Souveränität? Im Westen Mangelware ...
von Dagmar Henn
In den letzten Wochen ist der Begriff der Souveränität wieder in Mode geraten, vor allem in der Schlagzeile, Putin habe die "souveräne Ukraine angegriffen." Aber es wird von Souveränität geredet, ohne genauer darauf einzugehen, worin sie eigentlich besteht. Wie auch; das Thema ist in der westlichen Welt nicht unproblematisch.
Nehmen wir nur einmal zwei Beispiele. Ungarn hat gerade ein Exportverbot für Getreide verhängt, um seine Fleischproduzenten zu schützen. Das wird in der EU nicht auf viel Gegenliebe stoßen, ist aber eindeutig die Handlung eines souveränen Staates. Wenn wir einige Jahre zurückgehen und betrachten, was die Troika, also die Europäische Zentralbank, die EU-Kommission und der IWF, mit Griechenland angestellt haben, wenn man wahrnimmt, bis in welche Tiefe der griechischen Regierung Vorgaben gemacht wurden, dann sieht man das Gegenteil von Souveränität.
Oder ein anderes Beispiel. Im Zuge der Verhandlungen um TTIP, diesen großen Freihandelsvertrag mit den USA, der schließlich von Trump auf Eis gelegt wurde, kam auf, dass dieser Vertrag "internationale Schiedsgerichte" vorsieht, vor denen Konzerne Klagen auf Entschädigung gegen Staaten erheben können, wenn diese durch ihre Politik (gleich, ob durch Steuerpolitik, Umweltgesetze oder Sozialgesetzgebung) die Gewinnaussichten der Konzerne schmälern. Eine solche Regelung bedeutet im Grunde eine Aufhebung der staatlichen Souveränität und deren Übertragung auf transnationale Konzerne. Auch das Recht der EU stellt den Gewinn über die politische Gestaltungsfreiheit der Staaten; das beginnt auf der untersten Ebene, den Kommunen, denen durch die europaweite Ausschreibungspflicht die Möglichkeit genommen wird, die örtliche Wirtschaftsstruktur zu stärken, und endet auf staatlicher Ebene, auf der ein Wechsel des wirtschaftlichen Systems unmöglich gemacht werden soll (der nach dem Grundgesetz durchaus möglich wäre).
Deutlicher wird, worum es bei der Frage der Souveränität geht, bei Ländern außerhalb des westlichen Kerns. Lateinamerika zum Beispiel. Der Putsch gegen den chilenischen Präsidenten Allende 1973 zielte vor allem auf die Kontrolle der Kupferminen, die verstaatlicht werden sollten. Solche Schritte führen immer wieder zu mehr oder weniger gewaltsamen Eingriffen von Außen, also durch die großen westlichen Industrieländer (das sind nicht immer nur die Vereinigten Staaten). Der Putsch in Bolivien drehte sich um die Lithiumvorkommen. Nigeria hatte jahrzehntelang eine Militärdiktatur nach der anderen, damit die westlichen Konzerne sich das Öl holen konnten. Das Ergebnis ist immer, dass der Ertrag aus diesen Rohstoffen auf den Konten ausländischer Firmen landet und das Land selbst sich nicht entwickeln kann.
Freihandelsverträge, vom Westen so geliebt, sofern die eigene Industrie einen Vorteil hat, sind immer ein Eingriff in die Souveränität. Das extreme Beispiel sind die Opiumkriege, die Großbritannien im 19. Jahrhundert gegen China führte, in denen unter Einsatz militärischer Gewalt das Recht erfochten wurde, China mit Opium zu überschwemmen; aber auch die Freihandelsverträge der EU mit afrikanischen Staaten werden von letzteren oft nicht so ganz freiwillig unterzeichnet und verschaffen sehr einseitig den ökonomisch Stärkeren alle Vorteile.
Und anders herum – als die Staaten auf dem europäischen Kontinent vor zweihundert Jahren der industriellen Entwicklung Englands hinterherhechelten, schufen sie sich den Raum für eine eigene industrielle Entwicklung mit Schutzzöllen. Die wenigen Staaten, die es seither noch geschafft haben, sich ähnlich zu entwickeln, taten das nicht anders. Souveränität beinhaltet also nicht nur die Möglichkeit, Handel zu treiben, sondern besteht nur da, wo auch die Möglichkeit besteht, das nicht zu tun bzw. den Handel einschränken zu können.
