Meinung

Selenskijs Zwickmühle: Eskalation im Donbass und Staatlichkeitsverlust – oder innenpolitischer Zoff

Der ukrainische Staatschef Selenskij steht vor einer schweren Wahl: Eskaliert er nicht bald im Donbass, bekommt er große innenpolitische Probleme. Und wenn doch, riskiert er, die ganze Ukraine zu verlieren – die NATO zumindest wird ihm ganz sicher nicht zu Hilfe eilen.

Kommentar von Anna Dolgarjowa

Die Ukraine kann im Falle einer Bedrohung nicht mit Sicherheitsgarantien der NATO rechnen: Ihr bleibt nur die bewusst vage formulierte "umfassende Unterstützung". Eine dahingehende Erklärung gab der Generalsekretär der Allianz Jens Stoltenberg auf einer Pressekonferenz am 1. Dezember ab. "Die Ukraine kann als geschätzter NATO-Partner auf unsere umfassende Unterstützung zählen, wohingegen es bei den Mitgliedern des Bündnisses um Sicherheitsgarantien und kollektive Verteidigung geht", stellte er in Riga klar.

So läuft der Hase eben. Stoltenberg versprach natürlich, "jede künftige Invasion oder Aggression gegenüber der Ukraine würde hohe Kosten sowie wirtschaftliche und politische Folgen für Russland haben". Aber wir alle wissen, dass Russland beileibe nicht das erste oder zweite Jahr schon unter Sanktionen lebt – und sich dennoch nicht in Wohlgefallen aufgelöst hat: Mit Nord Stream 2 ist alles weitestgehend in Ordnung; über die Krim-Brücke fahren Autos, Lkw, Busse und Züge hin und her; und generell gesehen sind Russen meilenweit davon entfernt, ihre letzten Schuhsohlen aufzuessen. Angesichts dessen liest sich Stoltenbergs Signal an die Ukraine in der Tat wie: Es gibt nichts für euch, aber ihr haltet bitte durch. 

Und Durchhalten ist momentan in der Ukraine allgemein gesehen das Wort der Stunde (Anm. der Red.: Und dies seit längerem). 

Die innenpolitische Krise in der Ukraine steuert nun auf einen lokalen Höhepunkt zu. Zwar ist von einem Staatsstreich, wie Selenskij vor ihm warnte, noch keine Rede. Doch seine Macht ist nicht besonders stabil, und in den vergangenen sieben Jahren hat man auf der Bankowaja-Straße im Herzen Kiews bereits verstanden: In jeder unverständlichen Situation ist ein Krieg im Donbass vom Zaun zu brechen.

Diese einfache Regel ist praktisch der alleinige Kitt, der zum Zusammenhalt der ukrainischen Gesellschaft noch von ihren Eliten bemüht werden kann – das Einzige, was es ihnen ermöglicht, irgendwie zusammenzukommen und die großen klassischen Fragen "Wer ist schuld?" und "Was ist zu tun?" zu beantworten. Wer schuld ist? Natürlich die Separatisten und die Russen. Was zu tun ist? Tarnnetze flechten und per SMS Geld an die Armee spenden.

Reales Risiko einer Eskalation im Donbass

Nach jüngst vom russischen Außenministerium veröffentlichten Daten hat die ukrainische Armee bereits 125.000 Mann an der Truppenabzugslinie im Donbass stationiert – was der Hälfte ihrer Gesamtmannstärke entspricht. Die OSZE-Beobachtungssondermission berichtet regelmäßig über die Anwesenheit von ukrainischem schwerem Kriegsgerät dort, wo es nach den Minsker Vereinbarungen verboten ist.

Zu diesen Daten hatte Russlands Außenamt einige interessante Kommentare abzugeben. Hier die von Außenminister Sergei Lawrow:

"Wir haben schlicht keinerlei Recht, die Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass sich das Kiewer Regime zu einem militärischen Abenteuer hinreißen lässt. All dies stellt eine direkte Bedrohung für die Sicherheit der Russischen Föderation dar. Darüber hat Präsident Putin am 18. November in einem erweiterten Kollegium unseres Ministeriums gesprochen."

