International

Deutschlands militärische Schirmherrschaft über die Ukraine verschärft die Rivalität mit Polen

Die jüngste Verschlechterung der Beziehungen Polens zu Deutschland und zur Ukraine, die teilweise auf die Wahlkampfstrategie der Regierungspartei für die Parlamentswahlen im Herbst zurückzuführen ist, hat dazu geführt, dass Berlin und Kiew eine militärische Partnerschaft eingegangen sind.
Deutschlands militärische Schirmherrschaft über die Ukraine verschärft die Rivalität mit PolenQuelle: www.globallookpress.com © Klaus-Dietmar Gabbert/dpa

Von Andrew Korybko

Deutschland und Polen konkurrierten bereits vor Beginn der russischen Militäroperation um Einfluss in Mittel- und Osteuropa. Doch der militärische Feldzug Russlands in die Ukraine führte zu einer beispiellosen Verschärfung ihrer Rivalität in diesem geostrategischen Raum. Deutschland beabsichtigt, Mittel- und Osteuropa indirekt über die von ihm dominierten Institutionen der EU zu kontrollieren, während Polen eine autonome regionale Allianz innerhalb der EU aufbauen möchte, die die kontinentalen Ambitionen seines westlichen Nachbarn in Schach hält.

Zunehmende polnisch-ukrainische Unstimmigkeiten

Die Dynamik dieser Rivalität könnte sich entscheidend verändern, wenn die von Deutschland präferierte polnische Opposition die kommenden nationalen Parlamentswahlen Mitte Oktober gewinnen sollte und sie danach möglicherweise die Regionalpolitik ihres Landes Berlin unterordnet. Doch selbst wenn die derzeitige Regierung die Wahlen erneut gewinnen sollte, könnten die sich zunehmend verschärfenden Unstimmigkeiten in den polnisch-ukrainischen Beziehungen dazu führen, dass sich die Ukraine nach dem Ende des Krieges dazu entschließt, sich viel enger mit Deutschland als mit Polen einzulassen.

Verbesserte deutsch-ukrainische Beziehungen

Vor diesem komplexen Hintergrund kündigte Bundesfinanzminister Christian Lindner am vergangenen Montag bei seinem Besuch in der ukrainischen Hauptstadt an, dass Berlin bis ins Jahr 2027 Kiew jährliche Militärhilfen im Wert von fünf Milliarden Euro gewähren wird. Diese versprochene militärische Schirmherrschaft verschärft die regionale Rivalität zwischen Deutschland und Polen, da Berlin damit ein Machtspiel über die geostrategische Ausrichtung der Ukraine nach Ende des Krieges lostritt. Kiew fühlt sich zum jetzigen Zeitpunkt mit Warschau zunehmend unwohl und wärmt sich daher als Ausgleich an Berlin auf.

Vor den Unstimmigkeiten in den polnisch-ukrainischen Beziehungen hat die Ukraine Deutschland regelmäßig heftig wegen angeblicher Zauderei bei der Entsendung von Militärhilfe kritisiert. Doch jetzt begrüßt die Ukraine eifrig alles, was Deutschland bereitstellen will. Diese Kehrtwende in der Politik steht in direktem Zusammenhang mit den Befürchtungen in Kiew, dass Polens schnell wachsender multidimensionaler – bisher aber nichtmilitärischer – Einfluss auf die Westukraine die Souveränität der Ukraine zu sehr gefährden könnte.

Die schleichende polnische Hegemonie über die Ukraine

Zwar hat die Ukraine diesen Trend ursprünglich gefördert, damit der westliche Landesteil, trotz weiterer Zerstörungen, als weiter entwickelter und stabilerer Landesteil bestehen bleibt. Kiew glaubte jedoch naiv, dass Warschau aus reiner "Solidarität" im Westen des Landes zu Hilfe geeilt ist. Diese Illusion wurde erst kürzlich zerschlagen, als Polen bestätigte, dass es sein Einfuhrverbot der meisten ukrainischen Agrarimporte aufrechterhalten wird, auch nachdem das provisorische Ausnahmeabkommen der Europäischen Kommission Mitte September ausläuft.

Dies setzte einen sich selbst antreibenden Kreislauf des Misstrauens in Gang, der derzeit die strategische Partnerschaft zwischen Polen und der Ukraine plagt. Dies wiederum zwang die Ukraine dazu, gegenüber Deutschland viel empfänglicher zu werden, in der Hoffnung, dass Berlin als Ausgleich dienen könnte, um Warschaus schleichende Hegemonialansprüche in Schach zu halten. Dies ist wichtiger denn je, da nach 18 Monaten Krieg eine gewisse Kriegsmüdigkeit einsetzt, während das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive bedeuten könnte, dass sich einige im Westen allmählich aus diesem Konflikt zurückziehen.

