Meinung

Es ist dreißig Jahre her – und ich vermisse das "Reich des Bösen"

Als Kind des Kalten Krieges wuchs ich damit auf, die Sowjetunion als unseren Feind zu betrachten. Als diese zusammenbrach, erzeugte dies ein Vakuum in der Frage der Verteidigung der USA. Es stellte sich heraus, dass wir die UdSSR gebraucht hatten, um unserer eigenen Existenz eine Daseinsberechtigung zu geben.
Es ist dreißig Jahre her – und ich vermisse das "Reich des Bösen"Quelle: www.globallookpress.com © imago stock&people

Ein Kommentar von Scott Ritter

Ich war ein Kind des Kalten Krieges, geboren 1961, dem Jahr, in dem die Berliner Mauer errichtet wurde. Als ich fast eineinhalb Jahre alt war, fragten sich meine Eltern während der Kuba-Krise, ob es noch einen nächsten Morgen geben würde. Wir lebten damals in Florida, also in unmittelbarer Nähe von Kuba. Mein Vater war Offizier bei der Luftwaffe und wurde 1964 in die Türkei versetzt, wo er F-100 Super Sabre Kampfbomber wartete, die jederzeit startbereit und mit atomaren Waffen bestückt auf dem Luftwaffenstützpunkt Izmir standen.

Von 1965 bis 1966 war er in Vietnam im Einsatz, um die Kommunisten zu bekämpfen. 1969 wurde er nach Südkorea geschickt und darauf vorbereitet, dort dasselbe zu tun. 1975 holte er unsere Familie in die Türkei, wo ich von den Realitäten des Kalten Krieges umgeben war. Vom geheimen amerikanischen Abhörposten in Sinop, der auf den sowjetischen Funkverkehr ausgerichtet war; von einer geheimen seismologischen Station, mit der die sowjetischen Nukleartests ausspioniert wurden; und von einem geheimen Bunker, in dem Atomwaffen lagerten, die im Falle eines Krieges mit der Sowjetunion, auf türkische Kampfjets geladen werden sollten.

Im Jahr 1977 zogen wir nach Westdeutschland, wo die sowjetische Bedrohung eine tägliche Realität war. Amerikanische Panzer und gepanzerte Fahrzeuge verstopften die deutschen Autobahnen und rissen tiefe Furchen in die Felder deutscher Bauern, während man sich darauf vorbereitete, eine sowjetische Stoßarmee aufzuhalten, die buchstäblich direkt an der Grenze stand. Mein Zuhause, eingebettet in ein malerisches deutsches Dorf, war einen Steinwurf von einem US-amerikanischen Atomwaffenlager entfernt. Ich reiste damals dreimal nach Berlin, über Straßen, Schienen und Flugwege. Und jedes Mal war ich der Gnade sowjetischer Soldaten rund um Berlin ausgeliefert.

Ich bin 1979 in die Armee eingetreten, mit der ausdrücklichen Absicht, an die vorderen Linien geschickt zu werden, wo ich die Sowjets bekämpfen wollte, sollten sie es wagen, die Grenzen zu überqueren. Später, als Offizier im Marine-Corps, trainierte ich, die sowjetische Armee mit neu entwickelten Konzepten des Manöverkriegs zu bekämpfen. Mein Ehrgeiz als Nachrichtendienstoffizier wollte mich an die militärische Kontaktmission in Potsdam, in Ostdeutschland, zugewiesen sehen. Stattdessen war ich einer der ersten, der dem neu erstellten Inspektionskommando vor Ort zugeteilt wurde, um den von Präsident Ronald Reagan und Generalsekretär Michail Gorbatschow ausgehandelten Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF) zu überwachen.

Ich war in der Stadt Wotkinsk stationiert, westlich des Uralgebirges, in der Nähe einer Fabrik, die Raketen herstellte, und wo ich die Herstellung von mobilen Interkontinentalraketen vom Typ SS-25 überwachen sollte, um zu überprüfen, dass es sich nicht in Wirklichkeit um SS-20 handelte, die gemäß dem INF-Vertrag verboten waren. Das Leben in Wotkinsk verlangte mir förmlich eine Doktorarbeit in sowjetischer Realität ab. Ich lernte dort die Sprache, die Kultur und die Traditionen meines Feindes zu lieben, wodurch die Sowjets im Laufe der Zeit immer weniger zu dem Feind wurden, auf den ich eingeschworen worden war.

Der INF-Vertrag basierte auf dem Prinzip der Reziprozität. Das bedeutete, dass wir so, wie wir die sowjetischen Inspektoren in der amerikanischen Anlage zur Raketenproduktion in Magna (Utah) behandelt haben, auch von den Sowjets in Wotkinsk behandelt wurden, und umgekehrt. Der Vertrag galt in beide Richtungen und am Ende des Tages hat diese Art von Gleichheit innerhalb des Vertrages dazu geführt, dass wir uns gegenseitig auf Augenhöhe begegnen konnten.

