Polen und die Ukraine – Die neue NATO-Wache am Eisernen Vorhang 2.0
Von Rainer Rupp
Die in der Regel recht umfangreichen und sehr detaillierten Analysen der RAND-Organisation und den daraus entwickelten Strategievorschläge durch ihre Experten haben sich rückblickend immer wieder als Blaupausen für die US-Außen-, Sanktions- und Kriegspolitik erwiesen. Angesichts des über Jahrzehnte aufgebauten Prestiges und des politischen Einflusses von RAND im Pentagon und im US-Kongress ist das auch kein Wunder. Deshalb sollte man auch das jüngste Strategem von RAND, das zwar keine umfangreiche RAND-Studie im herkömmlichen Sinn ist, sondern als "Commentary"-Blog veröffentlicht wurde, nicht auf die leichte Schulter nehmen.
In dem gemeinsamen Kommentar zweier "außerordentlicher Senior Fellows bei RAND", nämlich William Courtney, u. a. Ex-US-Botschafter in Kasachstan und Georgien, und dem US-Militärhistoriker Peter Wilson, geht es um die zukünftige Rolle Polens und der Ukraine, die den beiden Ländern von Washington zugewiesen werden soll. Sie sollen die eisernen Torwächter am zentralen Frontabschnitt eines auf viele Jahre ausgelegten neuen Kalten Krieges werden, in dem natürlich die Schutzmacht USA – wie zu den Höhepunkten des ersten Kalten Krieges – ihre westlichen Vasallen dominieren und ihnen nach Belieben Bedingungen diktieren können.
Schon im ersten Absatz ihrer Veröffentlichung lassen die beiden RAND-Experten die Katze aus dem Sack: Die besonderen Erfahrungen Westdeutschlands aus der Nachkriegszeit könnten für Polen, aber vor allem für die Ukraine nützlich sein. Wörtlich heißt es:
"Im Kalten Krieg stand Westdeutschland mit robuster NATO-Unterstützung in der Mitte des Eisernen Vorhangs Wache. Mit Blick auf die Zukunft werden Polen und die Ukraine zusammen mit der NATO das Zentrum Europas am zentralen Frontabschnitt (gegen Russland) verteidigen. Erkenntnisse aus der westdeutschen Erfahrung könnten ihnen dabei helfen."
Um diese Aufgabe zu erfüllten, bräuchten "Polen und die Ukraine in Zukunft erheblich mehr militärische Unterstützung durch die NATO-Alliierten, aber weniger als Westdeutschland in den 1950er-Jahren", so die beiden RAND-Autoren. Dann wird die damalige Situation in Westdeutschland mit der aktuellen Lage verglichen. Anfang der 1950er-Jahre seien "die Aufrüstung der Bundesrepublik und ihr NATO-Beitritt ebenfalls umstritten gewesen", heißt es weiter. Damals habe Bundeskanzler Konrad Adenauer die westlichen Besatzungsmächte ebenfalls aufgefordert, ihre Streitkräfte zu verstärken und der Bundesrepublik eine Sicherheitsgarantie zu geben. Deutschland habe "diese Garantie durch den Beitritt zur NATO im Jahr 1955 erhalten", führen die Autoren weiter aus, um dann wieder die Ukraine ins Spiel zu bringen:
"Da der NATO-Beitritt der Ukraine noch ungewiss ist, bittet Präsident Wladimir Selenskij ebenfalls um eine eiserne Garantie, wenn auch nicht um NATO-Truppen vor Ort." Und dann kommt der bemerkenswerte Satz: Deutschlands Aufnahme in die NATO sei "trotz der Teilung Deutschlands und einiger Zurückhaltung in Europa, beispielsweise aus Frankreich, geschehen. Damals haben die USA den westdeutschen Beitritt unterstützt, und heute unterstützen sie den der Ukraine."
Des Weiteren sprechen sich die beiden Autoren für eine unabdingbar nötige US- und NATO-Präsenz in der Ukraine aus, egal wie der Krieg ausgeht, egal ob die Ukraine gewinnt oder verliert oder z. B. als Resultat eines Waffenstillstands geteilt wird. Weiter heißt es im Originaltext:
"Die Frage, die auf dem Tisch liegt, ist die Art einer umsichtigen militärischen Präsenz der USA und der Alliierten nach dem Krieg in Polen und der Ukraine. Wenn Russland militärisch aggressiv bleibt oder sein Krieg gegen die Ukraine in einem instabilen territorialen Kompromiss endet, könnten erhebliche US- und alliierte Streitkräfte in Polen und der Ukraine sowie in den baltischen Staaten und anderswo erforderlich sein."
