Meinung

Warum schweigen Menschenrechtler, Null-COVID-Fraktion und Politiker zu den Ereignissen in Shanghai?

26 Millionen Bewohner der Metropole Shanghai in China müssen aktuell restriktive Maßnahmen ertragen, die aufgrund geringer Anzahl von Corona-Fällen im Rahmen der chinesischen Null-COVID-Strategie angeordnet wurden. Veröffentlichte Videos und Bilder schockieren. Die Reaktionen in Deutschland sind verhalten.
Warum schweigen Menschenrechtler, Null-COVID-Fraktion und Politiker zu den Ereignissen in Shanghai?Quelle: Gettyimages.ru © VCG / Kontributor

von Bernhard Loyen

Seit dem 28. März wird in der 26-Millionen-Metropole Shanghai ein stufenweiser Lockdown infolge der Null-COVID-Strategiepolitik mit rigorosen Mitteln und unnachgiebiger Härte durchgesetzt. Dementsprechend massiv zeigen sich die Folgen für die Bewohner der größten Stadt Chinas. Das Zentrum einer aktuellen Omikron-Welle befindet sich nach Angaben der chinesischen Behörden im Großraum Shanghai. Es gibt dort derzeit 13.283 bestätigte Fälle von COVID-19, davon sind etwa 7.500 Menschen mit erkennbaren Symptomen erkrankt. 

Nur sehr langsam rücken hierzulande die aktuellen unfassbaren Bilder und Videos aus Shanghai, die seit Tagen zumindest in den sozialen Medien nachdrücklich thematisiert werden, in den Fokus der deutschen Mainstream-Medien (Beispiel 1, Beispiel 2). Mit Beginn der Woche mehren sich vereinzelte Artikel. Die Welt titelt am 13. April " 'Sie behandeln uns wie eine Nummer' – Shanghai rebelliert gegen den Lockdown". Die Berichterstattung bleibt jedoch im Hinblick auf die Härte der Maßnahmen der chinesischen Corona-Politik und auf das daraus resultierende Martyrium für die Menschen der Millionenmetropole weiterhin irritierend zögerlich, auffallend reduziert, zumindest bei ARD und ZDF und deren Sendeanstalten. Es folgen hier zuerst drei Beispiele für die dystopischen Ereignisse in Shanghai.

Dieses Video zeigt einen Mann, der auf der Straße festgenommen wurde, weil das allen Bürgern der Stadt Shanghai bis Sonntag untersagt war. Seit Montag dürfen zumindest Bewohner einer festgelegten Zone, in der seit 14 Tagen keinen positiven Fall zu beklagen war, zumindest das Wohnhaus in einem definierten Radius kurzzeitig wieder verlassen:

Einwohner, die positiv getestet werden, müssen umgehend in entsprechend eingerichtete Quarantäne-Einrichtungen. Freilaufende Haustiere, ebenso streunende Hunde und Katzen, werden eingefangen und mehrheitlich entsorgt, also auch getötet:

Verzweifelte Menschen rufen abends aus ihren Fenstern, um auf ihr Leid aufmerksam zu machen. Der Text des Twitter-Beitrags lautet: "Bewohner in #Shanghai schreien aus Hochhauswohnungen, nachdem die Stadt 7 Tage lang abgeriegelt war. Der Sprecher befürchtet, dass es große Probleme geben wird. (Im Shanghai-Dialekt – er sagt voraus, dass die Menschen nicht mehr lange durchhalten können – er deutet eine Tragödie an)":

Warum gibt es aufgrund dieser Meldungen keine Brennpunkt-Sondersendung der ARD (stattdessen aber drei derartige Sendungen zum Thema Ukraine seit dem 28. Februar)? Warum sah keine Redaktion der Talksendungen Maybrit Illner, Maischberger, Markus Lanz oder hart aber fair anscheinend bis dato die Notwendigkeit, die Zuschauer bei ARD und ZDF über diese dystopische Realität näher zu informieren?

