Dr. Karin Kneissl: Die Wahrnehmung Russlands durch die Welt – Mythen und Realitäten
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe junge Kollegen!
(Einige Worte in russischer Sprache aus Höflichkeit: Для меня большое честь и удовольствие находиться здесь и говорить с вами. Я изучаю русский язык, но, к сожалению, я говорю по-арабски лучше, чем по-русски. Сейчас я продолжаю на французском.).
In Österreich oder Deutschland über Russland zu sprechen, ist etwas ganz anderes, als es in Frankreich zu tun. Wenn ich in Österreich erzählte, dass ich für einen Kurs, den ich unterrichte, nach Russland reiste, war die Reaktion oft: Ach so, zu den Mafiosi? In Frankreich wurde mir jedoch mit folgendem Satz geantwortet: Ah, wie sehr ich davon träume, Sankt Petersburg zu besuchen, ich liebe die Bücher von Tolstoi, die Stücke von Tschechow!
Das erste Mal, dass ich meinen Fuß nach Russland setzte, war übrigens im Mai 2014, als ich als Touristin Moskau besuchte. Und dennoch behauptete die österreichische Presse im Frühjahr 2022, dass ich bereits 1992 als russische Spionin empfohlen worden sei. Jede nicht-russische Person im heutigen Europa, die es wagt, weiterhin mit Russland zusammenzuarbeiten, fällt also in die Kategorie Spionage oder Schlimmeres.
Ich kann mit Ihnen meine Beobachtungen teilen als Österreicherin, die Deutschland gut kennt und in Frankreich ein neues Leben beginnen wollte, nachdem sie im Herbst 2020 gezwungen wurde, ihr Heimatland zu verlassen.
Und seit einem Jahr lebe oder besser gesagt überlebe ich in einem kleinen Dorf im Libanon. Ich spreche besser Arabisch als Russisch, das ist ein Grund, warum ich im Moment in "diesem kleinen Land, das so viel Lärm macht" lebe, wie Fürst Metternich im Jahre 1830 den Libanon trefflich nannte.
Ich erlaube mir also, über diese Wahrnehmungen zu sprechen, der europäischen wie auch der arabischen Länder, die in ihren historischen und aktuellen Einstellungen zu Russland stark divergieren.
Da die Organisatoren einen sehr ehrgeizigen Titel wählten – es geht nämlich um die Wahrnehmung durch die Welt –, nehme ich Sie nun gedanklich auf eine kleine Weltreise mit.
Wir versuchen zu ergründen, wie die Sicht ist auf:
- dieses Russland, den größten Staat mit seinen elf Zeitzonen,
- seine vielen Völker, seine stete Kraft, sich immer wieder zu erneuern,
- seine Melancholie, die manchmal das Talent hat, sich in schöner Poesie, epischen Liedern außergewöhnlichen Kinofilmen zu ertränken, aber jene Melancholie, die auch im Alkohol und in der Traurigkeit von Frauen und Männern, die von einem anderen Leben träumten, ertrinken kann
- dieses kalte Land, das fruchtbare Land, das neue und alte Reich des Bösen aus der Sicht von Washington und Brüssel.
Oder ganz einfach dieses rätselhafte und mystische Russland, zwischen Baba Jaga, Christus, zwischen den Anhängern von Turgenjew und Co, die nach Westen blicken, und den Slawophilen um Dostojewski, die ein anderes Russland predigten.
Meine Damen und Herren, beginnen wir unsere Reise:
Russland und China
Die Geschichte illustriert mit zahlreichen Beispielen, dass es einfacher ist, gute Beziehungen zum Nachbarn des Nachbarn zu pflegen als zum unmittelbaren Nachbarn.
Die Tatsache, dass es Moskau und Peking gelungen ist, alle ihre Grenzkonflikte schon vor einiger Zeit beizulegen, ist beeindruckend. Die bilaterale Zusammenarbeit im Energiebereich erfuhr im Jahr 2004, dann 2014, sowie vor allem mit der Vertragsserie seit Februar 2022 einen weiteren Ausbau.
Aber wie ist der Blick Chinas auf Russland?
Ist Moskau der Partner schlechthin für eine multipolare Welt sowie grenzenlose Freundschaft und der bevorzugte militärische Partner?
Der Name Russland bedeutet auf Chinesisch "Plötzliches Land". Dieses Land, das am gewissermaßen aus dem Nichts heraus am Horizont des Reichs der Mitte auftauchte, als nämlich Russland im 16. Jahrhundert mit der Eroberung Zentralasiens begann.
Der Aufstieg des zaristischen Russland und seine Ankunft im Fernen Osten gegenüber einem untergehenden China, das von den europäischen Mächten zerrissen wurde – das ist der historische Hintergrund.