Hier haben wir den Kern des RAND-Vorstoßes. Hinter der im Text benutzten Formel eines möglichen Ausgangs des Krieges mit einem "instabilen territorialen Kompromiss" versteckt sich natürlich nichts anderes als eine Teilung der Ukraine in eine Ost- und Westukraine. Der östliche Teil würde sich aus dem von Russland integrierten Donbass und weiteren Oblaste mit russischen Mehrheiten zusammensetzen, während der andere Teil aus der von den USA bzw. Der NATO weiterhin unterstützten Westukraine bestehen würde. Und dies Westukraine sollte dann so behandelt werden wie Westdeutschland, das 1955 – trotz Vorbehalten innerhalb der NATO und trotz seiner ungelösten territorialen Ansprüche an die DDR – in die NATO aufgenommen und zu einer Erfolgsgeschichte der NATO geworden ist.
Implizit unterstreichen die beiden Autoren mit dieser Argumentation, dass selbst eine Teilung der Ukraine ihrer Aufnahme in die NATO nicht entgegensteht. Auch das Problem ungelöster territorialer Ansprüche galt in den letzten Jahrzehnten als ein schier unüberwindbares Hindernis für ein Aufnahme in die NATO. Aber das Selenskij-Regime zeigt nicht eine Spur von Bereitschaft, seine Ansprüche auf den Donbass und die Krim im Rahmen einer umfassenden Friedenslösung aufzugeben, wodurch die Aufnahme in die NATO blockiert wäre. Dieses Problem versuchen beiden RAND-Experten mit dem Rückgriff auf den NATO-Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu lösen, denn Westdeutschland hatte bis in die 1970er-Jahre den Alleinvertretungsanspruch (Hallstein-Doktrin) für ganz Deutschland, also auch für die DDR, aufrechterhalten, und das sei ja auch kein Hindernis für den NATO-Beitritt gewesen.
Der Beitrag der beiden RAND-Experten ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Argumentationshilfe für US-Regierungsvertreter, die sich für den baldigen NATO-Beitritt der Ukraine einsetzen. Im weiteren Text wird dann klar, dass Washington unbedingt nach Mitteln und Wegen sucht, um unter dem Deckmantel der multinationalen NATO die Faschisten in der Ukraine bis an die Zähne zu bewaffnen und erneut zum Rammbock gegen Russland aufzubauen. Auch dabei gehen die beiden Autoren wieder sehr geschickt vor, indem sie eine scheinbar harmlose Beobachtung mit einer Bemerkung über Artikel V der NATO-Charta verbinden.
Laut der beiden RAND-Autoren ist die Zusicherung der NATO-Garantie bzw. des Beistands im Falle eines Angriffs auf ein Mitgliedsland von außen "glaubwürdiger, wenn sie an eine Präsenz alliierter Streitkräfte in Gebieten mit höherer Bedrohung gekoppelt ist". Das heißt mit anderen Worten, wenn NATO-Streitkräfte auf ukrainischem Territorium stehen, dann ist die NATO-Garantie wirklich glaubwürdig. Weiter heißt es dann:
"In Zukunft könnte eine stärkere Militärpräsenz (in der Ukraine) unerlässlich sein, um die Abschreckung eines ungebeugten Russlands zu stärken und mit Logistik und High-End-Unterstützung zu helfen, was z. B. Nachrichtendienste, Überwachung und Aufklärung, Luft- und Raketenabwehr, Raketenartillerie, Kampfflugzeuge, elektronische Kriegsführung und Spezialoperationen umfassen könnte und wovon die Vereinigten Staaten bereits einen Teil liefern."
"Eine erweiterte US-Militärpräsenz in Polen und der Ukraine würde wahrscheinlich neue Fähigkeiten mit sich bringen. Eine dichte russische Luftabwehr an der zentralen Front könnte die Vereinigten Staaten dazu anspornen, F-35-Stealth-Jäger einzusetzen, die mit Raketen der nächsten Generation bewaffnet sind. Die US-Streitkräfte könnten die fortschrittliche Präzisions-Langstreckenrakete (PrSM) mitbringen, eine Fortsetzung der ballistischen ATACMS-Rakete, die die Vereinigten Staaten der Ukraine möglicherweise bald zur Verfügung stellen."
