Dammbruch von Kachowka: Erdoğan fordert eine internationale Untersuchung
Von Maria Müller
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan telefonierte am siebten Juni mit seinen Amtskollegen in Moskau und Kiew. Er unterbreitete ihnen den Vorschlag einer internationalen Untersuchungskommission des katastrophalen Dammbruchs am Wasserkraftwerk Kachowka.
Die Ursachen sollten objektiv geklärt werden, verlangt Erdoğan. Doch eine heftige Gegenreaktion aus der Ukraine ließ nicht lange auf sich warten. Die Führung in Kiew kritisierte die Türkei für den Vorschlag einer von den Vereinten Nationen unterstützten Untersuchung des Vorfalls durch drei Parteien, denn Erdoğan befürwortet die Beteiligung von Experten aus der Ukraine, Russlands, der Türkei und der UNO.
Der ukrainische Gesandte bei den Vereinten Nationen Sergei Kisliza behauptete, dass die Einleitung einer solchen Untersuchung "unmöglich" sei. Der ukrainische Außenminister Dmitri Kuleba sagte zudem, er habe "die Nase voll" von Aufrufen zur Untersuchung der Ereignisse während des Konflikts.
"Wir haben einfach die Nase voll von ihrem ständigen Spiel der Quasi-Gerechtigkeit. Es ist völlig klar, wer wer ist. Zu versuchen, alle glauben zu machen, dass die Ukraine da etwas in die Luft gesprengt hat? Gebt mir eine Pause, ihr Lieben. So etwas hatten wir schon. Mit den Russen ist das alles ein Verliererspiel", sagte er in der Frühstückssendung des ukrainischen Fernsehsenders 1+1.
Würde man ihn Kiew die Chance sehen, Russland damit an den Pranger zu stellen, hätte man sicherlich sofort zugestimmt. Gleichzeitig wurde ein nicht ganz neues Argument aus ukrainischen Regierungskreisen in den Vordergrund gestellt. Die Ukraine sei für absolut nichts verantwortlich, was auch immer im Rahmen des Krieges durch die eigenen Truppen verursacht wurde. Da der Angreifer Russland sei, müsse Russland auch für alles einstehen.
Laut der Genfer Konvention ist der Beschuss oder die Zerstörung von Wasserwerken oder Staudämmen ein Kriegsverbrechen, da die Wasserversorgung der Zivilbevölkerung als ein zentrales Menschenrecht gilt. Es ist übrigens hier auch daran zu erinnern, dass die Streitkräfte der Ukraine seit Beginn des Bürgerkrieges nach dem Putsch im Jahr 2014 immer wieder Wasserwerke und Wasserleitungen in den heutigen Volksrepubliken des Donbass zerstörten sowie den Kanal für die Wasserversorgung der Krimbevölkerung und deren Landwirtschaft mit Süßwasser blockierten.
HIMARS-Raketen und die gemeinsamen Kriegsverbrechen
Insofern ist der Vorschlag der Türkei positiv zu bewerten, aber für den kollektiven Westen heute besonders problematisch. Denn in den vergangenen Tagen erklärte Konstantin Gawrilow, der die russische Delegation bei den Wiener Gesprächen über militärische Sicherheit und Rüstungskontrolle leitet, dass die Zerstörungen sowohl von den USA als auch der Ukraine gemeinschaftlich ausgeführt wurden. Die Beweise resultieren aus der Technik der zahlreichen Angriffe mit HIMARS- Mehrfachraketenwerfern auf die gesamte Anlage des Staudamms und des Wasserwerkes bereits seit der Mitte des letzten Jahres.
Konstantin Gawrilow führte wörtlich aus:
"... bei HIMARS handelt es sich um einen Hochpräzisionskomplex, der über das US-amerikanische GPS-System gesteuert wird. Alle von den ukrainischen Streitkräften ausgewählten Ziele werden mit den Amerikanern auf einer der US-Militärbasen in Europa abgestimmt."
Die Koordinaten für die Angriffe werden von der US-Armee systemgerecht aufbereitet und präzisiert, und für jeden Schuss muss das ukrainische Heer sogar die Erlaubnis der US Army einholen. Nach Angaben von Gawrilow haben ukrainische Streitkräfte im Sommer und Herbst 2022 den Kachowka-Staudamm mit mehr als 300 HIMARS-Raketen angegriffen. Das russische Außenministerium hat berechnet, dass sie allein im Sommer-Herbst 2022 mindestens 28 Mal das Wasserkraftwerk Kachowka beschossen haben.
Seitdem sich HIMARS-Raketenwerfer in der Ukraine im Einsatz befinden, sind die USA für jedes angegriffene Ziel gleichermaßen verantwortlich. Der tägliche gezielte Beschuss von Wohngebieten im Donbass bei Verwendung von HIMARS-Systemen ist eine gemeinschaftliche Tat und insofern ein gemeinschaftliches Kriegsverbrechen, die Zerstörung der Wasser-Infrastruktur ebenso. Was denn sonst?