Jede Verringerung der Unterstützung durch den Westen birgt das Risiko, dass sich die Abhängigkeit der Ukraine von Polen automatisch vertieft, mit allem, was dies mit sich bringen könnte, um die Erosion der Souveränität Kiews über jene Regionen, die vor 1939 zu Polen gehörten, zu beschleunigen. Um eine vollständige polnische Hegemonie über die Ukraine zu verhindern, hat Deutschland deshalb gerade angekündigt, dass es die Streitkräfte der Ukraine bis 2027 mit jährlich fünf Milliarden Euro unterstützen wird.

Wenn die Ukraine als Ganzes ein de facto Protektorat Polens wird, könnte Warschau seine Fäden ziehen und Selenskij dazu bringen, als Gegenleistung für weitere Militärhilfe gegen Moskau, Ostgalizien genauso aufzugeben, wie es Marschall Piłsudski vor einem Jahrhundert Symon Petljura aufgezwungen hat. Um dieses Ziel zu erreichen, versucht Polen bereits, die Einheimischen in der Westukraine davon zu überzeugen, vom ethnischen Nationalismus abzulassen und sich stattdessen der postmodernen Wiederbelebung des ehemaligen Staatenbunds aus Polen und Litauen anzuschließen.

Sozioökonomische Lockvögel werden herumgereicht, unter dem Deckmantel der "Wiederaufbauhilfe" ihrer Region und der Garantie besserer Lebensbedingungen unter dem Schirm Polens, wenn sich die Menschen dort bereiterklären, sich mit dem westlichen Nachbarstaat zu assoziieren und die "Karta Polaka" – die "Polenkarte" – zu beantragen. Dieses Dokument kann als Treuebekenntnis gegenüber Polen von denjenigen angesehen werden, die damit ihre "Polnizität" unter Beweis stellen – Grundkenntnisse der Sprache und der polnischen Traditionen – und nachweisen können, dass ihre Vorfahren einst die polnische Staatsangehörigkeit besaßen, das heißt, aus der "Kresy" abstammten.

Ohne eine kritische Masse von Westukrainern, die den ethnischen Nationalismus meiden, zugunsten einer polnischen Vision eines "Neo-Staatenbunds", wird Warschau nicht in der Lage sein, nachhaltig militärischen und/oder politischen Einfluss auf diesen Teil der Ukraine auszuüben. Da dies bisher nicht geschehen ist und selbst im besten Fall aus polnischer Sicht noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, hofft die Ukraine, dass sie sich durch die Annäherung an Deutschland erfolgreich von ihrer unverhältnismäßigen strategischen Abhängigkeit von Polen lösen kann.

Polen könnte in der Westukraine immer noch einen einseitigen Schritt unternehmen, noch bevor es seinen sozioökonomischen Einfluss dort gefestigt hat, wovon es auch durch Deutschlands neu versprochene Militärhilfe realistischerweise nicht abgehalten wird, es könnte sich aber als unhaltbar erweisen. Aus diesem Grund ist es nicht selbstverständlich, dass dies in absehbarer Zeit geschehen wird, es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden.

Ohne den oben erwähnten schwarzen Schwan, dass Polen in naher Zukunft die Westukraine unter welchem Vorwand auch immer besetzen wird, könnte Deutschlands versprochene militärische Schirmherrschaft die Ukraine ausreichend stärken, um sich jeder Forderung Polens nach einer erneuten Abtretung Ostgaliziens zu widersetzen. Tatsächlich könnte es Kiew sogar dazu ermutigen, dies präventiv zu verhindern, indem es die dortigen polnischen Investitionen einschränkt und darauf setzt, dass der sozioökonomische Einfluss Warschaus noch nicht den Punkt erreicht hat, an dem ein militärisches Eingreifen Polens problemlos möglich ist, was wiederum die sozioökonomische Grundlage für Warschaus Pläne ruinieren könnte.

Die sich verschlechternden Beziehungen zu Polen könnten Kiew dazu veranlassen, genau diesen Schritt zu unternehmen, und zwar unter dem Vorwand, damit auf die Entscheidung Warschaus zu reagieren, das Einfuhrverbot für die meisten ukrainischen Agrarprodukte aufrechtzuerhalten.

Wenn die Ausbreitung des polnischen sozioökonomischen Einflusses auf die Westukraine unkontrollierbar bleibt und gleichzeitig die strategische Abhängigkeit Kiews von Warschau zunimmt, erhöhen sich die Chancen erheblich, dass diese historisch umstrittene Region irgendwann wieder unter die militärische und politische Kontrolle Polens fällt. Das heißt, dass Kiew höchstens das nächste halbe Jahr Zeit hat, um zu verhindern, dass der Verlust der Westukraine zur vollendeten Tatsache wird. Die versprochene militärische Hilfe aus Berlin könnte Kiew ermutigen, zu handeln, bevor es zu spät ist.

Übersetzt aus dem Englischen.

Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien sowie auf Chinas Belt & Road Initiative, Russlands geopolitischen Balanceakt und hybride Kriegsführung spezialisiert hat.

Mehr zum Thema - Wie Polen still und heimlich die Kontrolle über die Westukraine übernimmt

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.

Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.