent in absoluten Zahlen etwa 44 Milliarden US-Dollar. Die gesamten Militärausgaben von zentral- und westeuropäischen Ländern betrugen im Jahr 2022 indessen 345 Milliarden US-Dollar. Dies ist fast viermal so viel wie die Ausgaben von Russland, die laut SIPRI 86 Milliarden US-Dollar betrugen.
"Die Gesamtstärke der NATO ist für einen Erfolg im Krieg gegen Russland bei einigen konventionellen Szenarien ausreichend. Die wichtigste Bedingung dafür ist die Möglichkeit der USA, in vollem Umfang Truppen nach Europa zu verlegen", fügte der Experte hinzu.
Die Schwäche dieser Version besteht in der Tatsache, dass es keine konventionellen Szenarien geben wird. Jeder direkte Krieg zwischen Russland und Europa wird mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Atomkrieg werden. Deswegen erscheint es nicht besonders vernünftig, Ausgaben für einen Krieg zu steigern, der nicht stattfinden wird. Somit ist die "russische Version" des Anstiegs von Verteidigungsausgaben der EU im Grunde ein Vorwand.
Version zwei: Es wird keine Truppenverlegung geben
Bis in die jüngste Vergangenheit hing Europas Verteidigung gänzlich von den Vereinigten Staaten ab. Eine ganze Reihe von europäischen Ländern konnte es sich leisten, für die Verteidigung minimale Beträge, weniger als ein Prozent des BIP, auszugeben.
Doch mit der Zeit wurde dieses Schema für beide Seiten unattraktiv. Die USA fühlten sich durch Ausgaben für die europäische Verteidigung belastet und begannen schon zu Trumps Amtszeit von ihren europäischen Verbündeten eine Steigerung der Militärausgaben auf mindestens zwei Prozent des BIP zu fordern. Die Europäer fühlten sich indessen durch die Abhängigkeit von den USA belastet, die mit dem US-amerikanischen Schutz einherging.
"Ich würde nicht sagen, dass die USA Europa decken. Das ist ein sehr spezifisches Bündnis, das eher an eine Besatzung erinnert", sagte Ofizerow-Belskij. So hätten die USA im Rahmen dieser Besatzung Europa in einen Konflikt mit Russland hineingezogen und ziehen es jetzt in einen Konflikt gänzlich außerhalb seiner Region hinein.
"Europäische Politiker sind sehr besorgt darüber, dass sie in den sich abzeichnenden Konflikt in der Taiwanstraße hineingezogen werden, im Rahmen einer militärischen Konfrontation zwischen den USA und China". Das erklärte die Politologin und Expertin des Russischen Rats für Internationale Angelegenheiten, Jelena Suponina, gegenüber der Zeitung Wsgljad. Außerdem zweifeln einige europäische Staaten angesichts der innenpolitischen Entwicklungen in den USA, insbesondere der wachsenden isolationistischen Stimmungen, daran, dass die USA weiterhin ein vertrauenswürdiger Beschützer bleiben.
Dabei sah sich Europa nach jahrelanger Abhängigkeit von den USA mit der Tatsache konfrontiert, dass seine Streitkräfte extrem veraltet waren. Dies wird an der Quantität und Qualität der Waffen sichtbar, welche die EU aus allen Ecken und Enden an die Ukraine liefert. Deswegen muss Europa seine Streitkräfte stärken und seine Rüstungsindustrie wieder aufbauen.