"In den kommenden Jahren werden Polen und die Ukraine über viel größere Streitkräfte verfügen als Westdeutschland in den ersten Jahren. Polen hat dann vielleicht 325.000 aktive Soldaten, die Ukraine fast 700.000. Diese Kräfte werden modernisiert und gehören zu den stärksten im demokratischen Europa. Zudem sind die Ukrainer kampferprobt für moderne Kriegsführung mit hoher Intensität."
An anderer Stelle ihres Papiers findet man die Vergleichszahlen für Russlands:
"Heute verfügt Russland möglicherweise nur noch über insgesamt 830.000 Soldaten, von denen viele schlecht ausgebildet oder durch den Krieg in der Ukraine enorm geschwächt sind."
Trotz dieser angeblichen Schwächung der russischen Streitkräfte werde auch in Zukunft eine NATO-Präsenz vor Ort in der Ukraine "wahrscheinlich unerlässlich" sein, so die RAND-Experten weiter, "denn das Risiko eines unerwarteten russischen Angriffs oder eines militärischen Durchbruchs könnte zu hoch sein. Russland könnte sich, vielleicht mit chinesischer Hilfe oder mit neuen Technologien oder mit einer Kriegslist, einen destabilisierenden Vorteil verschaffen." Kurzum, alle Argumente verlangen unbedingt eine starke US-/NATO-Präsenz in der Ukraine, vor allem in einer Teilukraine.
Fazit
Die Autoren dieses RAND-Papiers haben die von Selenskij zum Tabu erhobene Formel von der territorialen Integrität der Ukraine in ihren Grenzen von 1991 vollkommen ignoriert und gehen bereits von einer geteilten Ukraine aus, was in offensichtlichem Widerspruch zu ihrer Aussage über das angeblich nachhaltig geschwächte Russland steht.
Darauf folgt die Frage: Warum stellen sie Russland so schwach dar? Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann man davon ausgehen, dass die beiden RAND-Experten über die tatsächlich katastrophale Lage in der Ukraine, sowohl an der Front als auch in der Wirtschaft, Bescheid wissen. Dennoch haben sie darüber kein Wort verloren. Auch die Tragödie der ukrainischen Gegenoffensive, die trotz westlicher "Wunderwaffen" unter extrem hohen Verlusten an Menschen und Material total gescheitert ist, wird von den beiden Experten mit keinem Wort erwähnt.
Offensichtlich wollen die beiden RAND-Propagandisten das Bild von einer starken Ukraine mit einer hochgerüsteten, 700.000 Soldaten starken Armee als wertvolles neues NATO-Mitglied vermitteln. Zugleich vermeiden sie alles, was die Ukraine als das zeigt, was sie für die NATO wäre: ein höchst unzuverlässiger, korrupter Partner, der skrupellos genug ist, für seine fanatisierten ideologischen Zwecke die NATO in einen großen Krieg gegen Russland zu verwickeln. Einen solchen Krieg könnte die NATO selbst laut umfangreichen RAND-Studien nicht gewinnen, Allerdings würden die europäischen NATO-Länder am meisten leiden.
Derartige Überlegungen sind den kriegstreibenden Russenhassern in der Biden-Regierung und in großen Teilen des US-Kongresses fremd. Ihnen geht es um eine möglichst schnelle Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO, die den Weg freimacht, US-amerikanische militärische Infrastruktur in der Ukraine zu platzieren, um Moskau unter dem Druck permanenter Bedrohung gefügig zu machen und Russland aus der strategischen Partnerschaft mit China zu lösen.
Aber die Autoren haben die Rechnung ohne den russischen Wirt gemacht. Schließlich war einer der erklärten Hauptgründe für Russlands "militärische Spezialoperation" die Absicht gewesen, die Aufnahme der Ukraine in die NATO zu verhindern und alle Versuche des Westens, das Territorium der Ukraine mit Stoßrichtung Moskau zu militarisieren, zu stoppen oder rückgängig zu machen. Und der Kreml scheint heute fester entschlossen zu sein denn je, die Spezialoperation nicht zu stoppen, bevor die Bedrohung durch die NATO vor der russischen Haustür eliminiert ist. Daher ist nicht anzunehmen, dass Russland sich mit einer von den RAND-Autoren vorgezeichneten Option zufriedengeben wird, wenn auch nur ein Teil der Ukraine Mitglied der NATO wird.
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