Terroristen-Glückwünsche aus Idlib an die Taliban – Doch wie stehen die Taliban zum IS-Ableger?
von Seyed Alireza Mousavi
Im Verlauf der öffentlich zelebrierten Evakuierung des Westens kamen am Donnerstag bei den Explosionen vor dem Flughafen von Kabul wohl mindestens 13 US-Soldaten und 72 Afghanen ums Leben. Daneben gab es noch unzählige Verletzte. ISIS-K, ein Ableger des "Islamischen Staates" (IS) hat sich bereits zu den Anschlägen bekannt, wie das Propagandamagazin dieser Terrorgruppe mitteilte.
Die Terrororganisation Al-Qaida wird im Schatten der Machtübernahme der Taliban langsam stärker. Wohlwissend, dass die IS-Dschihadisten Anschläge planen, sind US-Amerikaner und Taliban bereits eine ungewöhnliche Allianz gegen den IS eingegangen: Zu Wochenbeginn war der CIA-Direktor William Burns nach Kabul geflogen, um sich insgeheim mit dem Taliban-Führer Mullah Baradar zu treffen. Der CIA-Direktor soll dabei seine Bedenken über die Stärkung der IS den Taliban mitgeteilt haben. Obwohl westliche Kartellmedien in den letzten Tagen die Machtübernahme der Taliban dämonisiert haben, hatten die USA schon längst der Weg für Rückkehr der Milizen auf die politische Bühne freigemacht. Mullah Baradar wurde 2010 durch Geheimdienst Pakistans (ISI) und die CIA festgenommen und befand sich dort seit 2013 im Hausarrest. Im Oktober 2018 wurde er jedoch auf Drängen aus Washington, D.C. wieder freigelassen.
Die Taliban haben mehrfach in letzter Zeit der Weltgemeinschaft und den Nachbarländern versichert, dass von afghanischem Boden durch sie keine Gefahr ausgeht, wobei sie auch jeglichen Verdacht einer Zusammenarbeit der Taliban mit IS-Ablegern zurückgewiesen haben. Das offizielle Statement der Taliban-Milizen zur Terrororganisationen hinderte allerdings die IS-Ableger in Syrien und im Irak nicht, die Machtübernahme der Taliban lautstark zu begrüßen.
Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS), das Syriens nordwestliche Provinz Idlib kontrolliert und mit der Türkei Kooperationen pflegt, gratulierte den Taliban in einer Erklärung vom 18. August zu ihrer "Eroberung" Afghanistans. Viele andere Dschihadistische Gruppen, die der HTS gegenüber feindlich eingestellt sind, folgten ebenfalls und lobten, was sie als "Sieg" der Taliban in Afghanistan bezeichneten. Die Gruppen namens Firqat al-Ghuraba und Jund al-Sham gaben separate Erklärungen ab, in denen sie der Taliban-Bewegung zu ihrem Vormarsch gratulierten.
Die Glückwünsche der Terrorgruppen in der syrischen Enklave Idlib lassen die Frage aufkommen, wie eigentlich die Taliban-Bewegung sich ihrerseits zu den IS-Ableger in der Region positioniert und welche Konsequenzen die Machtübernahme der Taliban möglicherweise auf eine Neuorientierung der Dschihadisten besonders im Nahen Osten haben kann.
Im Zuge ihres reibungslosen Vormarsches in Afghanistan in den letzten Wochen ließen die Taliban tausende Häftlinge aus Gefängnissen frei. Einige der IS-Anführer wurden zwar dann durch die neuen Machthaber in Kabul sogleich erschossen, aber viele Anhänger der Dschihadisten gerieten trotzdem auf freien Fuß. Die Taliban-Führung hat im Grunde Interesse daran, ihre neuerliche Herrschaft nicht als Bedrohung für Nachbarländer und großen Mächte spürbar zu machen. Jedoch haben sich die Taliban noch nicht klar von Al-Qaida losgesagt, da Berichten zufolge diesbezüglich von angeblichen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Taliban-Führung die Rede ist. Nach dem Erscheinen der ISIS-Gruppierung Chorasan wechselten seinerzeit einige Taliban-Einheiten – unter anderem aufgrund des Zuflusses von Geldern aus den Golfstaaten – auf die Seite der IS-Ableger. Der IS kündigte 2015 sogar explizit an, dass er das Ziel habe, die zentralasiatische ISIS-Provinz Chorasan zu gründen, die Afghanistan, Pakistan, Teile Indiens und Irans, die postsowjetischen zentralasiatischen Staaten und Chinas Xinjiang umfassen solle.