Der Blickwinkel der Irritationen muss noch dahingehend geweitet werden, dass sich zudem gerade ein Bild kollektiven Schweigens oder Negierens des Themas Shanghai auch in der Gruppe der "je-nach-Bedarf-Hobby-Menschenrechts-Aktivisten", von Böhmermann, ZDF heute-show bis hin zu  Herbert Grönemeyer oder Claudia Roth sowie der überspitzt formulierten "Corona-Versteher-Fraktion" zeigt. Übersehen alle Persönlichkeiten aus der Politik, der Wissenschaft, der A-, B- und C-Prominenz das Leid der Menschen in Shanghai? Kaum vorstellbar – in Zeiten sogenannter Twitter-Trends und Social-Media Dynamik und angesichts früherer regelmäßiger Einschätzungen und Meinungsäußerungen, mehrheitlich im Rahmen eigener Twitter-Accounts, zum Thema Corona, Maßnahmenpolitik, Maßnahmen-Gegner oder -Kritiker und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Wahrnehmungen und Diskussionen.

Auch der Medien-Darling Mai Thi Nguyen-Kim schweigt. Der Chef-Virologe zu jeder Stunde Christian Drosten informiert aktuell seine Twitter-Follower: "Beim Vergleich der Maßnahmen 2020 zu 2022 sollte man nicht politische Widersprüche beklagen, sondern den durchschlagenden Erfolg der Impfung bewundern." Zu den Ereignissen in Shanghai auch von ihm kein Wort. Und dem Gesundheitsminister Lauterbach, ansonsten um kein Statement zu jedem Thema verlegen, fällt zu Shanghai nichts ein?

Liegt es an der Tatsache, dass es sich aktuell in Shanghai "nur" um eine weitere individuelle Corona-Fallzahlen-Maßnahme handelt? Rückblickend irritierte auf ähnlicher Ebene schon das mehrheitliche Schweigen der "Prominenz", der Wortführer der unterstützenden Gruppe der deutschen Corona-Maßnahmenpolitik, zu den Ereignissen in Australien oder Kanada. Bürger in Australien mussten in Quarantäne-Camps, Demonstranten in Kanada wurden in brutalster Form niedergeprügelt, Menschen zuhause verhaftet – war was? "Diese Idioten, diese Leichtsinnigen, diese Corona-Leugner" gibt es doch auch in Deutschland, lautete eine überraschend breite gesellschaftliche Stimmung in diesem Land. Warum jetzt aber dieses kollektive Schweigen zu dem eindeutigen millionenfachen Leid der Menschen in Shanghai?

Am 1. April meldete die Tagesschau: "Spitzenvertreter der Europäischen Union haben die chinesische Führung bei einem virtuellen Gipfel vor einer Rückendeckung Russlands im Krieg gegen die Ukraine gewarnt. 'Kein europäischer Bürger würde es verstehen, wenn es irgendeine Unterstützung für Russlands Fähigkeit geben würde, Krieg zu führen', sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Gesprächen mit Chinas Regierungschef Li Keqiang und Staats- und Parteichef Xi Jinping. Das würde China hier in Europa einen großen Reputationsschaden zufügen."

Wurde auch das Thema Shanghai angesprochen? Nein, anscheinend findet für die EU-Politiker dort kein aktueller Reputationsschaden für China statt. Findet sich ein Beitrag auf dem Twitter-Account der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen? Nein. Findet sich eine Mitteilung auf der Seite des bundesdeutschen Auswärtigen Amtes (AA)? Nein, eine dementsprechende Anfrage bei der Menschenrechtsbeauftragten des AA, Luise Amtsberg mit einer Bitte um Stellungnahme blieb unbeantwortet.

"Es braucht mutige Stimmen, um Menschenrechte zu verteidigen", informiert Amnesty International Deutschland aktuell. Ging es um die Situation in Shanghai? Nein, es ging um Äthiopien. Es findet sich kein Statement von Olaf Scholz oder anderen führenden Politikern. Kritische Stimmen in den sozialen Medien erinnern an die sogenannte Null-COVID-Fraktion in Deutschland:

Auf der Webseite einer themenbezogenen "Zero-COVID"-Initiative heißt es im Januar 2021: "Das Ziel heißt Null Infektionen! Für einen solidarischen europäischen Shutdown.":

"Die Strategie, die Pandemie zu kontrollieren, ist gescheitert ("flatten the curve"). Sie hat das Leben dauerhaft eingeschränkt und dennoch Millionen Infektionen und Zehntausende Tote gebracht. Wir brauchen jetzt einen radikalen Strategiewechsel: kein kontrolliertes Weiterlaufen der Pandemie, sondern ihre Beendigung. Das Ziel darf nicht in 200, 50 oder 25 Neuinfektionen bestehen – es muss Null sein."

