Nord-Stream-Anschlag: Spiegel kann Löcher in der Andromeda-Geschichte nicht flicken
Von Dagmar Henn
Der Spiegel und weitere deutsche Medien versuchen, den Verdacht gegen die Ukraine im Hinblick auf die Sprengung von Nord Stream weiter zu erhärten. Nachdem die ursprünglich vorgebrachten Beschuldigungen gegen Russland nicht zu halten waren und der berühmte US-Journalist Seymour Hersh Artikel veröffentlicht hatte, die auf die Vereinigten Staaten selbst als Täter hinwiesen, war nach einem Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz bei Biden die Andromeda-Hypothese aufgetaucht, der zufolge eine unbekannte Gruppe von sechs Personen mit einer gemieteten Jacht die Explosionen ausgelöst haben soll.
In einem aktuellen Artikel versucht der Spiegel nun, einige der Widersprüche in der ursprünglichen Andromeda-Hypothese auszuräumen. So habe es sich bei dem verwendeten Sprengstoff um Oktogen oder Cyclotetramethylentetranitramin gehandelt, das eine stärkere Explosionswirkung als TNT entfaltet und wasserunlöslich ist. Oktogen wurde zwar bereits 1942 erfunden, ist aber auch heute noch im Gebrauch und neu genug, dass die gesundheitlichen Folgewirkungen der Substanz auch in der EU noch nicht bewertet sind. Bekannt ist allerdings, dass Oktogen bei einer Dosis von 200 Milligramm pro Kilogramm für Ratten tödlich ist.
"In der Kabine der 'Andromeda' fanden sich großflächig verteilte Reste", schreibt der Spiegel. Sicher, das bedeutet noch nicht, dass die Beteiligten eine gefährlich hohe Dosis aufgenommen hätten – die tödliche Dosis betrüge für einen Erwachsenen mit 75 Kilogramm Körpergewicht 15 Gramm oder etwa einen Esslöffel – aber es wäre doch ein deutlicher Hinweis auf eine ausgeprägte Sorglosigkeit, die wiederum im Gegensatz zur technischen Komplexität der zu bewältigenden Aufgabe steht.
500 Kilogramm TNT, die nach Angaben der Ermittler für die Explosionen benötigt worden wären, hätten mit einer so kleinen Jacht nicht transportiert werden können. "Oktogen ist viel leichter als TNT", erläutert der Spiegel. Das lässt sich überprüfen, wenn man nach dem TNT-Äquivalent sucht, das für Oktogen unter dem dafür beim US-Militär gebräuchlichen Kürzel HMX gefunden werden kann. Es beträgt ganze 1,1. Damit würden sich die 500 Kilogramm TNT auf ganze 454 Kilogramm Oktogen reduzieren – nicht wirklich eine Lösung des Gewichtsproblems; selbst bei Semtex wäre das Verhältnis günstiger.
Damit bleiben auch die Einwände erhalten, die die Komplexität der Anbringung einer derart großen Sprengladung in der gegebenen Wassertiefe betreffen. Und nach wie vor ist fraglich, ob dies ohne Einsatz von Industrietaucherausrüstung, also ohne Kompressoranlage, Druckanzug und Schläuche, nur mit Sauerstoffflaschen, überhaupt möglich ist.
Nach Angaben eines Verbunds aus NDR, WDR und Süddeutscher soll der Chef der Firma, von der die Andromeda gemietet worden sei, in Kiew ansässig sein; deutsche Ermittler sollen zudem einen Ukrainer Mitte zwanzig mit Verbindungen zum Militär identifiziert haben, der Teil der sechsköpfigen Besatzung gewesen sein soll. Nur die Frage, wer letztlich die Verantwortung trägt, wird nach wie vor offen gelassen: "Bei den Geheimdiensten fragt man sich inzwischen, ob die Tat von einem kontrollierten Kommando oder von ukrainischen Geheimdiensten ausgeführt worden sein könnte – und inwieweit womöglich Teile des ukrainischen Regierungsapparats im Bilde gewesen sind."
Die Konsequenzen, die die Andromeda-Hypothese in dieser Form haben müsste, werden nicht weiter ausgeführt. Gäbe es einen ernstzunehmenden Verdacht gegen ukrainische Täter, müsste der erste Schritt sein, mit einer kurzen Frist von der Ukraine die Auslieferung sämtlicher Tatverdächtiger zu verlangen und bis zur Auslieferung die Unterstützung der Ukraine einzustellen.
Im Falle eines ernst zu nehmenden Verdachts gegen ukrainische Regierungsbehörden würde es sich um eine Kriegshandlung gegen Deutschland handeln, deren bloße Vermutung schon die Konsequenz haben müsste, jegliche Unterstützung der Ukraine bis zur vollständigen Aufklärung auf Eis zu legen. Schließlich wäre es der Gipfel der Absurdität, einen Staat, der sich durch einen solchen Akt selbst zum Feind erklärt hat, auch noch mit Waffen zu beliefern. Die Tatsache, dass Teile der aktuellen Bundesregierung nicht vorhatten, Nord Stream 2 zu nutzen, hat dafür ebenso wenig Relevanz wie die Tatsache, dass durch Nord Stream 1 zum Zeitpunkt des Anschlags kein Gas strömte. Wenn einem ein Nachbar das Auto zerstört, ändert die Tatsache, dass man es zu diesem Zeitpunkt nicht gefahren hat, nichts an der Unrechtsqualität der Handlung.
Wie zu sehen ist, löst auch die "ukrainische Spur" das politische Dilemma des Anschlags nicht. Solange der Westen hinter der Ukraine steht, lautet die Konsequenz für Deutschland immer, die Demütigung zu schlucken und eigene grundlegende Interessen preiszugeben oder aber die Seite zu wechseln. Erst wenn Washington die Ukraine fallen gelassen hat, wäre der transatlantische Verrat durch eine Wendung gegen die Ukraine kaschierbar.
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