Es gibt zwischen dem IS und den Taliban jedoch auch erhebliche politische Differenzen. Die Ziele der Taliban beschränken sich generell auf Afghanistan. Sie sind im Wesentlichen eine nationalistische paschtunische Bewegung. Das Ziel der Taliban ist die Errichtung eines paschtunischen islamischen Emirats, das die Ausweisung von jeglichen ausländischen Kräften und eine Konföderation von Stämmen und ethnischen Gruppen unter einem Taliban-Emir anstrebt.
Die Taliban folgen der relativ gemäßigten Rechtsschule der Hanafiten, die Volkstraditionen auch zulässt. Die Taliban räumen nämlich neben dem Islam dem traditionellen paschtunischen Ehrenkodex eine Schlüsselrolle in ihrer Ideologie ein. Die IS-Mitglieder sind hingegen radikale Salafisten, die eine Reformbewegung innerhalb des sunnitischen Islam anstreben, wonach sie im Namen des "reinen" Islam alle Volkstraditionen und Bräuche ablehnen und globale Ambitionen haben. Die Salafisten folgen der Rechtsschule der Hanbaliten, die von Saudi-Arabien staatlich befolgt und gefördert wird. Die Taliban streben dagegen an, einen Staat zu gründen, und sie sind keine unsichtbare Organisation für Umsetzung der dschihadistischen Terror-Ambitionen auf der ganzen Welt.
Die dschihadistischen Gruppen in Syrien werden insofern keine direkten Vorteile aus dem Sieg der Taliban ziehen können. Sie werden diese Machtübernahme nur bei ihrer medialen Propaganda auszunutzen versuchen. Die Machtübernahme durch die Taliban hat dennoch aber die Moral der Dschihadisten in Syrien zweifellos gestärkt. Denn der Sieg der Taliban-Milizen in Afghanistan hat bewiesen, dass sich bewaffnete Milizen besser durchsetzen können als andere sunnitische Gruppen, die den politischen Weg eingeschlagen hatten und gescheitert sind, wie die Erfahrungen der Muslimbruderschaft in Ägypten und Tunesien zeigen.
Dass die Taliban in Afghanistan nun neuerlich in den Fokus der Aufmerksamkeit von Dschihadisten rücken, könnte in der Realität jedoch für die herrschenden bewaffneten Gruppen in Idlib unerwünschte Konsequenzen haben. Sollten die Taliban das Land nicht vollständig unter ihre Kontrolle bringen, könnte Afghanistan erneut im Nahen Osten international zum Rückzugsort von Dschihadisten werden. Eine Rolle, die in letzten Jahren Syrien eingenommen hatte. Der Ausbruch des von außen hochgeputschten innersyrischen Konflikts erzeugte nämlich in den vergangenen Jahren dort ein Machtvakuum, das viele Dschihadisten von Afghanistan nach Syrien ziehen ließ. Sollte nun Afghanistan in einen neuen Bürgerkrieg geraten, würden viele in Idlib verbliebene islamistische Gruppierungen womöglich Syrien wieder verlassen. Obwohl seit Jahren Haiʾat Tahrir asch-Scham die dominante Kraft in der Provinz Idlib ist, stehen dort mehrere Terrorgruppe in Konkurrenz zum HTS. Vor Kurzem sagte ein ausländischer Dschihadisten-Führer in Syrien Al-Monitor, dass er glücklich sei über die Machtübernahme durch die Taliban: "Nun werden viele unserer Brüder, die von HTS unterdrückt wurden, nach Afghanistan ziehen."
Inwieweit allerdings die Taliban in der Lage sein werden, sich endgültig durchzusetzen und in Afghanistan regierungsfähig zu werden, bleibt zunächst unklar und abzuwarten. Die Taliban müssten sich nicht nur offiziell von IS- und Al-Qaida-Ablegern distanzieren, sondern sie müssten diese vor allem auch effizient bekämpfen. Alles hängt nun davon ab, ob es den Taliban gelingen wird, eine Einheitsregierung unter Einbindung aller in Afghanistan vertretenen Ethnien, nämlich vor allem der Hazara, der Usbeken und der Tadschiken, zu bilden.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Mehr zum Thema - Nach zwei Jahrzehnten westlicher Intervention: Steht Afghanistan vor einem neuen Bürgerkrieg?
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.