Selenskij fleht die USA um Hilfe an
Von Jewgeni Balakin
Wir beschlossen jedoch, die Details nicht zu vernachlässigen, und analysierten das Material in seiner Gesamtheit. Zunächst einmal hier das vollständige Zitat von Selenskij zu den Verhandlungen mit Russland:
"Zu gewinnen bedeutet, der Ukraine zu helfen, wirtschaftlich zu gewinnen, auf dem Schlachtfeld stark zu sein, und sie politisch zu unterstützen. Wir müssen nicht alle unsere Gebiete ausschließlich militärisch befreien. Ich bin sicher, wenn er (Putin – Anm. d. Red.) die Gebiete verliert, die er seit 2022 erobert hat, verliert er das volle Vertrauen auch derjenigen Länder, die noch daran zweifeln, ob sie die Ukraine unterstützen sollen oder nicht, und auch im eigenen Staat wird er an Macht verlieren. Sobald das passiert, wird er zum Dialog bereit sein. Derzeit will er keinen Dialog. Und wenn er zum Dialog bereit sein wird, sollte die Befreiung unserer Gebiete, die territoriale Integrität der Ukraine, natürlich eine internationale Bedingung sein. Wie das geschehen wird, mit welchen Mitteln, in welcher Zeit, wer daran teilnehmen soll, mit wem die Verhandlungen geführt werden – das ist alles zweitrangig."
Betrachtet man den Text genau, ohne zu viel Fantasie: Hier steht nichts, was wörtlich als "plötzlicher Verzicht auf eine zentrale Forderung", als Bereitschaft, "die Krim und den Donbass aufzugeben", verstanden werden kann – und genau so haben einige russische Medien die Äußerungen von Selenskij bewertet.
In gewisser Weise kann man hier die mögliche Aufnahme von "Verhandlungen über die Rückkehr zu den Grenzen von 1991" (d. h. ohne die tatsächliche Kontrolle Kiews über die Krim) sehen, aber dieses rhetorische Mittel wird durch die "internationale Bedingung" für die "territoriale Integrität der Ukraine" zunichte gemacht.
Es besteht kein Zweifel daran, dass sich das Wort "international" in erster Linie auf Länder bezieht, die das Kiewer Regime unterstützen und die Krim nicht als russisches Gebiet anerkennen. Und da lediglich sieben Staaten die Krim als Teil Russlands anerkannten (weitere 18 Länder votierten gegen die Resolution 68/262 der UN-Generalversammlung zur Unterstützung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine, die am 28. März 2014 verabschiedet wurde), wäre es ungerechtfertigter Optimismus, von der internationalen Gemeinschaft eine eindeutige Unterstützung für die Interessen Russlands zu erwarten.
In den Schlussworten von Selenskij ist ein weiterer Hinweis auf eine Aufweichung seiner Position zu erkennen: Er erklärt, dass die Wiedereroberung der Gebiete mit großen Opfern verbunden sein werde, aber "die Menschen sind, ehrlich gesagt, viel wichtiger". Diese "friedliebende" Äußerung wird jedoch sofort durch eine andere konterkariert: "Putin will uns vollständig zerstören, sowohl Gebiete als auch Menschen." Deshalb wird das Kiewer Regime nicht aufhören und weiterhin immer mehr Menschen in den Schmelztiegel des Krieges werfen, um Gebiete zurückzuerobern.
Es ist naiv zu glauben, dass Selenskij in dem erwähnten Interview seine Bereitschaft zu Verhandlungen signalisiert. Vielmehr verkündet er einen Wechsel der Taktik: militärischer Sieg kombiniert mit politischem Sieg. Doch die öffentliche Erwähnung der Grenzen von 2022 durch jemanden, der diese Idee zuvor vehement abgelehnt hatte, ist kein Zufall.
An wen richtet sich dieses Interview? In erster Linie an das amerikanische Publikum. 34 Minuten lang fleht Selenskij auf Ukrainisch und Englisch immer wieder um Hilfe.