Die Möglichkeiten politischer Entscheidungen haben immer eine materielle Grundlage. Ich kann kein gutes Bildungswesen aufbauen, wenn mir das Geld fehlt, die Lehrer zu bezahlen, erst recht nicht, wenn die Kinder durch Arbeit zum Überleben der Familie beitragen müssen. Ist diese materielle Grundlage nicht vorhanden, beispielsweise,weil die Erträge aus Rohstoffen abfließen, dann ist es schon fast gleich, ob die Regierung demokratisch gewählt ist oder nicht, und welche gewählt wird; an den gegebenen Zuständen würde das nichts ändern.
Unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg gab es eine Phase, in der es für viele Länder möglich schien, wirkliche Souveränität zu erlangen, und bis Ende der 1960er-Jahre verwandelten sich so gut wie alle ehemaligen Kolonien in zumindest formal unabhängige Staaten. Aber mit Hilfe von Institutionen wie Weltbank und Internationalem Währungsfonds und dem einen oder anderen Militäreinsatz wurde das wieder glattgezogen, so dass spätestens in den 1980ern Souveränität zum Luxusgut wurde, das nur den Kernländern des Westens zustand, von den wenigen Ländern abgesehen, auf die er keinen Zugriff hatte, wie China.
Es ist interessant, in welchen Momenten der Begriff Souveränität auftaucht, und in welchen nicht. Im Zusammenhang mit Venezuela, Bolivien oder Kuba wird dieses Wort nie gebraucht, weil es sofort mit der gewünschten Regimewechselerzählung kollidieren würde; im Gegenteil, das ganze Geschrei um Menschenrechte lenkt davon ab, dass es eben diese tatsächlich ausgeübte Souveränität ist, die stört.
Manchmal gehen diese Pläne auch schief. Der Putsch in Brasilien, dessen Resultat Bolsonaro ist, erreichte nicht ganz das gewünschte Ergebnis. Als er gleich bei Amtsantritt erklärte, er wünsche sich eine Stationierung von US-Truppen auf brasilianischem Gebiet, machte ihm sein Militär schnell und deutlich klar, dass er das getrost vergessen könne, die angestrebte Aneignung der brasilianischen Ölvorkommen hat bis heute nicht geklappt, und selbst Bolsonaro verweigerte in der UN zuletzt die Zustimmung zur von den USA gewünschten Verurteilung Russlands. Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine ist, dass inzwischen für die meisten Länder Lateinamerikas, auch für Brasilien, der wichtigste Handelspartner längst China heißt. Und der zweite, dass die Macht der Vereinigten Staaten schwindet, auch militärisch. Für die Länder des Trikont (also Lateinamerika, Afrika, Asien) öffnet sich gerade wieder eine Möglichkeit zu wirklicher Souveränität, wie sie zuletzt nach dem Untergang des britischen Empire bestanden hatte.
Die EU ist ein Apparat zur Einschränkung der Souveränität der Mitgliedsländer, aber diese Einschränkung trifft nicht alle gleich. Es sind die ärmeren, kleineren und wirtschaftlich schwächeren Staaten, die ihre Souveränität tatsächlich preisgeben, wie am Beispiel Griechenlands sichtbar wurde, während Deutschland die EU vor allem nutzt, um seinen Konzernen Vorteile zu verschaffen. Nur – Vorteile für die Konzerne sind beileibe nicht Vorteile für die Menschen.
Wie steht es nun mit der "souveränen Ukraine"? Genaugenommen war der Maidan-Putsch eine Auseinandersetzung um die Souveränität. Auslöser war schließlich das Assoziationsabkommen mit der EU, dessen Folgen mittlerweile auf der Hand liegen – es hat das Land völlig verarmt. Eben das war die Befürchtung der Regierung Janukowitsch, die im Jahr 2013 dann doch noch einige Punkte des Vertrages nachverhandeln wollte. Das war nach allen denkbaren politischen und ökonomischen Kriterien eine Ausübung staatlicher Souveränität.
Klar, die EU hatte zuvor schon einiges investiert und die üblichen Versprechungen gemacht, wie, dann könnten alle auch in der EU arbeiten (dass das bei Billigjobs endet, weil man Berufsabschlüsse nicht anerkennt, muss man ja nicht dazu sagen) und überhaupt würden sie leben wie in Deutschland oder Frankreich. Schon damals hätte man die Rumänen und die Bulgaren nach dem Wirklichkeitsgehalt dieser Versprechungen befragen können... Jedenfalls stellte die EU daraufhin ein Ultimatum, um die Unterzeichnung der Verträge in der vorliegenden Form zu erzwingen, und die Maidan-Proteste wurden losgetreten.
