Auf keinen Fall höhere Löhne: Die Ampel und die Rente
von Dagmar Henn
Sozial wird das nicht mit der Ampel, so viel steht schon einmal fest. Eine kleine Erhöhung des Mindestlohns und ein wenig Etikettentausch – aus Hartz IV mach' Bürgergeld und aus Kindergeld und der Hartz IV-Zahlung für Kinder eine Kindergrundsicherung –, ansonsten aber die unerbittliche Herrschaft der Schuldenbremse, bei gleichzeitiger Erhöhung des Rüstungshaushalts. Das ist, was das Sondierungspapier ankündigt.
Bei den Renten ist der Höhepunkt schon damit erreicht, dass das im europäischen Vergleich skandalös niedrige deutsche Rentenniveau nicht weiter abgesenkt werden und das Renteneintrittsalter nicht weiter erhöht werden soll.
Nur als kleine Erinnerung an all jene, denen die Funktion des Renteneintrittsalters noch nicht klar ist – es wirkt sich vor allem als Rentenkürzung auf die vielen aus, die vorzeitig in Rente gehen müssen. Und es verschiebt dank der Tatsache, dass ärmere Deutsche eine deutlich geringere Lebenserwartung haben als wohlhabende, die Rentenbeiträge der Armen zu den Rentenzahlungen an die Wohlhabenden.
Heute schon stirbt jeder Fünfte vor Erreichen des Rentenalters; und das sind eher nicht die Besserverdienenden. Die Tatsache, dass die Hälfte der Renten unter 800 Euro liegt, mag man schon gar nicht mehr wiederholen. Eines der größeren sozialen Probleme wird jedenfalls nicht angetastet werden.
Dafür kündigen die Rot-Grün-Gelben aber einen Einstieg in einen Systemwechsel in der Rentenversicherung an. Zehn Milliarden Euro soll die Deutsche Rentenversicherung vom Staat erhalten, um sie "am Kapitalmarkt reguliert anzulegen", und die Reserven, im letzten Jahr immerhin 36 Milliarden Euro, darf sie gleich auch mit ins Kasino nehmen.
Der Begriff "reguliert" besagt natürlich gar nichts. "Mündelsicher" wäre ein rechtlich eindeutiger Begriff gewesen; das ist die Begrenzung, die für Lebensversicherungen gilt, die nicht in alles Beliebige investieren dürfen, sondern nur in besonders sichere Anlageformen. Was die Lebensversicherer nach 2008 in große Nöte brachte, wohin sie das Geld tragen sollten; Staatsanleihen, die traditionell einen großen Teil der Anlagen ausmachten, brachten entweder gar keine Verzinsung (oder negative, wie die Bundesschatzbriefe seitdem immer wieder) oder fielen auch in die Sparte "spekulativ".
Vor einigen Jahren übertrug der damalige Bundesverkehrsminister Sigmar Gabriel die Bundesautobahnen an Allianz und Co., gegen eine staatlich garantierte Verzinsung von fünf Prozent pro Jahr, die die Maut- und die Steuerzahler aufbringen müssen. Das hätte eigentlich auch unter der Überschrift "Bankenrettung" vermerkt werden müssen, ging aber von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt über die Bühne. Soll also die Rentenversicherung auch Autobahnen als Investitionsobjekt erwerben?
Oder sollen sie den Immobilienmarkt weiter anheizen, im Interesse der anderen Immobilienbesitzer, jener zwei Prozent der deutschen Bevölkerung, die überhaupt mehr Immobilie haben, als sie selbst bewohnen? Auch der Druck auf die Mieter ist ein Ergebnis international vagabundierenden Geldes, das Häuser in Deutschland als vergleichsweise sichere Parkmöglichkeit entdeckt hat. Zu Hochzeiten der Eurokrise konnte es passieren, dass ganze Koffer voll Geld aus Griechenland nach München getragen wurden, um dort in Betongold umgetauscht zu werden.
46 Milliarden, das klingt nicht nach viel, aber es ist mehr, als 2019 insgesamt für alle Menschen, die Leistungen nach dem SGB II beziehen, große wie kleine, ausgegeben wurde. Also ein Jahr Hartz IV als Spielgeld.
Volkswirtschaftlich könnte das unter einer Voraussetzung Sinn ergeben: wenn es einen extremen Mangel an Kapital gäbe. Aber das Gegenteil ist der Fall. Es gibt viel zu viel Geld, das nach Anlagemöglichkeiten sucht; darum wird inzwischen mit allem spekuliert, das nicht niet- und nagelfest ist, und weltweit gibt es unzählige Spekulationsblasen, die nur auf den Augenblick warten, an dem sie platzen. Den natürlich keiner kennt, aber jeder weiß, dass sie irgendwann platzen werden. Dieses Manöver soll, so die Ampler, die Renten "generationengerecht absichern". Generationengerecht heißt im neoliberalen Lexikon, ohne die Beitragssätze zu erhöhen.
Nun, vielleicht hätte man ihnen einmal einige grundlegende Tatsachen erklären sollen. Als Erstes hätten sie sich die Welt als ein Dorf mit Naturalwirtschaft denken und dann erklären sollen, womit die Alten ernährt werden. Klar, mit den Überschüssen; also mit jenem Teil der Ernte, der das übersteigt, was die unmittelbar Produzierenden verbrauchen. Das ändert sich nicht, wenn das Dorf zu einem modernen Land aufgeblasen wird. Die tatsächlich gezahlte Rente entspringt immer dem Überschuss des Moments, in dem sie geleistet wird. Insofern ist die saubere Trennung in umlagefinanzierte oder kapitalgedeckte Rente eine Täuschung, denn auch Letztere wird am Ende umlagefinanziert, sie macht nur zuvor einen Ausflug auf den Kapitalmarkt mit allen damit verbundenen Risiken; und die können beträchtlich sein. In den USA standen 2008 reihenweise Rentenfonds vor der Pleite und mussten mit Staatszuschüssen vor dem Bankrott gerettet werden.