Für China endet nun im Jahr 2023 eine historische Anomalie, insbesondere die der letzten zwei Jahrhunderte. Das Reich der Mitte wird wieder zu dem, was es immer war, nämlich eine Macht ersten Ranges.
Wie wird die Globalisierung unter chinesischer Schirmherrschaft aussehen? Kann man Chinese werden, wie man Russe oder US-Amerikaner werden kann? Dies sind Fragen, die wir später in der Debatte diskutieren können. Aber ich kann Ihnen nicht wirklich Antworten garantieren.
Wie beobachten Chinas Konkurrenten diesen Aufschwung, insbesondere Indien?
Russland und Indien
Obwohl Indien ein Gründerland und eine Säule der Bewegung der Blockfreien war, besteht seit Jahrzehnten eine besondere Beziehung zwischen den beiden Ländern. Russische Diplomaten und Unternehmen, allen voran Minister Sergei Lawrow, bewegen sich in Indien wie ein Fisch im Wasser.
Indien bildet das natürliche Gegengewicht zu Chinas Größe. Die Gründe dafür sind wohlbekannt. So wie es auch bei Vietnam der Fall ist, einem der Länder, die mich am meisten faszinieren. Aber gehen wir weiter in Richtung West-Südwest: Westasien, der Nahe Osten – der "Middle East" von London aus gesehen.
Russland und die arabische und die muslimische Welt, insbesondere die Türkei und der Iran
Es ist die Levante, in der Russland vor 1914 etwa 100 russischsprachige Schulen unterhielt und wo orthodoxe Christen immer noch mit einem halb verliebten, halb respektvollen Blick auf das orthodoxe Russland blicken.
Liebe Zuhörer!
Ich möchte mit einer Anekdote beginnen: im Jahr 1983, zu Beginn meines Studiums der orientalischen Sprachen und Rechtswissenschaften an der Universität Wien, wurde eines unserer Lehrbücher in Leipzig in der ehemaligen DDR gedruckt, da die Universität Leipzig eine lange Tradition der Orientalistik hat. Bevor ich auf Arabisch sagen konnte: Ich habe Hunger oder ich habe Durst, beherrschte ich den folgenden Satz perfekt: Die sozialistischen und progressiven Kräfte werden über die reaktionären und imperialistischen Kräfte siegen.
So hatte ich in Damaskus in den 1980er-Jahren keine Probleme ...
Und die arabische Linke, die eine seltsame Mischung aus feudalen Kommunisten und Studenten war, kultiviert teils noch ihre Träume von Russland. Die arabische und islamische Welt pflegt ihre Mythen.
Die Flughäfen von Kairo, Damaskus, Istanbul und Dubai bieten Direktflüge nach Moskau an – eine Tatsache, die in unserer surrealen Zeit sehr wichtig ist. Solche praktischen Fakten machen den Unterschied aus.
Und es ist insbesondere die Türkei, die zweitgrößte Militärmacht innerhalb der NATO, die sich dem Druck von EU und USA widersetzt, Sanktionen gegen Russland zu verhängen.
Die Beziehungen zwischen Ankara und Moskau sind ein Fallbeispiel für die hohe Meisterschaft echter Diplomatie. Die beiden Staaten stehen wie schon so oft in der Geschichte einander auf dem Schlachtfeld gegenüber, so in Syrien und in Libyen. Doch zugleich sitzen sie Verhandlungstisch, wenn es um ukrainische Weizenexporte oder in diesen Wochen um einen Neubeginn in Syrien geht.
Der Iran und Russland teilen sich seit Jahrhunderten das Kaspische Meer, und in Teheran hält man auch die Erinnerung an den Verlust Aserbaidschans und Armeniens, aber auch an die Sanktionen des UN-Sicherheitsrats seit dem Jahr 2008.
Und vergessen wir nicht, dass dieser alte Nationalstaat Iran bzw. Persien sich ohnehin für etwas Besseres hält. Der Iran ist ein sehr komplexer Partner, doch entscheidend für die Gestaltung neuer Handelskorridore in Eurasien.
Meine Damen und Herren,
erlauben Sie mir an dieser Stelle einen Zwischenruf. Beim Erlernen dieser schönen russischen Sprache stoße ich immer wieder auf das Wort "Freund", auch in den internationalen Beziehungen Russlands.
Im Arabischen ist man sofort Bruder und Schwester, egal, ob man Muslim ist oder nicht.
