Trügerische Sicherheit? Der Druck auf das Weltfinanzsystem wächst
Eine Analyse von Rüdiger Rauls
Während die Weltfinanzkrise von 2007/2008 durch hochspekulative Anlagen ausgelöst worden war, hat die jetzige Krise ihre Ursache gerade im Gegenteil. Die scheinbar grundsoliden amerikanischen Staatsanleihen haben aufgrund der Zinsanhebungen der US-Notenbank bisher etwa dreißig Prozent ihres Kurswertes verloren. Das trifft neben den Anlegern besonders solche Banken, die große Teile ihres Eigenkapitals in diesen Titeln angelegt haben. Damit sollte ihr Geld nicht nur Zinserträge bringen, sondern auch jederzeit schnell verfügbar sein.
Die Anlage in Staatsanleihen hatte aber auch noch einen anderen Hintergrund: Sie müssen nicht durch Hinterlegung mit Eigenkapital gegen Zahlungsausfall abgesichert werden wie andere Wertpapiere oder Anlagen. Denn die Wirtschaftswissenschaft geht davon aus, dass Staaten nicht zahlungsunfähig werden können, weshalb Staatsanleihen also keiner gesonderten Absicherung bedürfen. In ihrer Weltentrücktheit scheinen ihr aber die Staatsbankrotte von Argentinien bis Simbabwe bisher entgangen zu sein und auch, dass die USA als größte Schuldner der Welt aktuell und zum wiederholten Male am Rande der Zahlungsunfähigkeit torkeln.
Jedenfalls stehen viele Bürger und Staaten dem Welt-Finanzsystem seit der Pleite von Lehman-Brothers kritischer gegenüber. Das blinde Vertrauen, das seine Institutionen bis 2007 genossen, ist einem weit verbreiteten Misstrauen gewichen. Hinzu kommt, dass den Bürgern heute ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, sich dem Griff der Geldhäuser zu entziehen.
Der digitale Bürger
Die Digitalisierung des Lebens hat nicht vor den Banken und Konten Halt gemacht. Die Banken haben die Chancen der Digitalisierung für sich zu nutzen gewusst. Immer mehr Bankaufgaben wurden an die Kontoinhaber übertragen, die selbst die Verwaltung ihres Kontos übernahmen. Die Banken stellten mit ihrer Software nur noch den Rahmen für die Bankgeschäfte. Das eröffnete ihnen gewaltige Einsparmöglichkeiten. Filialen konnten geschlossen, Mitarbeiter zu Tausenden entlassen bzw. freigewordene Arbeitsplätze mussten nicht mehr besetzt werden.
Mit dieser Übergabe der Kontoverwaltung an den Kontoinhaber haben aber die Banken auch die Kontrolle über die Konten abgegeben. Das rächt sich nun in der aktuellen Bankenkrise. Denn mit wenigen Mausklicks kann heute der Kontoinhaber sein Guthaben von einer Bank auf eine andere übertragen, ohne dass die Bank darauf bisher Einfluss nehmen kann. Hatte man 2007/2008 noch die Möglichkeit gehabt, Bankschalter zu schließen, um dem Ansturm der Kundschaft Herr zu werden, so hätte das heute keine Wirkung mehr.
Damals genügte das Wort der Kanzlerin, um die Kunden zuhause zu halten. Heute müssen sie gar nicht mehr zur Bank, sie stürmen die Banken von zu Hause aus. Diese Veränderung bekamen die amerikanischen Banken in den letzten Wochen deutlich zu spüren. Kaum waren Zweifel an der Solidität der Silicon Valley Bank aufgekommen, zogen die Kunden Milliardenbeträge innerhalb von Sekunden ab und übertrugen sie auf die großen Geldhäuser, die man gerade aufgrund ihrer Größe für sicherer hielt.