Dokumentarmaterial über die Angriffe auf den Staudamm und das Wasserwerk
Die Zerstörungen am Wasserwerk sind in zahlreichen Fotos und Video-Filmen dokumentiert. Hier sind einige der beeindruckenden Bild-Dokumente von RT (erneut) anzusehen.
Desgleichen sei hier auf den dokumentarischen Artikel des deutsch-russischen Berichterstatters Thomas Röper verwiesen, in dem bislang kaum bekannte Fotos über die ukrainischen Einschläge und nachfolgende russische Reparaturarbeiten veröffentlicht sind. Die Fotos zeigen durch die Perspektive auf die beschädigten Gebäude des Wasserwerks, dass die Kugeln und Raketen vom westlichen Ufer des Dnjepr kamen, das vom ukrainischen Militär kontrolliert wird.
Die russische Delegation im US-Sicherheitsrat liefert beweiskräftige Daten
Wassili Nebensja, der Vertreter der russischen Delegation im UN-Sicherheitsrat der UNO in New York, weist in seiner Erklärung vom 10. Juni 2023 ebenfalls darauf hin, dass der Staudamm bereits seit 2014 vom ukrainischen Militär beschossen wurde, um zu verhindern, dass die Kämpfer der Volksrepubliken das Wasserwerk einnehmen könnten.
Des Weiteren lieferte Nebensja eine detaillierte Auflistung der Angriffe auf das Wasserwerk seit dem 11. Juni 2022, die jeden Zweifel an der Täterschaft ausräumt. (zu finden am Ende dieses Artikels). Die Liste macht unmissverständlich deutlich, dass der Damm und das Wasserwerk durch den systematischen Beschuss "zermürbt", das Mauerwerk so lange geschwächt und technische Komponenten wie die Turbinen oder Schleusen derart beschädigt werden sollten, dass sie irgendwann dem Druck der Wassermassen nicht mehr standhalten würden.
Nebensja sagte außerdem:
"Am 14. März 2023 erklärte der Leiter des Bezirks Nowokachowski, Wladimir Leontjew, dass das Wasserkraftwerk nicht nur regelmäßig beschossen wird, sondern dass es auch regelmäßig Versuche von Sabotage- und Aufklärungseinheiten der Streitkräfte der Ukraine gibt, in sein Territorium und seinen Damm vorzudringen. Ihm zufolge gibt es auch Scharfschützenaktivitäten, die die Durchführung von Reparatur- und Wartungsarbeiten an den Wasserbauanlagen unmöglich machen."
Schwachstellen des Staudamms wurden attackiert: Schleusen und Turbinen
Der Investigativjournalist der New York Times (NYT), Christiaan Triebert, sowie die Journalisten der Washington Post und der Financial Times, Evan Hill und Christopher Miller, veröffentlichten am 6. Juni Satellitenbilder des Kachowskaja-Staudamms vom 28. Mai und 5. Juni, aus denen hervorgeht, dass eine Woche zuvor am Schleusenabschnitt des Staudamms Wasser austrat und am Tag zuvor der Abfluss des Wassers zunahm. Triebert sagte, die Bilder könnten zeigen, dass der Damm mindestens eine Woche vor der angeblichen Explosion beschädigt worden sei.
Allerdings ist auf den Satellitenfotos gut sichtbar, dass am 28. Mai die Autostraße an der Stelle der Kurve beschädigt ist, während das Foto vom 5. Juni die gleiche Stelle als meterlangen Einbruch zeigt. Das Straßenstück ist an diesem Punkt nun völlig weggebrochen.
28. Mai
5. Juni
In einem Interview mit der Washington Post im vergangenen Dezember enthüllte General Andrei Kowaltschuk, der damalige Befehlshaber der ukrainischen Truppen in der Region Cherson, dass Kiew einen Testangriff mit einer von den USA gelieferten HIMARS-Rakete auf eines der Schleusentore des Staudamms durchgeführt hatte und das Metall durchlöcherte.
Die ersten Angriffe erfolgten im Juni 2022 auf Schleusen und Turbinen
Russland warnte bereits am 14. August des letzten Jahres vor den ukrainischen Angriffen und deren unkontrollierbaren Folgen. Damals veröffentlichte RT Videoaufnahmen mit dem Hinweis: "Nach Angaben der Ukraine sei die Brücke von ihren Raketen- und Artillerieeinheiten gezielt beschossen worden, um den Nachschub der russischen Truppen abzuschneiden." Damals befand sich russisches Militär auch noch auf der rechten Seite des Dnjepr-Flusses.