Doch gibt es Freundschaft zwischen den Hauptstädten, zwischen den Regierungen? Gewiss, jede menschliche Chemie zwischen zwei bedeutsamen Politikern stärkt das Vertrauen und ermöglicht vielleicht auch das Umschiffen schwieriger Momente in Verhandlungen. Aber jenseits aller Betonung von Freundschaft, was in Russland sehr regelmäßig erfolgt, geht es um Interessen und darum, diese zusammenzuführen.
Die Zeit drängt, unsere Reise ist noch nicht zu Ende, denn es gilt, diesen riesigen afrikanischen Kontinent zu überfliegen.
Und Afrika?
Dieser große und an Natur sowie Bodenschätzen so reiche Kontinent hat immer seine Rolle gespielt. Erinnern wir uns an die Zeit der Entkolonialisierung, an Patrice Lumumba und seine Zeitgenossen – die oft von ihren ehemaligen Herren vertrieben und ermordet wurden, und die Geschichte kennt aktuelle Beispiele wie Muammar al-Gaddafi in Libyen.
Der Kalte Krieg war besonders grausam in Angola und Mosambik. Und derzeit beobachten wir neue Rivalitäten und ein Europa, das schließlich auch Geschäfte machen und nicht nur Entwicklungshilfe betreiben will.
Lassen Sie uns kurz übergehen zu folgendem ... Die jüngsten Reisen russischer Diplomaten nach Lateinamerika und Besuche wie die des brasilianischen Präsidenten sind Teil einer Geschichte, die unter anderem von der Sowjetunion geschrieben wurde. Die BRICS+-Plattform hat auf diesem Kontinent und in der islamischen Welt im Allgemeinen an Strahlkraft gewonnen.
Was uns bleibt, sind Nordamerika und die EU, die derzeit mit Australien und Japan eine gemeinsame Position vertreten: die Politik des "Ersatzes" – Sanktionen, die jede Politik ersetzt haben. Es geht nur mehr um Sanktionen, die zudem scheitern.
Ein Wort zu Frankreich, da ich mich der französischen Sprache bediene.
General Charles de Gaulle sprach immer von Russland und verwendete nicht die Begriffe UdSSR oder Sowjetunion, und er hatte seine Gründe dafür.
Vor allem verabscheute er den Transatlantismus. Er träumte vielmehr von einer Achse Paris-Berlin-Moskau.
Und alle seine Nachfolger – mit Ausnahme von Sarkozy – wollten in ihrer Außenpolitik ein wenig gaullistisch sein. Aber wer hat schon das Kaliber des Generals? Dieser hatte vor allem Rückgrat, das den meistern EU-Politikern fehlt.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Die These – die Mythen – und die Antithese – die Realitäten; man braucht eine Synthese:
Welches Image für ein Russland, das zukünftige Bewohner oder sogar Bürger anziehen könnte?
Russland braucht Menschen, Fachkräfte in allen Bereichen: vom Lkw-Fahrer bis zum Koch, von der Krankenschwester bis zum Landwirt, vom Informatiker bis zum Ingenieur.
Die demografische Anfälligkeit ist bekannt, sie gründet sich auf die Kriege des 20. Jahrhunderts, auf den Preis, den alle Völker der Sowjetunion angesichts der deutschen Aggression und ihrer österreichischen Kollaborateure gezahlt haben.
Die Auswanderungswellen der 1990er-Jahre u. a. nach Israel, die jüngste Auswanderung, der Blutzoll, den der Ukrainekrieg fordert. All dies verschärft zusätzlich eine bereits problematische demografische Situation.
Russland wird Einwanderung brauchen. Welche Wahrnehmung hat Russland, um zu einem attraktiven Einwanderungsland zu werden? Welches Image? Welche Möglichkeiten gibt es, dort ein neues Leben zu beginnen, nicht in Moskau, sondern in den Regionen?
Es gibt Beamte, Unternehmer, Intellektuelle usw., die Ideen haben – sie müssen zusammengebracht werden, und es muss eine Wahrnehmung von Russland geschaffen werden, um Menschen anzuziehen. Und es wird nicht das erste Mal in der Geschichte sein, dass sich junge oder alte Menschen auf den Weg machen, um in Russland zu leben.
Miloš Crnjanski, der serbische Schriftsteller, den manche auch den serbischen Tolstoi nennen, beschreibt in seinem Roman "Bora" den Exodus der Serben nach Russland im 18. Jahrhundert. Die Liste derer, die aus Deutschland, Griechenland oder anderen Ländern kamen, ist lang.
Hier beginnt wiederum die Politik. Sie sollte im Tandem mit der Wahrnehmung des riesigen und immer noch rätselhaften Russland neue Perspektiven schaffen.
Mehr zum Thema - Außenminister Lawrow: Westliche Politik der Isolierung Russlands erleidet volle Niederlage
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.