"Neues Ethisches Reich" – Wenden sich jetzt schon Russlands Liberale vom Westen ab?
Ein Kommentar von Paul Robinson
Wenn ein hochkarätiger russischer Theaterregisseur im Standardblatt der liberalen Szene des Landes Platz für einen Beitrag bekommt, in dem er das heutige Westeuropa als "Neues Ethisches Reich" beschreibt, dann zeichnet sich eindeutig eine Herausforderung für das traditionelle Dogma der besagten Szene ab.
"Der russische Liberale ist eine gedankenlose Fliege, die im Strahl der Sonne schwirrt; diese Sonne ist die Sonne des Westens."
Dies sagte der russische Philosoph Pjotr Tschaadajew im 19. Jahrhundert. Wo die russischen Konservativen die Grundposition vertreten, dass Russland sich vom Westen unterscheidet und einem eigenen Entwicklungsweg folgen sollte, besteht die der russischen Liberalen darin, dass für alle Nationen die gleichen Regeln der historischen Entwicklung gelten und dass "rückständigere" Länder – wie eben Russland – daher den gleichen Weg wie die "fortgeschritteneren" gehen müssen, also den Weg des Westens.
Von hier aus ist der Schritt zu dem Glauben, dass der Westen "gut" und Russland "schlecht" ist, kein allzu weiter. Ein Beispiel für diese Art des Denkens erschien im letzten Monat in der Online-Zeitung Republic.ru in Form eines Artikels von Dmitri Gubin, eines in Deutschland lebenden russischen Journalisten, der eine regelmäßige Sendung beim liberalen Radiosender Echo Moskwy führt.
Gubin schrieb:
"Ich bin kein Patriot. Ich liebe Russland nicht. (…) Ich liebe das russische Volk nicht, und ich halte es nicht für ein großartiges Volk – aus dem einfachen Grund, dass es kein russisches Volk gibt, zumindest nicht in der Art, wie das Volk im Westen existiert. (…) Wo das Hauptinstrument des Überlebens für westliche Völker der Kampf um ihre Rechte ist, wird es für das russische Volk von Konformismus, Opportunismus und Doppeldenken gebildet. (…) Die größten Errungenschaften der russischen Kultur fanden immer nur dann statt, wenn sie sich dem Westen öffnete und vom Westen lernte."
Gubins Position ist ein bisschen extrem, aber nicht untypisch: Denn für die russische Liberale ist der Westen alles, was Russland sein sollte, aber zu ihrem Bedauern nicht ist. Umso brisanter wirkt dadurch ein neues Manifest, das in der liberalen Zeitung Nowaja Gaseta veröffentlicht wurde.
Das von dem Theaterregisseur Konstantin Bogomolow (auch bekannt als Ehemann der Salonlöwin und einstigen Präsidentschaftskandidatin Xenia Sobtschak) verfasste, in einer aufrührerischen, ja beleidigenden Sprache gehaltene Manifest mit dem Titel "Der Raub Europas 2.0" verdammt den modernen Westen als ein Entwicklungsmodell für Russland in Grund und Boden. Russland solle es besser zugunsten einer "neuen rechten Ideologie" ablegen, fordert Bogomolow.
Bogomolow würdigt seine liberalen Freunde in Russlands "kreativen Schichten" in einer kurzen Huldigung: Er verleiht einer Liebe zu dem Europa, das er und andere in den 1990er-Jahren herbeisehnten, Ausdruck; er äußert einen Hass auf "den Geist der Gewalt und die Atmosphäre der Angst" in Russland aus; und er gibt Leuten wie Gubin "in vielerlei Hinsicht" recht, wenn sie die "Knastwarte und Sklaven" anprangern, aus denen ihren Worten nach das russische Volk besteht. Doch dann schlägt er eine ganz andere Richtung ein. In einer Sprache, die ihn in weiten Teilen des Westens aus der feinen Gesellschaft ausschließen dürfte, schreibt Bogomolow:
"Die gegenwärtige westliche Welt ist dabei, sich in ein Neues Ethisches Reich umzuformen, komplett mit einer eigenen Ideologie – der 'neuen Ethik'. Der Nationalsozialismus ist Sache der Vergangenheit. Wir stehen vor einem ethischen Sozialismus, einem queeren Sozialismus. Siemens, Hugo Boss und Volkswagen haben sich in Google, Apple und Facebook verwandelt, und die Nazis sind einer ebenso aggressiven und ebenso nach einer totalen Neuformatierung der Welt lechzenden Mischung aus Queer-Aktivisten, Feminismus-Fanatikern und Öko-Psychopathen gewichen."
Bogomolow stellt einen Vergleich an, demzufolge die Nazis kontrollierten, was die Menschen sagten – wohingegen moderne westliche Totalitaristen zudem kontrollieren wollen, wie sich die Menschen fühlen. Dabei führen Übertretungen zum Verlust des Arbeitsplatzes oder Schlimmerem – und Unternehmen, die soziale Medien betreiben, agieren als neues "Wahrheitsministerium", das die Einhaltung der Vorschriften erzwingt. Im weiteren Verlauf seines Beitrags klingt Bogomolow auffällig nach den Reaktionären der konservativen russischen Denkfabrik Isborsk-Klub oder ultrakonservativen Denkern wie Alexander Dugin (und bezieht sich dabei auf die Figur des Schwonder in Michail Bulgakows Roman "Hundeherz"):
"Ich verabscheue den Geist der Gewalt und die Atmosphäre der Angst [in Russland]. Aber das bedeutet nicht, dass ich die Verwandlung des Landes der Knastwarte und Sklaven in ein Land akzeptiere, in dem nicht aus Angst verpfiffen wird, sondern vom ganzen Herzen, in dem Menschen sich nicht aus Rückständigkeit mobben, sondern aus lauter Aufgeklärtheit, in ein Land, in dem bunte (oder auch weiße) BLM-'Schwonder' in Häuser eindringen und verlangen, dass Professoren niederknien und zum Zwecke der Hilfe an die hungernden Floyds ihren Wohnraum teilen und Geld spenden."