Aber selbst wenn das wachsweiche "reguliert" keinen Ausflug in die Welt der Spekulation andeutete und das Geld auch nicht in Wohnungen auf dem deutschen Immobilienmarkt flösse, bleibt das ein Schritt zum Nachteil der Beschäftigten. Egal, wie viele Tabellen mit steigenden Aktienkursen vorgelegt werden.
Sämtliche Einkommen in einem Land lassen sich in zwei Kategorien teilen: in die Lohnquote und in Kapitalerträge. Beide teilen sich denselben Kuchen; was bedeutet, wenn der Anteil der Kapitalerträge steigt, dann sinkt der Anteil der Löhne, und umgekehrt. Wären die Löhne in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten deutlicher gestiegen, dann hätte sich das Vermögen der Kapitaleigner nicht so vermehren können, dann wäre heute der Druck auf die Löhne (und die Mieter) geringer. Wenn noch mehr Geld in dieses System gepumpt wird, dann hat das immer nur den gleichen Effekt: Damit dieses Geld Zins abwerfen kann, müssen die Löhne weiter sinken.
Für die Beschäftigten ist das im günstigsten Fall ein Nullsummenspiel, weil sie an den Löhnen, die die Berechnungsgrundlage der Rente sind, das verloren haben, was sie als Kapitalertrag aus der kapitalgedeckten Rentenversicherung erhalten. Im ungünstigsten Fall erhalten sie nichts, haben aber bei den Löhnen dennoch verloren. Und natürlich gibt es noch einige Varianten dazwischen.
Der entscheidende Punkt ist der: Die Beschäftigten spekulieren gegen sich selbst. Das ist übrigens bei Arbeitnehmeraktien dasselbe. Es gab ein hübsches Beispiel dazu bei der letzten Runde der Karstadt-Sanierung. Das Problem dabei waren die hohen Mieten der Kaufhäuser, die schon bei einer der vorhergehenden Sanierungsrunden an einen Immobilienfonds verkauft worden waren. Der wiederum hatte die Häuser mit einem Bankkredit erworben. Die Bank, die den Kredit gewährte, war nun eine ganz besondere. Sie gehörte dem Pensionsfonds der Karstadt-Beschäftigten.
Diese Bank blockierte bei den Verhandlungen (die ohnehin massiv zulasten der Beschäftigten gingen, die in jeder Runde wieder auf Lohn verzichten mussten) den Sanierungsplan, weil die Mietzahlungen an den Immobilienfonds gesenkt werden sollten und sie fürchtete, dass die Kredite dann nicht mehr bedient würden. Es war der Pensionsfonds der Beschäftigten, der deren Beschäftigung in Gefahr brachte, weil er sich verhielt wie andere Kapitalgesellschaften eben auch.
Nur jene, deren Einkommen aus Kapitalerträgen ihr Einkommen aus Lohn übersteigt, haben im günstigsten Fall einen Vorteil aus einer kapitalgedeckten Rentenversicherung. Das mögen in den Reihen der Grünen und der FDP einige sein, da muss das nicht überraschen. Der gewöhnliche SPD-Wähler allerdings kann bei diesem Spiel nur verlieren.
Egal. Sie wollen auch auf die gescheiterte Riester-Rente noch eins draufsetzen und die "gesetzliche Anerkennung privater Anlageprodukte mit höheren Renditen als Riester prüfen". Höhere Rendite, das heißt höheres Risiko. Das kann man nicht oft genug sagen. Und dann soll eine Förderung "Anreize für untere Einkommensgruppen bieten, diese Produkte in Anspruch zu nehmen".
Anreize? Wenn das Geld nicht zum Leben reicht, gibt es nur einen Anreiz: mehr Geld. Das wäre übrigens auch die Lösung für die Rentenversicherung. Die Lohnsteigerungen in Deutschland hinken den Nachbarländern und der Produktivität derart hinterher, dass da gute 30 Prozent drin wären. Und dann? Dann hätte die Rentenversicherung um 30 Prozent höhere Einnahmen, und all die Probleme wären vom Tisch.
Aber höhere Löhne, das ist der Gottseibeiuns, das in Deutschland absolut Undenkbare. Selbst in Zusammenhängen, die geradezu danach schreien, in denen es schlicht die marktkonforme Lösung wäre, die Löhne zu erhöhen, ist schon der Gedanke verboten. Ich sage nur Pflegenotstand oder Lkw-Fahrer-Mangel. Viele der Probleme dieses Landes gäbe es nicht ohne die beständige Lohndrückerei. Doch ehe man das Wort Lohnerhöhung auch nur in den Mund nimmt, geht man lieber in Mexiko Pflegekräfte schanghaien.
Da denken auch unsere Ampler nicht anders. Denn alles, was ihnen außer Spekulation noch einfällt, ist, "die umlagefinanzierte Rente (…) durch die Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie die erwerbsbezogene und qualifizierte Einwanderung" zu "stärken".
Anders gesagt: Sie werden alles tun, damit das Angebot an Arbeitskräften, woher auch immer, über der Nachfrage liegt und ja keine höheren Löhne herauskommen. Damit ignorieren sie das einzige Werkzeug, das die Renten tatsächlich sicherer machen könnte. Aber wir reden hier schließlich von deutscher Politik; ein näherer Zusammenhang mit der Wirklichkeit ist da nicht erforderlich.
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