Durch imperiale Überdehnung könnte Erdoğan wie Mehmet VI. enden und seiner Entthronung entgegensehen
Ein Kommentar von Nebojša Malić
"Wir glauben, dass es wichtig ist, die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine zu bewahren, einschließlich des Territoriums der Krim, deren Annexion wir nicht anerkennen", sagte Erdoğan vor führenden Politikern der Welt, die am Dienstag auf der 76. Sitzung der UN-Vollversammlung in New York versammelt waren. Später am selben Tag traf er sich mit dem ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij und nahm eine Einladung nach Kiew an.
Ähnliches sagte Erdoğan bereits 2020. Die diesjährigen Äußerungen an der Vollversammlung tätigte er jedoch nur eine Woche vor seinem Treffen mit Putin in Sotschi. Das Treffen, sagte er angeblich, werde von "großer Bedeutung" sein und sei "eine wichtige Weichenstellung in den Beziehungen zwischen der Türkei und Russland."
Die Position des türkischen Präsidenten zur Krim entspricht jener von Kiew und der NATO, die sich auf den Standpunkt stellen, die Region sei im März 2014 von Russland illegal "annektiert" worden – dies, nachdem sie 60 Jahre zuvor vom sowjetischen Staatschef Nikita Chruschtschow in einem Verwaltungsakt an die Ukrainische Sowjetrepublik übertragen wurde und die sich dann, als Reaktion auf den von den USA unterstützten Maidan-Umsturz in Kiew im Monat zuvor, wieder an Russland anschloss.
Die Türkei hat keine moralische Grundlage, auf die sie sich abstützen kann
Fast im selben Atemzug mit der Weigerung, die Wiedervereinigung der Krim mit Russland anzuerkennen, forderte Erdoğan die UN auf, die "Türkische Republik Nordzypern" anzuerkennen – ein Gebiet, das Ankara seit 1974 besetzt hält, nachdem es als Reaktion auf einen pro-griechischen Umsturz dort einmarschiert war.
Und es gibt noch mehr Beispiele. 2008 erkannte die Türkei als einer der ersten Staaten die Sezession des Kosovo an, einer 1999 von der NATO besetzten serbischen Provinz – unter Verstoß gegen UN-Resolutionen, mit denen die territoriale Integrität Serbiens garantiert wurden. In jüngerer Zeit ist die Türkei buchstäblich in Syrien und den Irak einmarschiert und besetzt Gebiete im Norden beider Länder, angeblich um "kurdische Terroristen" zu bekämpfen. Mit anderen Worten: Milizen zu bekämpfen, die von den USA bewaffnet wurden, um wiederum den Islamischen Staat (IS) zu bekämpfen. Aus all diesen Beispielen folgt: Erdoğan hat eigentlich keinerlei Recht irgendjemanden über "territoriale Integrität und Souveränität" zu belehren.
Der einzige Grund, warum er damit durchkommt, ist die geopolitische Position der Türkei. Einerseits ist Erdoğan ein wichtiger Verbündeter der NATO. Andererseits hat er den Amerikanern die Nutzung wichtiger Stützpunkte verweigert, wurde wegen des Kaufes des russischen Luftabwehrsystems S-400 aus dem F-35-Programm geworfen und hat in Paris durch seine Interventionen in Syrien und Libyen für rote Köpfe gesorgt.
Ankara treibt seine Ränkespiele auch mit Russland, schließt an einem Tag Abkommen für den Kauf von S-400 und für Gaspipelines ab, lässt am nächsten Tag einen russischen Jet abschießen und unterminiert Bemühungen, die Dschihadisten in Nordsyrien zurückzudrängen. Und erst im vergangenen Jahr rühmte sich Ankara damit, hinter der Bewaffnung und Ausbildung des aserbaidschanischen Militärs zu sein, nachdem dieses den Armeniern in Bergkarabach eine vernichtende Niederlage zugefügt hatte.
Von Libyen bis Syrien, von Zypern bis Aserbaidschan scheint sich Erdoğan als neuer Sultan und die Türkei als die Wiedergeburt des Osmanischen Reiches zu positionieren, das irgendwann in seiner jahrhundertelangen Geschichte über all diese Länder herrschte.
Während er mit seinen Auslandsabenteuern immer dreister wurde, nachdem der gescheiterte Putsch von 2016 gegen ihn es ihm ermöglichte, das türkische Militär zu säubern – traditionell das Bollwerk der Republik gegen eine islamistische Neubelebung –, hatte seine Partei, die AKP, lange zuvor schon eine "neo-osmanische" Politik verfolgt. Bereits 2009 erklärte sein Außenminister Ahmet Davutoğlu, den Balkan zu Ankaras Einflussbereich, und berief sich dabei auf die osmanische Vergangenheit.
Die Moslems in Bosnien, deren politische Führung den osmanischen Rückzug von 1878 nie verwunden hat, haben diese Ansage beklatscht. Zuletzt war der türkische Präsident Ehrengast bei der Hochzeit der Tochter des bosnischen Präsidenten Bakir Izetbegović mit einem "respektierten deutschen Geschäftsmann". Izetbegovićs Vater Alija proklamierte bereits in den 1970er Jahren die "Islamische Erklärung" und plädierte dafür, den säkularen Nationalismus zugunsten eines religiösen Islamismus in der Politik aufzugeben. Klingt das bekannt?
Ironischerweise wurde die moderne türkische Republik 1923 von Mustafa Kemal Atatürk als ausdrückliche Ablehnung des Osmanischen Reiches und des von diesem als Verlierer des Ersten Weltkriegs unterzeichneten Friedensvertrags gegründet.
Imperiale Überdehnung ist eine Sache, besonders wenn man keine wirkliche Macht hat, um sie zu tragen und sich auf Intrigen und Wahrnehmungsmanagement verlassen muss. Sobald aber jemand den Bluff erkennt, kann Erdoğan, anstatt ein neuen Osman oder Suleiman I. zu werden, durchaus wie Mehmet VI. enden – und die Türkei dem Schicksal ausliefern, das Atatürk erfolgreich umgehen konnte.
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Übersetzt aus dem Englischen. Nebojša Malić ist ein serbisch-US-amerikanischer Journalist, Blogger und Übersetzer, der von 2000 bis 2015 eine regelmäßige Kolumne für Antiwar.com schrieb und heute Autor bei RT ist. Man kann ihm auf Telegram unter @TheNebulator und auf Twitter unter @NebojsaMalic folgen.
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