Ich wuchs auf mit der Angst vor der Sowjetunion. Nach zwei Jahren in unmittelbarem Kontakt mit Bürgern und Fabrikarbeitern in Wotkinsk wurde diese Angst durch die Art des Respekts ersetzt, die man nur erlangen kann, wenn man jemanden wirklich kennenlernt – das Gute, das Böse, das Hässliche, aber hauptsächlich das Gute. Diese Anhäufung von Wissen hat dazu beigetragen, die unwissende Angst wegzufegen, die meine Sicht auf die Welt vor meinem Einsatz in Wotkinsk dominiert hatte. Ich habe diesen Einsatz im Sommer 1990 beendet, bewaffnet mit dem Wissen, dass diese Nation, die ich einmal als meinen Todfeind betrachtet hatte, wenn nicht zu einem vertrauenswürdigen Freund, so zumindest zu einem zuverlässigen Kollegen geworden ist, besonders in den Fragen beidseitiger Belange.

Danach nahm ich am Krieg gegen den Irak teil, in Desert Storm, dem ersten Golfkrieg, im Rahmen einer internationalen Koalition, die nur deswegen möglich wurde, weil die Sowjetunion die bisherige Praxis des Kalten Krieges nicht mehr fortsetzte und in der UN nicht mehr alles mit einem Veto belegte, das den USA einen geopolitischen Vorteil geben könnte. Nach dem Golfkrieg arbeitete ich als UN-Inspektor und war mit der Überwachung der Abrüstung der irakischen Massenvernichtungswaffen beauftragt. Dabei arbeitete ich eng mit sowjetischen Diplomaten und Militärs zusammen, um das vom UN-Sicherheitsrat erteilte Mandat zu erfüllen.

Im Dezember 1991 arbeitete ich eng mit einem sowjetischen Spezialisten für Rüstungskontrolle an der Vorbereitung von Plänen für die langfristige Überwachung der industriellen Fähigkeit des Irak zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen. Zeitgleich reiste ich mit einem anderen sowjetischen Offizier, einem hochrangigen Oberst und Experten für SCUD-Raketen, in den Irak, um Aspekte früherer Aktivitäten des Irak in Zusammenhang mit Raketen zu ermitteln, die das Land damals vor den Inspektoren versteckte. Für mich war die Erfahrung bei der Waffeninspektion der UN eine Fortsetzung der Arbeit, die ich wenige Jahre zuvor mit den Sowjets in Wotkinsk begonnen hatte, wo wir zusammengearbeitet haben, um ein für beide Seiten vorteilhaftes Ergebnis zu erzielen.

Ich kehrte wenige Tage vor Weihnachten von der Irak-Inspektion zurück und saß im Wohnzimmer meiner Eltern, als die Nachricht vom Rücktritt Michail Gorbatschows und der Auflösung der Sowjetunion bekannt gegeben wurde. Ich starrte schweigend und geschockt auf den Bildschirm, und schaute zu, wie die sowjetische Flagge über dem Kreml heruntergeholt und durch die Trikolore der Russischen Föderation ersetzt wurde.

Die Sprechpuppen im Fernsehen verkündeten den Sieg im Kalten Krieg und feierten den Untergang eines Erzfeindes, mit dem sich die USA fast 35 Jahre lang außen- und sicherheitspolitisch auseinandersetzen musste.

Ich teilte ihre Freude nicht. Ich war damit aufgewachsen, die Sowjets als meinen Feind zu betrachten und als junger Erwachsener wurde ich darauf vorbereitet, zu töten oder getötet zu werden, wenn es um Interaktion mit den Bürgern der Sowjetunion ging. Später lernte ich, die Sowjets als fleißige, ehrenhafte Menschen zu respektieren, die das Produkt einer Geschichte waren, die man kennen und verstehen muss, um sie in ihrer richtigen Perspektive zu betrachten. Die meisten meiner amerikanischen Landsleute hatten jedoch nur ein oberflächliches Verständnis der sowjetischen Geschichte. Die aus dieser Oberflächlichkeit resultierende Ignoranz trug dazu bei, der Vorstellung eines amerikanischen Sieges anlässlich des Untergangs der Sowjetunion Vortrieb zu leisten.

Ich teilte diese Einschätzung nicht. Stattdessen wunderte ich mich über das Gleichgewicht, das während des Kalten Krieges in globalen Angelegenheiten aufrechterhalten blieb, was nur aufgrund der Parität zwischen den beiden Nationen standhalten konnte – der beiderseitigen Möglichkeit, die andere Seite mit Atomwaffen zu zerstören. Ich dachte an die Fortschritte, die bei der gemeinsamen Abkehr vom Abgrund der nuklearen Vernichtung erzielt worden waren, und die mit einer prinzipiellen, für beide Seiten vorteilhaften, bilateralen Abrüstung einherging. Und ich dachte über das Potenzial nach, das sich gerade bei den UN in der Irak-Frage zu entwickeln begann, in der die Interessen der USA und die der Sowjetunion deckungsgleich waren.

Als ich das letzte Mal die Flagge der Sowjetunion über dem Kreml sah, spürte ich, wie sich in meiner Psyche ein Loch auftat. Der Feind, den ich zu bekämpfen bereit war, war ein Kollege und sogar ein Freund geworden. Und jetzt war er weg. Nicht besiegt, da ich zu dem Zeitpunkt die Sowjetunion nicht mehr als Feind betrachtete. Aber der Freund war einfach weg, und mit ihm das Gefühl des Gleichgewichts, das die Welt in den drei Jahrzehnten, die ich bis dahin auf der Erde gelebt hatte, sinnvoll gemacht hatte.

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Übersetzung aus dem Englischen.

Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des US Marine Corps. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor bei der Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und von 1991-1998 als UN-Waffeninspektor. Man kann ihm auf Twitter unter @RealScottRitter folgen.

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