Meinung

Krisen, Gewalt, Unruhen: Libanon als Erbe westlichen Abenteurertums

Die wachsende Krise in Beirut, die Befürchtungen eines weiteren blutigen Bürgerkriegs weckt, ist nicht das Verschulden der Hisbollah oder Irans, sondern der westlichen Mächte und Israels. Diese wollen das Land schwach, geteilt und einer Herrschaft der Mehrheit beraubt sehen.
Krisen, Gewalt, Unruhen: Libanon als Erbe westlichen AbenteurertumsQuelle: AFP © AFP

von Tom Fowdy

Der Libanon ist ein krisengeschütteltes Land. Seine Wirtschaft steht am Abgrund, er kämpft mit Stromausfällen und erlebt gelegentliche Ausbrüche politischer Gewalt und Unruhen. Erst am Donnerstag wurden sechs Menschen erschossen. Einige denken schon darüber nach, ihn als "failed state", einen gescheiterten Staat, zu bezeichnen.

Die Mainstream-Medien erschaffen die Erzählung, die Hisbollah-Miliz allein trage die Verantwortung für das Leid des Libanon. Sie behaupten, deren Gegenwart sei unheilbringend und illegitim und bedrohe die Demokratie sowie die Institutionen des Landes. Das politische Patt hat dafür gesorgt, dass das Land von den USA und der EU mit Sanktionen überhäuft wurde. Der Westen argumentiert dabei, wenn diese "mit Iran verbundene Gruppe" einfach verschwinden würde, dann würden in dem mediterranen Land Milch und Honig fließen. Doch das ist nicht die ganze Geschichte, ja, noch nicht einmal ein Teil davon.

Ein Freund, der das Online-Magazin The Cradle betreibt, sagte mir einst, die Vereinigten Staaten "führen einen Krieg gegen den Libanon". Dies ging mir seither nicht aus dem Kopf. Denn selbst wenn es im Moment kein Krieg im Wortsinne ist (auch wenn es in der unruhigen Geschichte des Libanon genügend davon gegeben hat), ist das eine anschauliche Beschreibung der rührigen Kampagne aus durchdachter Einmischung, Manipulation und der Schaffung von Unfrieden in den Angelegenheiten des Landes, die aus geopolitischem Blickwinkel ein Teil der gegen Iran und Syrien gerichteten Pläne sind.

Die westliche Außenpolitik hat sich ein Stück vom Nahen Osten entfernt. Doch das Mantra, Zielländer in der Verfolgung geopolitischer Interessen komplett zu zerstören, bleibt – unabhängig davon, was diese Länder selbst wollen.

Wie bei jeder anderen Geschichte aus dem Nahen Osten wird uns eine vereinfachende und romantisierende Geschichte von "Gut gegen Böse" serviert. Diese kann uns aber nicht erklären, warum sich der Libanon in einer solch schwierigen Lage befindet, warum dieses Land so anfällig für gravierende Instabilität und Unruhen ist und wie das Erbe des Kolonialismus und eines grundlegend auf Ungleichheit beruhenden politischen Modells im Land – das dafür geschaffen wurde, die Mehrheit daran zu hindern, einen angemessenen Anteil an der Macht zu erreichen – voll und ganz für seine endgültige Zerstörung verantwortlich ist.

Der Libanon war ein koloniales Vorzeigeprojekt, eines, das die Franzosen entworfen haben, die sich nach der Teilung der Länder des Osmanischen Reiches mit den Briten im Rahmen des Sykes-Picot-Vertrags von 1916 darum bemühten, im östlichen Mittelmeerraum einen strategischen Marionettenstaat zu schaffen, der ihre ökonomischen Möglichkeiten in der Region auf sichere Füße stellen würde. Sie arbeiteten mit London zusammen daran, Linien auf der Karte zu ziehen, und setzten Marionettenregierungen ein, die im Idealfall nach der Unabhängigkeit ihre kommerziellen Interessen sichern würden. Dabei widmeten sie den ethnischen und religiösen Spaltungen, die die von ihnen besetzten Länder durchzogen, wenig Aufmerksamkeit.