Der besagte ultrakonservative Dugin erklärte einst:
"Ich liebe den Westen. (…) Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, als diese liberale, globalistische Ideologie triumphierte, war der Westen ein Juwel. Der Westen produzierte kühnes Gedankengut, schönes Gedankengut, sonniges Gedankengut. (…) Ich befinde das heutige Europa für antieuropäisch. Ich kann den Westen in seinem jetzigen Zustand einfach nicht akzeptieren."
Und sogar Bogomolow – selbst eigentlich ein Liberaler – stimmt dem zu:
"In den 1990er-Jahren strebte Russland danach, Teil Europas zu sein, (…) zu den europäischen Werten zurückzukehren, den Werten des schönen Vorkriegseuropas."
Doch dieses Europa ist verschwunden, beklagt er und schreibt sogleich gegen einen historischen Determinismus an, demzufolge Russland dem europäischen Weg folgen müsse:
"Russische Intellektuelle sagen uns: Russland hinkt dem Fortschritt hinterher. Nein. Dank einer Verkettung von Umständen sind wir im Heck eines Zuges des Wahnsinns gelandet, der mit Volldampf auf eine Hölle des Hieronymus Bosch zurast, in der uns multikulturelle, geschlechtsneutrale Teufel erwarten. Wir müssen einfach den Waggon abkoppeln, uns bekreuzigen und anfangen, eine neue Welt aufzubauen – unser altes, geliebtes Europa wieder aufzubauen, das Europa, von dem wir geträumt haben, das Europa, das ihnen verlustig ging. Das Europa des gesunden Menschen."
Die Nowaja Gaseta billigte Bogomolows Manifest zwar nicht offiziell – doch hielt man es in der Redaktion der Zeitung für akzeptabel, den Artikel zu veröffentlichen. Und diese Tatsache sagt uns etwas, das die Menschen im Westen vielleicht nicht verstehen: Der russische Liberalismus kann zuweilen sehr illiberal sein.
In den Augen der russischen Liberalen sind weder Bogomolow noch seine Gemahlin Sobtschak völlig "handschlagfähig" (der entsprechende russische Ausdruck wird von der russischen Liberalen als Synonym zu "gesellschaftsfähig" in einem spezifischen Sinne von "dieselben Werte teilend" gebraucht; Anm. d. Red.): Trotz ihrer vermeintlichen Abneigung gegen den verhassten russischen Staat gelten sie vielen als allzu kompromissbereit gegenüber den Behörden (so hatte sich Bogomolow in den frühen 2010er-Jahren Antiregierungsprotesten angeschlossen, unterstützte jedoch später den Moskauer Bürgermeister Sergei Sobjanin bei den Bürgermeisterwahlen im Jahr 2018).
Dennoch sind sie Teil der Familie der liberalen Intelligenzija – eine Tatsache, die Bogomolows Text umso schockierender macht. Wäre Dugin der Urheber des Beitrags, hätte man diesen als reaktionären Unsinn abtun können. Aber wenn er von einem hochdekorierten Theaterregisseur kommt – und dazu noch im Flaggschiff der liberalen Presse Russlands, der Nowaja Gaseta, veröffentlicht wird! –, gleicht dies einem großen scharfen Dolch im Rücken des russischen Liberalismus.
Ebenfalls bezeichnend ist Bogomolows Wahl des Zeitpunktes. Die Proteste, die auf die Verhaftung von Alexei Nawalny im letzten Monat gefolgt waren, sollten den Russen die Möglichkeit geben, sich zum Kampf gegen den Staat zusammenzuschließen. Passiert ist jedoch das genaue Gegenteil: Zuerst hatte der Gründer der liberalen Jabloko-Partei, Grigori Jawlinski, Nawalny wegen seiner angeblichen autoritären Tendenzen angeprangert. Und nun outete sich auch Bogomolow und stellte die grundlegendste Überzeugung der russischen Liberalen in Frage – die Überlegenheit und Unumgänglichkeit des westlichen Modells.
Ein anderer russischer Philosoph des 19. Jahrhunderts, Stepan Schewyrjow, bemerkte:
"In unserer Beziehung der aufrichtigen, der innigsten Freundschaft mit dem Westen merken wir nicht, dass wir mit einem Menschen zu tun haben, der gleichsam ein böses, ansteckendes Gebrechen in sich trägt, den eine Atmosphäre gefährlichen Odems umgibt. Wir küssen und umarmen ihn, teilen mit ihm das Mahl des Gedanken, trinken den Becher des Gefühls (…) und bemerken nicht das verborgene Gift in unserer unbekümmerten Geselligkeit, wittern in der Heiterkeit des Festschmauses nicht der zukünftigen Leiche – nach der er bereits riecht."
Seit 200 Jahren singt die russische Konservative dieses Mantra. Jetzt schon zu folgern, dass die russischen Liberalen den Westen entliebt hätten, wäre verfrüht – doch wenn die Nowaja Gaseta jetzt anfängt, mit der gleichen Zunge zu reden, geht definitiv etwas Seltsames vor sich.
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Übersetzt aus dem Englischen. Paul Robinson ist Dozent an der Universität von Ottawa. Er schreibt über russische und sowjetische Geschichte, Militärgeschichte und Militärethik und ist Autor des Blogs Irrussianality.
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