Von der Orientfrage zum Nahostkonflikt: Die lange Liste der Lösungen
von Karin Kneissl
Als das Osmanische Reich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs zerbrach, wurde die "Question Orientale", wie Diplomaten von Sankt Petersburg bis Paris das Dossier nannten, gemäß der militärischen Verhältnisse von 1918 abgewickelt. Briten und Franzosen teilten untereinander die ehemaligen osmanischen Provinzen in neue Nationalstaaten auf, die vorerst als Mandate kolonial verwaltet wurden. War im Geheimabkommen von 1915, der Sykes-Picot-Korrespondenz, noch eine internationale Verwaltung der religiösen Stätten rund um Jerusalem vorgesehen, sollten ab 1923 die Briten Palästina westlich des Jordans ganz übernehmen. Östlich davon entstand für die einst mächtigen Haschemiten ein kleines Königreich namens Transjordanien.
Die späten Nationalbewegungen
Der jüdische Nationalismus war ebenso wie die arabischen Nationalbewegungen ein Spätling. Theodor Herzl hatte um 1900 zwischen Wien und Paris, wo er den antisemitischen Justizskandal um den Offizier Alfred Dreyfuss beobachtete, die zionistischen Schriften verfasst. Ihm ging es anfänglich um einen säkularen Judenstaat, eine Art Utopia. Madagaskar wie auch Uganda standen als zukünftige Staatsgebiete auf der Agenda. Auf einem der ersten Zionistenkongresse in Basel setzten sich die "Hovevei Zion", wörtlich "Liebhaber Zions" aber durch. Damit war klar, ein jüdischer Staat sollte wieder dort gegründet werden, wo er 2000 Jahre zuvor von den Römern in Palästina beendet worden war. Es war aber kein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land.
Die ansässige Bevölkerung, Araber und Juden gleichermaßen, wie auch Türken, Beduinen oder levantinische Kaufleute, sahen sich zu dem Zeitpunkt nicht als Palästinenser. Vielmehr empfanden sich viele als Syrer, wie die Befragung im Auftrag der King-Crane-Kommission ergab. Ein palästinensisches Nationalbewusstsein entstand allmählich mit der Vertreibung nach dem Krieg von 1948 mit der Gründung Israels. Das Rückkehrrecht der Flüchtlinge ist wie die Jerusalemfrage ein heißes Eisen.
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Der Teilungsplan der UNO-Generalversammlung von 1947 wurde nicht umgesetzt, vielmehr ging es beim Gebietserwerb von Anbeginn um die "faits accomplis" auf dem Schlachtfeld. Als ich für meine Dissertation zum Grenzbegriff in den Archiven des Büros des Premierministers in Jerusalem 1988 forschen durfte, stieß ich auf die Telegramme, die der erste Premier David Ben-Gurion an seinen UNO-Botschafter Abba Eban schickte. Grundtenor der Korrespondenz war: Grenzen werden nicht besprochen, alles wird militärisch entschieden.
Grenzenlos
Wenn in UNO-Resolutionen von "Israel in den Grenzen von 1967" die Rede ist, dann ist dies mehrfach falsch. Denn Israel hat sein Staatsgebiet mit Hinwies auf den Kriegszustand bis heute nicht definiert. Der Sechstagekrieg im Juni 1967 endete mit einer Feuerpause, nicht einmal mit einem ausverhandelten Waffenstillstand wie 1949. Und seither verschwimmen die Linien infolge von Siedlungsbau und Sicherheitszonen. Es sind Grenzräume aber nicht Grenzlinien, die zwischen den sogenannten palästinensischen und israelischen Siedlungsgebieten in dauernder Bewegung sind. Das Englische kennt ebenso wie die russische Sprache zwei unterschiedliche Begriffe: Der Grenzraum ist die "frontier", die "kraijna", oft gekennzeichnet von militärischer Besatzung und unklaren Machtverhältnissen. Die Grenzlinie hingegen steht für klare Begrenzung der Souveränität. Sie ist die "border/boundary" und im Russischen die "graniza". Seit Jahrzehnten verschieben sich die Gebiete im Namen des Palästinakonflikts. Und nicht nur dort. Die israelische Okkupation im Südlibanon von 1978 bis 2000 zeichnete sich ebenso durch eine Mischung von landwirtschaftlichen und militärischen Veränderungen aus, um Gebiete zu erweitern.
Der israelische Siedlungsbau ist die Konstante in der langen Liste der Gewalt, deren Beginn sich eventuell mit den schweren Auseinandersetzungen von Hebron 1929 festsetzen lässt. Angesichts der vor dem Nationalsozialismus flüchtenden Juden aus Europa versuchte die britische Mandatsverwaltung, die Einwanderung zu stoppen, da die Auseinandersetzungen mit der ansässigen arabischen Bevölkerung wuchsen. London entsandte 1937 eine fact-finding Mission unter dem Vorsitz von Lord Peel, dessen Bericht alles sagt, was es zum Nahostdrama zu sagen gibt: Erstens ist jeglicher Siedlungsbau einzustellen, zweitens müssen die Feindseligkeiten gestoppt werden.