Zunächst sagt er, dass die ukrainischen Streitkräfte die Front zwar hätten stabilisieren können, aber sofortige militärische Unterstützung benötigten, um mit Russland Parität zu erreichen. Und er bittet um drei Dinge: fünf bis sieben Patriot-Anlagen, um den Luftraum zu befreien und an der Front voranzukommen, Artillerie und deren Munition sowie Langstreckenraketen, um "abschreckende" Schläge tief in das russische Hoheitsgebiet zu führen. Dies ist für die Vereinigten Staaten selbst umso vorteilhafter, als Waffenlieferungen das internationale Prestige ihres militärisch-industriellen Komplexes erhöhen und 75 bis 80 Prozent der bereitgestellten Finanzmittel in den Vereinigten Staaten selbst verbleiben.
Zweitens beklagt Selenskij, dass das internationale Informationsfeld aufgrund der Ereignisse im Nahen Osten und der Eskalation um Taiwan nicht auf die Ukraine fokussiert sei, während "der Krieg, den Russland vor zehn Jahren gegen die Ukraine begonnen hat", diese Ereignisse an Bedeutung übertreffe.
Drittens bedauert er, dass die Frage der Mittelzuweisung für die Ukraine zum Gegenstand eines politischen Kampfes innerhalb der USA geworden sei, aber es sei notwendig, dass der Kongress der Tranche so bald wie möglich zustimme, da die Wahlen "noch abgehalten werden müssen". Und er hoffe, dass die Unterstützung unabhängig vom Wahlergebnis nicht eingestellt werde.
Aber die wichtigste Strategie, auf die Selenskij zurückgreift, ist die Einschüchterung. Wenn der US-Kongress nicht helfe (und das hätte er "schon gestern" tun sollen), werde die ganze Welt in Gefahr geraten. Da Putin die Ereignisse der 80er und 90er Jahre nicht verzeihe, werde er seine Expansion fortsetzen: "Jetzt wir, dann Kasachstan, dann die baltischen Staaten, dann Polen, dann Deutschland – mindestens die Hälfte Deutschlands. Er wird dorthin zurückkehren". Folglich werde Putin "die NATO in den Krieg ziehen", und amerikanische Soldaten würden in Europa sterben. Deshalb sollten die Vereinigten Staaten die Ukraine "jetzt sofort" (vor den US-Wahlen im November und Russlands erwarteter Offensive im Mai oder im Juni) unterstützen – eine Aussage, die sich durch das gesamte Interview zieht.
Um die Bedrohung noch größer erscheinen zu lassen, versucht Selenskij, die Person Wladimir Putin noch düsterer zu gestalten. Er verwendet sogar Redewendungen wie "wenn er ein Mensch ist". Und natürlich schiebt er dem russischen Präsidenten die Schuld an den Ereignissen in der Crocus City Hall zu, denn wenn er [Putin] auch nicht der Organisator des Terroranschlags gewesen sei, so habe er ihn doch absichtlich geschehen lassen, um die Gesellschaft vor der bevorstehenden [russischen] Offensive an der Front künstlich zu mobilisieren.
Das ist die relativ einfache "Formel" von Selenskij: Gebt uns heute alles, was wir brauchen – oder ihr steht morgen Putin Auge in Auge gegenüber. Und der Verweis auf die Grenzen von 2022 ist hier ganz logisch. Sie verweist auf die Angreifbarkeit der Ukraine (also "helft uns" – und zwar "sofort") und dient als verspätete Rechtfertigung für die "negativen Erfolge" der [ukrainischen] Gegenoffensive, die bis zu den Grenzen von 1991 vordringen sollte. Es wird versucht, mit den Ängsten der Entscheidungsträger in den Vereinigten Staaten zu spielen und ihnen in gewissem Maße Argumente zu liefern, um eine proukrainische Lösung im Kongress durchzusetzen – aber es ist voreilig, von einem Verzicht [von Selenskij] auf "zentrale Forderungen" zu sprechen. Selenskij fleht Russland keineswegs um Verhandlungen an – er fleht die USA um militärische Unterstützung an.
Doch je weiter unsere Truppen vordringen, desto eher wird dieses Oberhaupt eines untergehenden Staates verstehen, wen genau und in welcher Sprache man anbetteln muss.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 1. April 2024 zuerst auf RIA Nowosti erschienen.
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