"Er betonte auch, dass wir keine Konflikte brauchen, aber wenn der Westen die Ukraine nicht im Zaum halten kann, sondern sie im Gegenteil auch noch anstacheln wird – wir werden dann natürlich alle notwendigen Schritte unternehmen, um unsere Sicherheit zuverlässig zu gewährleisten."

"Noch nicht anerkannte Republiken" im Südosten der Ukraine

Dmitri Peskow, der Pressesprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin, kommentierte seinerseits den jüngsten "Versprecher" seines Chefs: Putin bezeichnete – offensichtlich nicht zufällig – die DNR und LNR als "noch nicht anerkannte Republiken". Laut Peskow bleibe die Frage nach ihren Perspektiven noch offen: "Bislang gibt es keine solche Anerkennung [der DNR und der LNR], sie bleiben selbsternannte Republiken."

"Doch wir sehen, dass sich das Beilegungsverfahren des innerukrainischen Konflikts hinzieht – ja, dass es nach vielerlei Maß ins Stocken geraten ist. Wie die Aussichten für diese Republiken aussehen werden, lässt sich daher im Moment nur schwer vorhersagen."

Dies alles setzt sich zu folgendem Bild zusammen: Eine weitere Krisenverschärfung im Donbass ist mehr als wahrscheinlich. Sehr wahrscheinlich ist es auch, dass Russland bereit ist, bestimmte Schritte zu unternehmen, um in der Lage an der Front dort lösend einzugreifen, sollte es zur Eskalation kommen.

Die Ukraine hingegen wird auf militärische Unterstützung lange warten können. Im umrissenen Szenario wird es natürlich Sanktionen gegen Russland geben, es werden Bedenken geäußert, vielleicht werden sogar ein paar oder drei Diplomaten ausgewiesen (und etwas später wieder in die Botschaft geholt).

Aber es wird keinen großen Krieg geben – nicht um der Verteidigung der Ukraine willen.

Die arme Ukraine. Sie verzichtete offiziell auf den Status der Blockfreiheit, stürzte sich mit ihrem ganzen militärisch-wirtschaftlichen Kadaver Richtung NATO und EU – kam aber in keine der beiden Organisationen hinein.

Die Ukraine hat nicht einmal die geringste Chance, der NATO beizutreten: Das Bündnis nimmt keine Staaten mit ungelösten territorialen, politischen oder ethnischen Konflikten auf – und unter der jetzigen Regierung wird die Ukraine zwangsläufig solche Konflikte haben, selbst dann noch, wenn an den Grenzen des Donbass russische Grenzschutzsoldaten stehen und kein einziger Schuss fällt. Übrigens macht das den Traum der Bewohner der "noch nicht anerkannten" Republiken in der Tat aus.

Um nicht überhaupt alles auf einmal zu verlieren, hat die Ukraine jetzt nur eine einzige Möglichkeit: Das Signal einerseits des NATO-Generalsekretärs und von Putin und Lawrow andererseits zu erhören – und die Idee aufzugeben, eine Offensive im Donbass voranzutreiben. Aber dann findet Selenskij sich seinen innenpolitischen Problemen allein gegenüber. Beängstigend? Ja, vielleicht wird das ebenso schlimm für ihn.

Das Hauptproblem der Ukraine besteht darin, dass es in der gesamten Zeit ihrer Unabhängigkeit keinen einzigen Staatschef gab, der sich bei wichtigen Entscheidungen nicht von persönlichen Interessen, sondern von den Interessen des Staates leiten ließe.

Selenskij wird sich also zwischen der schlechten und der sehr schlechten Option entscheiden müssen – und auch er wird sich hierbei allein von der Frage leiten lassen, in welchem Szenario er eine Chance hat, die Macht zu behalten.

Mehr zum Thema – Ukrainische Polizei ermittelt wegen Ausschreitungen vor Präsidentenbüro in Kiew

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Übersetzt aus dem Russischen.

Anna Dolgarjowa ist eine bekannte russische Journalistin mit Schwerpunkt Konfliktberichterstattung (vor allem Konflikt im Südosten der Ukraine) und Kolumnistin. Hat einen Eintrag in der Datenbank des ukrainischen Online-Prangers Mirotworez.

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