Sämtliche UNO-Resolutionen wiederholen diese Forderungen seither. Die Texte werden länger und ambivalenter. Lesbar war noch die Sicherheitsratsresolution 242 von 1967 gleich nach dem Sechstagekrieg. Auf einer Seite steht in einigen Absätzen, was alles erforderlich ist, um eine Lösung zu finden. Mitten im Kalten Krieg einigten sich die fünf Veto-Mächte auf diesen Text, der sich durch klare Sprache und Lesbarkeit von den Dokumenten unserer Zeit abhebt. Die israelische Armee zog sich 1979 mit dem Friedensvertrag mit Ägypten aus dem Sinai zurück, 2005 ohne Vereinbarungen mit der palästinensischen Seite erfolgte unter Ariel Scharon der Abzug Tausender Siedler aus dem Gazastreifen. Doch die israelische Armee unternahm seither regelmäßig Offensiven in Gaza. Das Abkommen von Oslo 1993 brachte für zwei Jahre hohe Erwartungen, wurde aber mit der Ermordung des israelischen Premiers Jitzchak Rabin zu Grabe getragen. Das Problem mit Oslo war, dass die Vermittler auf Verhandlungsdynamik setzten, aber die großen Knackpunkte, wie den Status von Jerusalem offen ließen.
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Weitere völkerrechtswidrige Annexionen im Westjordanland, wie sie bereits 1980 mit dem Golan und Ostjerusalem erfolgt waren, standen seit 2018 auf der Agenda von Premier Benjamin Netanjahu. Manche Stimmen meinten, die "Abraham-Abkommen" mit einigen arabischen Golfstaaten seien dem zuvorgekommen. Die Palästinafrage kam in keinem dieser Dokumente, die mehr wie Handelsverträge aussehen, zentral vor. Die Palästinafrage war ohnehin spätestens mit dem Ausbruch der arabischen Revolten von 2011, den Kriegen in Syrien und Libyen, völlig in den Windschatten der Regionalkonflikte getreten. Wer sprach noch von den Palästinensern? Ihre Mobilisierungskraft schien vorbei.
Nun aber wird im Namen Palästinas wieder heftig von London bis Berlin und in der gesamten islamischen Welt protestiert. Ereignisse in Jerusalem lassen niemanden kalt. Einige Demonstranten skandieren aber zugleich alte und neue Parolen des Antisemitismus. Die Emotionen auf den Straßen gehen hoch, ob in Europa oder im Nahen Osten. Lynchjustiz und blinder Hass in alle Richtungen begleiten die alten Territorialkonflikte.
Zugleich brechen alte Bruchlinien zwischen den israelischen Arabern und den jüdischen Israelis auf. Auch das ist nichts Neues, nur der Grad der Gewalt ist neu, aber gerade die fragmentierte israelische Gesellschaft ist nicht gegen Balkanisierung à la Jugoslawienkrieg gefeit. Milizen anstelle der Armee machen sich breit.
Alles in Limbo
Noch legen die USA im UNO-Sicherheitsrat ein Veto gegen eine Feuerpause ein. Im Sommer 2006 ließ man Israel und die Hisbollah sehr zum Leidwesen der libanesischen Zivilbevölkerung einander tagelang beschießen. Aber auch diese Entladung von Gewalt wird sich in den nächsten Tagen vielleicht auslaufen, nur um einen neuen Anlauf in absehbarer Zeit zu machen. Nach rund zehn Tagen militärischer Gewalt lässt sich folgendes festhalten: Die Palästinafrage ist wieder zurück. Die Regionalmächte, vor allem jene, die Netanjahu als Partner gewann, sind im Dilemma. Die UNO ist gelähmt. Die USA wollen von all dem nicht belästigt werden. Russland hat Gesprächsforen angeboten, die aber die ohnehin schmollenden Europäer nicht aufgreifen werden. China ist ein wichtiger Partner Israels aber auch vieler arabischer Staaten und wird vielleicht bei der nächsten Runde geopolitisch mitmischen.
Es ist alles, aber wirklich alles zu diesem Drama bereits gesagt worden. Der Bericht des britischen Parlamentariers Lord Peel von 1937 enthält die beiden wesentlichen Forderungen, nämlich Einstellung des Siedlungsbaus und der Feindseligkeiten. 2021 herrscht allgemeine Ratlosigkeit. Kriegsverbrechen greifen um sich. Ein Anfang wäre schon gemacht, wenn zumindest die Grundregeln der Kriegsführung eingehalten werden.
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