Eine Art Strategiewechsel, wie zum Beispiel in Shanghai? Des Weiteren heißt es in der Darstellung der Initiative:

"Maßnahmen können nicht erfolgreich sein, wenn sie nur auf die Freizeit konzentriert sind, aber die Arbeitszeit ausnehmen. Wir müssen die gesellschaftlich nicht dringend erforderlichen Bereiche der Wirtschaft für eine kurze Zeit stilllegen. Fabriken, Büros, Betriebe, Baustellen, Schulen müssen geschlossen und die Arbeitspflicht ausgesetzt werden. Diese Pause muss so lange dauern, bis die oben genannten Ziele erreicht sind. Wir wollen die politische Lähmung in Bezug auf Corona überwinden. Wir wollen uns auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz für den nötigen solidarischen ZeroCOVID-Strategiewechsel sammeln."

Wie also nun aktuell in der chinesischen Millionenmetropole? Bei den Erstunterzeichnern findet man unter anderem den Journalisten der ARD Georg Restle, die Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski, die Klimaaktivistin Luisa Neubauer und die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl. Herr Restle ist Redaktionsleiter des Polit-Magazins Monitor bei der ARD. Sein einziger Themenschwerpunkt ist derzeit die Ukraine. Frau Stokowski leidet aktuell unter Long COVID. Zu Shanghai findet sich kein Wort von ihr, aber ein Statement zum Ende der Maskenpflicht. Sie ließ ihre Twitter-Follower wissen: "Jesus Christus, die Pandemie soll endlich zu Ende gehen, bitte allein schon damit dieses eklige Genre 'ich prahle mit meiner als Lebensfreude getarnten Ignoranz' endlich stirbt." Luisa Neubauer erläuterte im Interview dieser Tage: "Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben kein Wissensproblem, kein Informationsproblem, wir haben ein Problem mit der politischen Ignoranz, des fehlenden politischen Willens." Bezog sie es auf das Leid in Shanghai? Nein, die Äußerung bezog sich auf den aktuellen Bericht des Weltklimarats. 

Der Holländer Jaap Grolleman lebt aus beruflichen Gründen – in den Bereichen Blogging, soziale Medien und Design – derzeit in Shanghai. Sein persönlicher Blog informiert über sein aktuelles Leben unter den radikalen Maßnahmen der Politik. Hier Auszüge aus seinem letzten Blog-Eintrag vom 9. April:

"Wir sind jetzt am neunten Tag unserer Abriegelung und haben das Haus nur für ein paar Minuten für vier PCR-Tests verlassen – und einmal, weil der Wachmann unseres Geländes, anders als bei anderen Lieferungen, sich weigerte, das von mir bestellte Wasser zu unserer Tür zu bringen, weil es zu schwer sei. (Ja, ich habe sechzig Liter gekauft, nicht nur für uns.) ...

Der neunte Tag, aber wir haben Glück – einige Leute sind jetzt schon seit über einem Monat drinnen. Wir können unsere Rezepte nicht frei wählen, weil die Lebensmittellieferungen wirklich schwierig sind, aber wir haben Glück – einige Leute sind wirklich nur auf Instantnudeln angewiesen oder haben keine Medikamente mehr. Die Stadt schickt zwar Rationen, aber wir haben in neun Tagen nur einmal ein kleines Paket mit Gemüse bekommen. Und es geht nicht nur um Lebensmittel. Die Eltern können die Hausaufgaben ihrer Kinder nicht ausdrucken, weil die Tinte im Drucker ausgegangen ist, den Menschen geht das Speiseöl aus oder die Windeln, Binden oder das Toilettenpapier. Sie waschen ihre Wäsche von Hand, weil ihnen die Flüssigseife ausgegangen ist. ...

Wir arbeiten von zu Hause aus, aber auch hier haben wir Glück – viele Menschen können (aufgrund der Art ihrer Arbeit) nicht arbeiten und müssen mit ansehen, wie ihr Bankkonto auf null sinkt oder ihr eigenes Unternehmen in Konkurs geht.