Bei der Silicon Valley Bank hatten Anleger bei den ersten Anzeichen der Schwäche "in nur fünf Stunden 42 Milliarden Dollar an Einlagen abgezogen". Erstmals schienen nun auch die Lenker der Finanzmärkte die Gefahren zu erkennen, die auf sie zukommen könnten. Der Chefaufseher der Europäischen Zentralbank (EZB), Andrea Enria, sprach "von der dunklen Seite der Digitalisierung. Diese ermögliche den Kunden einer Bank sehr schnelle Fluchtmöglichkeiten. (…) Eine solche Geschwindigkeit des Einlagenabzugs habe es zuvor nicht gegeben". Die digitale Selbstverwaltung des Kontoinhabers, die als willkommene Gelegenheit der Kostenersparnis begann, droht sich nun als Katastrophe für das Bankwesen zu entpuppen.
Kapitalistische Kurpfuscher
Was als schlummernde Gefahr bisher nicht erkannt worden war, nun aber dramatisch offensichtlich wurde, geschah nicht ohne Grund. Der Hintergrund der Entwicklung um die mittelgroßen amerikanischen Banken liegt in den Zinserhöhungen der letzten Monate. Sie sollen die Inflation bekämpfen, die besonders über die Staaten des Westens in unbekannter Schärfe hereingebrochen war. Was im strengen Sinne nichts weiter ist als Preissteigerungen, soll nun mit der Allzweckwaffe Zinspolitik bekämpft werden. Das ist vergleichbar mit dem Arzt, der Antibiotika verabreicht, wenn der Erreger nicht klar ist.
Diese wie auch Geldpolitik können anschlagen, können aber auch die Abwehrkräfte zusätzlich schwächen. Im Falle der US-Banken schlägt die Politik der Zinserhöhungen ins Gegenteil um. Neue Anleihen werden auf dem Markt mit einem höheren Zinssatz angeboten. Der Zinssatz der alten bleibt unberührt, denn er ist festgeschrieben für die Laufzeit der Anleihe. Dennoch steigt deren Rendite, denn die Kurse der Altanleihen fallen. Das bedeutet, dass die Altanleihen, die viele Banken in ihren Bilanzen als Eigenkapital halten, an Wert verlieren und damit das Eigenkapital.
Im Falle der Silicon Valley Bank hat das die Rating-Agentur Moodys auf den Plan gerufen, die das Rating der Bank neu bewerten zu müssen glaubte. Mit solchen Auswirkungen ihrer Maßnahmen hatten die Notenbanken offenbar nicht gerechnet. Jedenfalls wirkte die FED sehr überrascht. In Windeseile stellte sie Finanzspritzen zur Verfügung und änderte ihre Pläne bezüglich der Zinserhöhungen. Das ist nicht das erste Mal, dass die Führungskräfte der westlichen Finanzwelt an ihren Handlungen deutlich machen, dass sie den Kapitalismus nicht verstehen.
Das war schon der Fall vor der Krise von 2007/2008, als die Rating-Agenturen eine Zusammensetzung der ABS-Zertifikate vorschlugen, die nach ihrer Meinung ausfallsicher sei. Wenige Monate später führten gerade diese Zertifikate fast zum Zusammenbruch des westlichen Finanzkapitalismus. Es ist schwer zu glauben, aber die Repräsentanten des Kapitalismus wissen nicht, wie er funktioniert. Andererseits ist es gerade kein Wunder, wenn man die wirren Theorien der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften inhaliert, Marx jedoch als überholt oder widerlegt zur Seite schiebt.
Bittere Medizin
Die Zinserhöhungen vergrößern die Probleme; trotzdem hält man daran fest, wie die neuerlichen Aufschläge der FED und EZB zeigen. Die Inflation sinkt kaum, dafür aber die Wirtschaftstätigkeit. Was ansteigt, sind die Schulden und die Verunsicherung der Anleger. Diese fliehen zu den großen Bankhäusern, die man für sicher hält. Nur stellt sich die Frage, wer denn die neue, um die Credit Suisse erweiterte Union Bank of Switzerland (UBS) noch retten soll, wenn ihr unter den steigenden Zinsen bzw. fallenden Anleihekursen das Eigenkapital dahinschmilzt.