In dem RT-Video erläutert ein Mitarbeiter des Wasserwerks, dass die Turbinen von der ukrainischen Seite so sehr beschädigt wurden, dass drei von sechs Turbinen abgeschaltet werden mussten. "Wir arbeiten in einem sehr gefährlichen Modus", sagte der Techniker im August. "Militärische Operationen in der Nähe des Kraftwerks sind inakzeptabel."
Auf den Fotos der Zerstörungen des Staudamms sieht man übrigens den offenen Turbinenraum, der in mehrere große Fragmente zerbrochen im Wasser versinkt. Das war offenbar eine der schwächsten Stellen des Damms.
Die Chronologie des Beschusses vom Wasserkraftwerk Kachowskaja durch die Streitkräfte der Ukraine nach Angaben des russischen Außenministeriums:
- Am 11. Juli 2022 wurde das HPP (Hydro Power Plant) von HIMARS-MLRS-Raketen getroffen (MLRS: Multiple Launch Rocket System; Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesystem);
- Am 18. Juli 2022 wurde infolge eines Angriffs auf das Wasserkraftwerk eine Schiffsschleusenzentrale beschädigt;
- Am 24. Juli 2022 geriet die Station unter Beschuss von HIMARS-MLRS-Raketen;
- Am 26. Juli 2022 trafen großkalibrige Granaten den Staudamm;
- In der Nacht zum 30. Juli 2022 wurde das HPP erneut durch einen HIMARS-Raketenwerfer MLRS getroffen;
- Am 5. August 2022 wurde das Wasserkraftwerk einem massiven Beschuss ausgesetzt. Die Angriffe erfolgten von Raketenwerfern HIMARS MLRS, Alder MLRS (Wilcha) und Totschka-U TRK;
- Am 7. August 2022 wurde die Station von einem Raketenangriff von HIMARS MLRS getroffen;
- Am 9. August 2022 geriet der Staudamm erneut unter Beschuss;
- Am 12. August 2022 waren durch Beschuss drei der sechs Turbinen der Station außer Betrieb. Das Werk (HPP) wurde im Notfallmodus (halbe Auslegungskapazität) in Betrieb genommen;
- Am 18. August 2022 wurden großkalibrige Projektile auf den Staudamm abgefeuert;
- Am 19. August 2022 geriet der Bahnhof und das Einkaufszentrum durch ein Alder MLRS-System unter Beschuss;
- Am 21. August 2022 starteten die Streitkräfte der Ukraine einen Raketenangriff auf das Wasserkraftwerk;
- Am 24. August 2022 wurde die Station einem massiven Beschuss durch HIMARS MLRS ausgesetzt;
- Am 27. August 2022 wurde das HPP (Wasserkraftwerk) und das Einkaufszentrum erneut von Alder MLRS getroffen;
- Am 28. August 2022 startete ein HIMARS MLRS einen Raketenangriff auf den Damm des Wasserkraftwerks;
- Am 29. August 2022 geriet die Station erneut unter Beschuss durch HIMARS MLRS;
- Am 30. August 2022 wurde ein Raketenangriff auf das Wasserkraftwerk verübt;
- Am 1. September 2022 geriet die Station unter Beschuss durch HIMARS MLRS;
- Am 2. September 2022 wurden großkalibrige Granaten auf das Wasserkraftwerk abgefeuert;
- Am 5. September 2022 wurde der Bahnhof von einem Raketenangriff getroffen;
- Am 6. September 2022 wurde ein Raketenangriff von HIMARS MLRS auf das Wasserkraftwerk verübt;
- Am 8. September 2022 meldeten die regionalen Behörden den Beschuss des Wasserkraftwerks und der Zufahrtsstraßen dorthin;
- Am 10. September 2022 traf ein HIMARS MLRS die nahe Stadt Nowaja Kachowka und das Wasserkraftwerk. Es gab keine Treffer am Damm;
- Am 18. Oktober 2022 meldete der Kommandeur der Militärischen Spezialoperation General Surowikin Schäden an der Antonowski-Brücke und am Damm des Wasserkraftwerks infolge des Beschusses durch HIMARS MLRS;
- Am 21. Oktober 2022 verteilte Russland einen Brief an (die Mitglieder) des UN-Sicherheitsrats und rief dazu auf, die Provokation der Ukraine gegen das Wasserkraftwerk Kachowka zu verhindern. In dem Dokument heißt es: "Die Streitkräfte der Ukraine beschießen seit fünf Monaten die Stadt Nowaja Kachowka in der Region Cherson.";
- Am 24. Oktober 2022 wurden das Wasserkraftwerk und die zivile Infrastruktur im Gebiet Nowaja Kachowka von Raketen MLRS HIMARS und Wilcha MLRS (auch Alder MLRS genannt) getroffen;
- Am 6. November 2022 wurde das HPP (Wasserkraftwerk) von sechs HIMARS-MLRS-Raketen beschossen. Eine von ihnen traf die Schleuse des Staudamms, die beschädigt wurde;
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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.