Vielleicht war es immer unter der Oberfläche. Baoans (Wachleute von Wohnanlagen, vom chinesischen Wort 保安) sind nicht die Freunde, für die wir sie hielten, und es kursieren Videos, in denen sie Hunde von positiv getesteten Besitzern erschlagen oder Bürger über ein Mikrofon einschüchtern, obwohl sie direkt neben ihnen stehen.

Es ist nicht so, dass sich die Baoans verändert hätten. Die Baoans haben schon immer Regeln und Anordnungen bis ins Kleingedruckte befolgt, und jetzt haben sich diese Anordnungen geändert – und es ist offensichtlich, dass sie immer noch keinen Zentimeter Flexibilität bieten können. Früher waren die Baoaner ein bisschen dumm, aber immer freundlich. Mit der Abriegelung der Stadt haben sie plötzlich das Sagen, sind nicht mehr freundlich, aber immer noch halbherzig. ...

Die Menschen finden heraus, dass die staatlichen Medien nicht dazu da sind, genaue Nachrichten zu verbreiten, sondern nur dazu, die Realität so zu verdrehen, dass sie den Mächten von oben passt. ...

 Ich fürchte mich nicht vor COVID, aber ich fürchte mich vor einem positiven Test und den anschließenden unmenschlichen Quarantänestationen, in denen man zwei Wochen lang eine Toilette mit Hunderten von anderen teilen muss, ohne Dusche und ohne Privatsphäre."

In dem längeren Blog-Eintrag erfährt man noch mehr persönliche Eindrücke aus dem Leben in Shanghai. Es finden sich auch Bilder zu dem Text. Sie geben einen individuellen, kleinen Einblick in die tägliche Strategie des Daseins in einem vollkommen kontrollierten Leben. Was passiert jedoch mit denen, die keine freundlichen Nachbarn haben, die unbekannt vor sich hin leiden? Menschen, die in einem Neubaugebiet mit Hochhausblöcken wohnen, in der Anonymität ausharren, vor sich hinvegetieren. Es existieren Videos von dokumentierten Suiziden, dem Selbstmord als letzte Verzweiflungstat. Menschen, die in ihrer Verzweiflung von Hochhausbalkonen oder -dächern springen. Die Videos zum Umgang mit den Kindern in Shanghai reichen nicht für den ansonsten zügigen "Empörungseffekt"? Ist womöglich ein #StandwithShanghai-Konzert in Planung, wo Peter Maffay Tabaluga aufführt und Marius Müller-Westernhagen final sein Verständnis von individueller Freiheit kundtut?

Warum schweigen so viele Menschenrechtler, Corona-Fraktionen und Politiker zu den bestürzenden Ereignissen in Shanghai?

"Wie aus Chatgruppen in sozialen Medien hervorgeht, wird auch in anderen Städten der Volksrepublik befürchtet, dass es zu rigiden Lockdowns kommen könnte. In der 18-Millionen-Einwohner-Stadt Guangzhou planen die Behörden Massentests, nachdem einige Fälle gemeldet wurden", so Informationen des ZDF. Die westliche Welt hat anscheinend bei dem Thema Shanghai andere Sorgen, nämlich nur um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Ereignisse in China. Der Hafen von Shanghai, der sich an der Ostküste des Riesenreiches befindet, ist der gegenwärtig mit Abstand größte Hafen der Welt. Die FAZ informiert am 12. April ihre Leser:

"Zusätzlichen Druck erfährt die Weltwirtschaft durch die Null-COVID-Politik Chinas. Von den 100 größten Städten des Landes sind nach einer Erhebung des Pekinger Analysehauses Gavekal gerade mal 13 Städte frei von Restriktionen, mit denen Einwohner aufgrund der steigenden Ansteckungszahlen mit der Virusvariante Omikron zuhause gehalten werden sollen. Die betroffenen Städte und Regionen zeichnen für 54 Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung verantwortlich."

Wirtschaftsleistung versus Menschenleid. Es wird sich zeitnah zeigen, ob die deutsche Medienlandschaft wie auch Großteile der Gesellschaft weiterhin nicht nachvollziehbar ihre Augen vor den dystopischen Maßnahmen und Zuständen in China verschließen.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

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