Die Silicon Valley Bank hatte, um nach dem Abzug der Kundeneinlagen wieder flüssig zu werden, US-Staatsanleihen verkauft und dabei Verluste realisiert, die ihre Eigenkapitalbasis zerrütteten. Ähnlich war es bei den anderen US-Banken, die unter den Zinsanhebungen ins Straucheln kamen. Dieser Prozess ist nicht auf die USA begrenzt. "Auch die Sparkassen-Gruppe musste deshalb im vergangenen Jahr Wertberichtigungen von 7,8 Milliarden Euro verkraften."
Wenn auch das Risiko von Verlusten, die noch in den Büchern schlummern, nach Ansicht des Internationalen Währungsfonds (IWF) in den USA höher ist als in Europa, so muss auch gesehen werden, dass diese Entwicklung noch nicht am Ende angekommen ist. Überraschungen sind immer möglich, mit denen bisher niemand gerechnet hat. Denn bisher sind die Verwerfungen nur an der Oberfläche, also bei den Banken, aufgebrochen.
Unterm Radar
Noch gar nicht erkennbar sind die Auswirkungen der Zinserhöhungen im Bereich der Immobilienfinanzierer, wenn besonders bei den Gewerbeimmobilien Anschlussfinanzierungen zusammengestellt werden müssen. Auch hier stehen die Regionalbanken wieder an vorderster Front, weil sie in der Regel zuerst als Ansprechpartner bei der Immobilienfinanzierung infrage kommen. Die mittleren Institute sind besonders gefährdet aufgrund der im Vergleich zu den Großbanken geringeren Kapitalausstattung.
Die Kunden stehen vor dem Problem, dass einerseits die Zinsen für die Anschlussfinanzierungen erheblich gestiegen sind, andererseits aber der Wert der Immobilie aufgrund der nachlassenden Nachfrage gefallen ist, also weniger Sicherheit für einen neuen Kredit darstellt. Diese Schere zu schließen, dürfte vielen Kunden, aber auch den Banken nicht leicht fallen. Denn diese veränderten Bedingungen beeinträchtigen die Banken in ihren Möglichkeiten der Kreditvergabe. Es steht also zu befürchten, dass so manche Immobilienentwickler und -gesellschaften den Gang zum Insolvenzverwalter antreten werden müssen und die Banken auf uneinbringbaren Forderungen sitzen bleiben.
Die größte Gefahr stellen jedoch die sogenannten Schattenbanken dar. Zu ihnen gehören die Private Equity Fonds, Geldmarkt- und Hedgefonds. Diese werden im Gegensatz zu den Geschäftsbanken von der Bankenaufsicht weit weniger kontrolliert. Das hat dazu geführt, dass die risikoreichen Aktivitäten der Banken gerade an solche Schattenbanken ausgelagert wurden, um sie der Kontrolle der Bankaufsichten zu entziehen. Welche Tretminen hier vergraben sind, offenbaren die letzten Zahlen des Finanzstabilitätsrats aus Basel: "Die gehaltenen Vermögenswerte der Schattenbanken machen inzwischen die Hälfte des weltweiten Volumens aus."
Daran werden die Risiken deutlich, die über dem Weltfinanzsystem hängen, wenn diese Komplexe durch weitere politische Entscheidungen von Notenbanken und Politik erschüttert werden oder gar ins Wanken geraten sollten. Da dürften alle Notenbanken der westlichen Welt nicht genug Mittel aufbringen können, um mit Liquiditätshilfen einen Zusammenbruch aufhalten zu können.
Rüdiger Rauls ist Buchautor und betreibt den Blog Politische Analyse.
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