Die Hast dieses Vorgehens, die in dem Putsch Ende Februar 2014 gipfelte, lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass die Granden der EU fürchteten, bei den ohnehin im Folgejahr anstehenden Präsidentschaftswahlen eine Niederlage zu erleiden. Denn aus welchem Grund sollte man einen Hexensabbat wie den Maidan entfesseln, um eine Frucht vom Baum zu reißen, die einem ein Jahr später ohnehin in den Schoß fiele? Wozu ein gewaltsamer Umsturz? Oder war das, was bei diesem Umsturz herauskam, genau das, was die EU, insbesondere Deutschland, und die USA in der Ukraine haben wollten?
Jedenfalls, das Ergebnis des Putsches war im Grunde das Ende der Souveränität. Die Schäden für die Ökonomie waren so gewaltig, dass das Land seither am Tropf seiner Kreditgeber hängt, und die Politik, die umgesetzt wurde, richtete sich direkt gegen die Bevölkerung, mit massiven Erhöhungen der Energiepreise etwa. Und Millionen Ukrainer haben seither das Land verlassen, auch aus Regionen, die vom Bürgerkrieg weit entfernt liegen.
Wenn man sich die ökonomischen Folgen dieser preisgegebenen Souveränität betrachtet, wird klar, dass die dortige Regierung auf die Minsker Vereinbarungen gar nicht eingehen konnte, weil sie den Bürgerkrieg brauchte, um von der Misere abzulenken. Man könnte vielleicht sogar so weit gehen, dass die Entwicklung dahin gezielt provoziert wurde – schließlich war die Einschränkung des Russischen die erste Handlung, die die Putschregierung vornahm. So etwas tut man nicht in einem Vielvölkerstaat, zumindest nicht, wenn man ihn an einem Stück behalten will.
Dass es in der Ukraine eine Reihe von Oligarchen gibt, die sich um Anteile des Teils der Beute raufen, die im Land verbleiben darf, steht nicht im Widerspruch zum kolonialen Status. Eine Kompradorenkaste, die ein bisschen so tun darf, als hätte sie etwas zu sagen, gehört dazu. Was aber völlig unmöglich und unter den gegenwärtigen Umständen unerreichbar ist, ist eine Politik, die die Interessen der Bevölkerung bedient; das würde eine Reindustrialisierung erfordern, die der kollektive Westen unter keinen Umständen zulassen kann.
Eigentlich ist es zu Genüge bekannt, was es bedeutet, wenn ein Land der Kontrolle durch den IWF untersteht und von externen Krediten abhängig ist. Wenige Länder sind das so sehr wie die Ukraine. Aber seit der nüchterne Blick auf globale Abhängigkeitsverhältnisse, den man vor vierzig Jahren noch selbst in kirchlichem Umfeld lernen konnte, durch Moralpredigten ersetzt wurde und selbst vermeintlich Linke bereit sind, sich im Namen der "Menschenrechte" gegen tatsächlich souveräne Länder (wie z. B. Venezuela und Kuba) zu wenden, unter Verleugnung der Tatsache, dass eine echte Souveränität die Voraussetzung dafür ist, dass die Mehrheit der Bevölkerung überhaupt in die Nähe von etwas wie Menschenrechten kommt – seitdem ist es möglich, eine Souveränität zu behaupten, die nicht existiert.
Aber das muss nicht wundern, denn mittlerweile schwinden auch innerhalb des westlichen Kerns die letzten Reste an Wirklichkeit, die noch in diesem Begriff steckten. Denn wie soll eine deutsche Regierung, die im Eifer, "dienend zu führen" (Habeck), einen verlässlichen Energielieferanten wie Russland gegen einen mit einer langen Geschichte sehr realer Erpressungen wie die USA eintauscht und jedes nationale Interesse dem Überlebenskampf des westlichen Hegemons zum Opfer bringt, begreifen, was Souveränität bedeutet? Wie sollten das dann ihre schreibenden Knechte?
Wenn sie erkennen würden, dass diese Ukraine eben genau das nicht ist, nicht sein kann, souverän, dann müssten sie sich auch Fragen stellen, wie es denn um die deutsche Souveränität bestellt ist, spätestens seit dem Verzicht auf Nord Stream 2. Dann aber würde auch klar werden, dass die Ereignisse in der Ukraine ein Scharmützel in einem großen geopolitischen Kampf sind, in dem eine Seite für die Mehrheit der Menschheit die Hoffnung auf Souveränität verkörpert und die andere für deren Abwesenheit steht, für deren immerwährende Negation.
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Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.