EU-Außenpolitik im Abseits – Borrell fürchtet ein zweites Jalta
von Gert-Ewen Ungar
Es klingt wie ein schlechter Scherz: Die Europäische Union (EU) verklagt Russland bei der Welthandelsorganisation WTO wegen der durch die russischen Gegensanktionen entgangenen Umsätze in Höhe von 290 Milliarden Euro.
2014 verhängte die EU gegen Russland wegen der Ukraine-Krise und der nach einem Referendum erfolgten Eingliederung der Krim in die Russische Föderation umfassende Sanktionen, welche vor allem die russische Wirtschaft und den Finanzbereich hart treffen sollten. Im Gegenzug verhängte Russland im August 2014 ein Importverbot für Agrarprodukte aus der EU. Seitdem dreht sich die Sanktionsspirale. Insbesondere die Sanktionen gegen Russland, die im Gefolge der Minsker Abkommen verhängt wurden, verstoßen dabei gegen jegliches internationales Recht.
Die mit den Sanktionen verbundenen Hoffnungen und Prognosen der EU haben sich allerdings nicht erfüllt. Weder hat Russland seine Politik in grundlegender Weise geändert, noch liegt die russische Wirtschaft am Boden. Im Gegenteil wurde Russland im Agrarbereich vom Importeur zum Exporteur. Die Importbeschränkungen wirkten in Russland wie ein Entwicklungsbeschleuniger. Die durch die Gegensanktionen entgangenen Einnahmen versucht die EU nun einzuklagen.
Wer glaubt, diesen dreisten Schritt hätte sich die EU selbst ausgedacht, der irrt. Die EU agiert hier wieder einmal gemeinsam mit den USA, die Russland ebenfalls verklagen. Man kann von einem abgesprochenen Schritt ausgehen.
An diesem Beispiel sieht man erneut, wie wenig eigenständig die Außenpolitik dieser "Europäischen" Union ist. Die USA geben faktisch die Leitlinien, die Maßnahmen und das Tempo vor, denen die EU zu folgen hat – und denen sie auch zu folgen bereit ist. Das gilt für das Verhältnis zu Russland ganz besonders, wo die USA und die EU faktisch im Gleichklang aus immer absurderen Gründen immer absurdere Sanktionen verhängen, wo sie gemeinsam provozieren und sich über Völkerrecht und diplomatische Gepflogenheiten hinwegsetzen.
Umgekehrt bewirkt die Liebedienerei der EU bei den USA dort nicht, dass die Achtung gegenüber dem transatlantischen Partner steigt und die EU etwa als gleichberechtigter Gesprächspartner wahrgenommen wird. Die Initiative Putins, bei der er vom Westen Sicherheitsgarantien erwartet, in deren Rahmen er Biden zu einem persönlichen Treffen eingeladen hat, um die russischen Forderungen zu besprechen, und in dessen Vorfeld die beiden Präsidenten angesichts der Situation der Ukraine miteinander telefonierten, beunruhigt die EU ungemein. Sie steht in dieser sie direkt betreffenden Angelegenheit politisch im Abseits. Biden unterließ es, Putin mitzuteilen, als Präsident der USA müsse er erst bei der EU vorsprechen, um weitere Schritte abzustimmen. Warum hätte er das auch tun sollen? Schon die Idee wirkt reichlich lächerlich.
Der hohe Vertreter der EU-Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell fordert hingegen mehr Beachtung. Wenn es um Europa gehe, habe die EU ein Mitspracherecht, meinte er. Er fürchtet ein zweites Jalta, wo die Supermächte zum Ende des zweiten Weltkriegs die Welt unter sich aufgeteilt hatten. Dieser Wunsch nach Mitsprache wird sich nicht erfüllen – aus zahlreichen Gründen.
Ganz grundsätzlich fehlt der EU eine realistische Selbsteinschätzung. So möchte sie aus einer Position der Stärke heraus mit Russland verhandeln. Woher diese Stärke kommen soll, bleibt das Geheimnis derer, die mit dieser Phrase um sich werfen. Wirtschaftlich ist die EU seit Jahren in der Dauerkrise. Seit Jahren unterinvestiert, hat sie sich den Anschluss an zentrale Entwicklungen im wahrsten Sinne des Wortes erspart. Ein Bereich dagegen, für den die EU immer mehr Geld ausgibt, ist die Rüstung. Dennoch ist sie militärisch Russland unterlegen, das trotz eines weit geringeren Militärbudgets seine Waffentechnik modernisierte und über technisch völlig neue Waffensysteme verfügt. Diplomatisch ist die EU kaum handlungsfähig, denn der Hohe Vertreter referiert die Position der 27 Einzelstaaten, die eigentlich nur eines eint: die Uneinigkeit. Die Daueraggression gegenüber Russland dient mehr der Ablenkung von den massiven internen Problemen der EU. Der gemeinsame Feind eint die Uneinigen zumindest ein bisschen. Wenn man sich schon sonst auf kaum etwas einigen kann, dann geht es immerhin noch, eine gemeinsame Unterschrift unter ein Papier zu setzen, mit dem man Russland für irgendetwas scharf verurteilt.