Frankreich schnitt sich durch die Schaffung des Libanon ein Stück aus dem größeren Syrien, um einen Staat zu formen, der für die maronitischen Christen, die in dem Land lebten, maßgeschneidert war. Aber es gab einen Haken an der Sache: Auf dem Gebiet der Kolonie lebte eine Mehrheitsbevölkerung schiitischer Muslime, die in eine Verfassung einsortiert wurden, die den Maroniten absichtlich den Vorrang gab. Die Muslime hingegen wurden zu Bürgern zweiter Klasse gemacht und im Parlament nur begrenzt vertreten. Diese religiöse Spaltung würde letztlich das Land definieren, da die Franzosen einen Staat schufen, der unter der Mehrheit seiner Bevölkerung keine Legitimität besaß und von Natur aus instabil war. Das führte zu dem 15-jährigen Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 und könnte noch einen weiteren auslösen.

Seit diesem Konflikt ist das geopolitische Thema des Libanon weitgehend dasselbe: Es gab gemeinsame Bemühungen der USA, Frankreichs und Israels, den politischen Einfluss der schiitischen Mehrheit und der Hisbollah zu unterdrücken, der man das Etikett der Terrororganisation verpasste, und die faktische Herrschaft einer Minderheit unter dem Deckmantel der üblichen Klischees von "Transparenz", "Demokratie", "Bewahrung der Verfassung" und "Herrschaft des Rechts" aufrechtzuerhalten.

Obwohl das französische Imperium lange fort ist, wurde die Instabilität des Libanon gefördert und demokratischer Wandel behindert – durch die Aggression aus Tel Aviv, das den Libanon schwach, geteilt und militärisch unterworfen halten will, um Iran gegenüber überlegen zu bleiben. Israel trampelt freudig auf der libanesischen Souveränität herum, marschiert ein und bombardiert den Staat, wie es gerade lustig ist.

Das israelische Verhalten dient den Interessen der westlichen Außenpolitiker, die fürchten, dass ein Erfolg der Schiiten im Libanon gleichbedeutend mit einer Erweiterung der politischen Achse und des Einflusses Teherans ist, wie auch von Assad in Syrien.

Die Hisbollah wird meist zum Schurken erklärt, obwohl das Land von allen Seiten im Grunde belagert wird. Diese bizarre Sichtweise stellt sogar die humanitär begründete Lieferung iranischen Treibstoffs an das Land als heimtückisches Verbrechen dar, das offenkundig die nationale Souveränität untergräbt und schlecht ist, weil es die miteinander verknüpften Sanktionen gegen die Hisbollah, Syrien und Iran unterläuft.

Aber solange der libanesische Premierminister nichts gegen die Stromausfälle unternimmt, ist die wirkliche Frage: Warum hat er keine echte Macht und warum ist seine Kontrolle begrenzt? Die Antwort ist, weil der libanesischen Regierung in großen Teilen der Bevölkerung die Legitimität fehlt, die sie als eine unerwünschte, vom Ausland aufgezwungene Kolonialstruktur sehen. Die ganze westliche Erzählung über dieses Land ist völlig verdreht.

Die Welt muss den Libanon sehen, wie er wirklich ist und nicht wie in der Fantasiegeschichte, in der die westlichen Staaten und Israel die rechtschaffenen Kämpfer gegen den Terrorismus und Iran sind. Das Land ist das Erbe wie das Symbol von Dekaden westlicher Fehler und Abenteurertums in der Region, die jede Generation umspannen, von der Erschaffung eines kolonialen Staates nach strategischen Vorlieben über ein gegen die Bevölkerungsmehrheit verzerrtes Regierungssystem und dann den vermeintlichen Versuch, diesen Mangel an Legitimität über ausländische Einmischung, Sanktionen und Krieg zu beheben.

Der Libanon ist im Kern ein regelloser Spielplatz westlicher Untaten. Seine Bevölkerung ist das Opfer der zwanghaften Kampagne gegen Iran, die jetzt das Land an den Rand des Abgrunds geführt hat.

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Tom Fowley ist ein britischer Autor und Analytiker von Politik und internationalen Beziehungen mit Schwerpunkt Ostasien. Übersetzung aus dem Englischen

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