Doch zum Leidwesen der europäischen Staaten sind diese beiden Aufgaben nicht miteinander vereinbar. "Die europäische Rüstungsindustrie ist noch nicht für große Aufträge bereit. Der Ukraine-Konflikt zeigte, dass der Betrieb von zahlreichen Waffen Schwierigkeiten aufweist. Dies betrifft Reparaturen, den gemeinsamen Einsatz auf dem Schlachtfeld, unterschiedliche Munition usw. Deswegen wird es zweifellos Schritte zur Unifizierung geben. Doch dies hat auch eine Kehrseite – die Richtung und die Basis dafür werden von den USA vorgegeben. Deswegen werden wir sehr bald eine Übernahme der europäischen Rüstungsindustrie durch die USA beobachten", so Ofizerow-Belskij. Somit würde eine Steigerung der Militärausgaben nicht zu einer Verringerung, sondern zu einer Steigerung der Abhängigkeit von den USA führen.
Version drei: Europa bereitet sich auf Kleinkriege vor
Es ist auch nicht auszuschließen, dass sich die europäischen Staaten doch auf diese Weise neu bewaffnen werden. Nicht nur, weil sie die Abhängigkeit von den USA weiterhin akzeptieren, sondern weil sie verstehen, dass eine ganze Reihe militärischer Konflikte auf sie zukommt. Und zwar nicht mit Russland um den postsowjetischen Raum, sondern mit Nachbarn oder gar mit anderen europäischen Partnern.
Unter den turbulenten Nachbarn sind natürlich vorrangig Afrika und der Nahe Osten hervorzuheben – traditionelle Interessenzonen von Frankreich, Italien und einigen anderen europäischen Staaten. Schon jetzt entfaltet sich aktiv ein "Kampf um Afrika", wobei russische und chinesische Akteure, sowohl staatliche als auch private, die Europäer aus ihren ehemaligen Kolonien vertreiben. Immerhin schaffte es die französische Armee – die heute wohl stärkste in Europa – nicht, Islamisten in Mali zu besiegen, während Russland die weltgrößte Terrorgruppierung, den IS, vernichtete.
Was den Nahen Osten angeht, so wird die Versöhnung zwischen Iran und Saudi-Arabien im Fall eines Erfolgs die Muslime stärker zusammenrücken lassen und damit dem Westen zahlreiche Möglichkeiten nehmen, eine Politik nach dem Prinzip "teile und schwäche" in dieser Region zu führen. Die islamische Welt ist entschlossen, für eine ihrer Meinung nach gerechtere Weltordnung und für eine Beendigung der westlichen neokolonialen Politik zu kämpfen.
Und wenn die Muslime den Großteil ihrer Anstrengungen nicht für den Kampf gegeneinander aufbringen werden, wird Europa seine Interessen in der Region mit Gewalt verteidigen müssen, wie möglicherweise auch die öffentliche Ordnung zu Hause, wo es eine große muslimische Gemeinde gibt.
Dennoch geht die größte Bedrohung nicht von der islamischen Welt, sondern von osteuropäischen Staaten aus. "Die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten sind gar nicht so gut, wie sie es vormachen. So wachsen Spannungen zwischen Deutschland und Polen, das jüngst sehr ernste Ambitionen zeigt und Berlin und Paris damit reizt. Diese Spannungen können in etwas Ernsthafteres ausarten", erklärte Suponina.
Eine ganze Reihe von Medien berichtete bereits, dass Polen zur "militärischen Großmacht Europas" aufsteige. Unter Berufung auf seine militärische Stärke könnte Warschau einen entsprechenden politischen Einfluss beanspruchen, insbesondere die Führung innerhalb der Europäischen Union oder zumindest eine führende Rolle neben Frankreich und Deutschland.
Und all dies nur, solange die NATO und die US-amerikanische Kontrolle existieren. Sollte die NATO verschwinden oder die US-Kontrolle schwächer werden, wird Polen mit seinen Komplexen, seinen Territorialansprüchen und seinem Ehrgeiz zu einem noch aggressiveren Akteur. Zu einer echten und nicht vorgemachten Bedrohung aus dem Osten wie die russische. Und diese Bedrohung wird von den europäischen Staaten eingedämmt werden müssen.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.
Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität in Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Vereinigte Staaten. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für USA- und Kanadastudien der Russischen Akademie der Wissenschaften.
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