Die Erfahrung Russlands mit der EU und ihren Vertretern sind daher nicht so, dass hier das positiv Gestalterische überwiegen würde. Im Gegenteil. Die EU ist als Gesprächs- und Verhandlungspartner absolut unglaubwürdig. Das Minsker Abkommen ist faktisch hinfällig, da weder Deutschland noch Frankreich sich an ihre Pflichten als Garantiemächte halten, noch die EU die Ukraine auf Einhaltung der abgesprochenen Schritte zur Befriedung des innerukrainischen Konflikts drängt. Deutschland und Frankreich hintertreiben Minsk 2 aktiv, indem sie das völkerrechtlich bindende Papier neu verhandeln wollen. An Sanktionen in Zusammenhang mit den Minsker Abkommen gegen Russland hat es dagegen nie gemangelt. Und das, obwohl Russland gar keine Konfliktpartei ist – aus russischer Sicht die reine Provokation.
Wo sie nur kann, zündelt die EU auf dem eigenen Kontinent, zieht Provokationen der Diplomatie vor, wie sich jetzt wieder in Transnistrien zeigen, wo die EU gemeinsam mit der Ukraine danach strebt, das autonome Gebiet wirtschaftlich zu schwächen und zu isolieren. Dieser befriedete Konflikt droht so auch wieder aufzubrechen.
Die tatsächlich einzig ernstzunehmende politische Position, nämlich kein Interesse an Konflikten auf dem europäischen Kontinent zu signalisieren und deshalb alles diplomatisch Mögliche zu tun, um den Kontinent zu befrieden – exakt diese einzig möglich sinnvolle Position ist die EU nicht bereit einzunehmen. Das wäre aber die einzige Position, die sie in internationalen Angelegenheiten wirklich zu einem Partner machen würde, den es zu konsultieren gilt.
Aus diesem Versagen, die eigene politische Position nicht sinnvoll im eigenen Interesse bestimmen zu können, ergibt sich insbesondere für Russland die Notwendigkeit, die EU aus allen relevanten Verhandlungen draußen zu halten.
Die europäische Außenpolitik wird wie die ihrer Mitgliedsländern nach wie vor in Washington, D.C. gemacht. Eigene Interessen oder Akzente setzte die EU bisher nicht. Selbst im transatlantischen Bündnis gelingt es ihr nicht, eigene Positionen deutlich zu machen. Ihre vermittelnde Brückenfunktion nimmt sie nicht wahr, einen vermittelnden Ausgleich der Interessen und einen tatsächlich positiven gestalterischen Einfluss auf eine sich geopolitisch neu ordnende Welt übt die EU nicht aus. Sich den USA anschließend, zielt die Außenpolitik der EU lediglich darauf ab, den Aufstieg der neuen Machtzentren China und Russland in aggressiver Weise zu bremsen. Das ist ein bisschen wenig, um als Verhandlungspartner tatsächlich ernst genommen zu werden, zumal die EU aufgrund ihrer Lage an der Grenze zu Russland zu ganz anderem fähig wäre. Ihre fast schon natürliche Aufgabe in dem Zusammenhang wäre, den Wandel moderierend zu gestalten. Zu dieser Rolle hat sie trotz ausgestreckter russischer Hand noch nicht bereitgefunden.
So wurde beispielsweise das Angebot einer Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok von Russland wieder und immer wieder unterbreitet. Es wurde seitens der EU ignoriert und belächelt, seine Frieden stiftenden Möglichkeiten wurden nie genauer in Augenschein genommen. Aber wir hätten heute vermutlich weder die Ukraine-Krise noch einen Konflikt mit Weißrussland, hätte man es auch nur einen Moment genauer durchdacht und in Erwägung gezogen. Auch wären die ökonomischen Kennzahlen der EU heute andere, bessere.
Da die EU ihre eigenen Interessen derart schlecht vertritt, sie ihre eigenen Interessen so wenig im Blick hat, dass sie sich sogar als Austragungsort für einen militärischen Konflikt der Machtblöcke andient, verdient sie diplomatische Anerkennung einfach nicht.
Russland hat mit den USA schon einen schwer zu berechnenden, unzuverlässigen und häufig wortbrüchigen Verhandlungspartner. Ein zusätzliches Störfeuer aus der EU ist bei den anstehenden Gesprächen nicht wünschenswert, denn es geht tatsächlich um viel. Die EU hat zudem gezeigt, dass sie ihren Einfluss auf die Ukraine zur Befriedung des Konflikts nicht nutzt, stattdessen eine Eskalation durch die Ukraine nicht nur duldet, sondern mit Waffenlieferungen sogar fördert.
Es ist daher sinnvoll, wenn Washington und Moskau über die weiteren Geschicke Europas miteinander reden und entscheiden. Wie auch immer die Verhandlungen ausgehen – die USA werden der EU sagen, was sie zu tun und zu lassen hat. Die EU wird sich daran halten, denn sie hat kein eigenes außenpolitisches Profil – zum Nachteil ihrer Bürger.
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