Der Ukraine-Krieg ist der letzte Akt eines langen sowjetischen Zusammenbruchs
von Andrej Kortunow
Vor dreißig Jahren, als die Sowjetunion zu existieren aufhörte, äußerten viele Beobachter ihre Überraschung angesichts der relativ friedlichen Natur des Zerfalls des riesigen Staates. Dem Zerfall anderer großer europäischer Imperien – des britischen, französischen, spanischen und portugiesischen – waren immer große bewaffnete Konflikte gefolgt, von denen einige über Jahrzehnte andauerten und die von Hunderttausenden, wenn nicht Millionen Opfern begleitet wurden. Natürlich wurde auch der postsowjetische Raum Zeuge militärischer Gewalt und bewaffneter Konflikte in den frühen 1990ern (Tadschikistan, Nagorno-Karabach, Abchasien, Südossetien, Transnistrien, Tschetschenien und Dagestan), aber die meisten waren, was Ausmaß und Dauer anbetrifft, bescheiden.
Auf dem Gebiet der früheren UdSSR wurden militärische Konflikte öfter erfolgreich "eingefroren", und nur von Zeit zu Zeit lenkten sie mit Ausbrüchen der Eskalation die Aufmerksamkeit auf sich. Die düsteren Prophezeiungen über die Verbreitung nuklearer Waffen, Millionen von Flüchtlingen, die in die Nachbarländer flössen, weitverbreitete ethnische Säuberungen und den unaufhaltsamen Aufstieg von religiösem Fundamentalismus, internationalem Terrorismus etc., haben sich unmittelbar nach der Auflösung nicht realisiert. Man muss zugeben, dass die Anfangsphase der Dekonstruktion des Imperiums überraschend friedlich und sogar igendwie geordnet verlief. Insbesondere, wenn wir in Betracht ziehen, dass niemand im Vorhinein irgendwelche Notfallpläne für einen Zerfall der Sowjetunion erarbeitet hatte.
Analytiker bieten eine ganze Auswahl von Erklärungen für diese bemerkenswerte Tatsache. Vor allem wird auf den Zynismus und Opportunismus der späten kommunistischen Nomenklatura hingewiesen, die die Möglichkeit persönlicher Bereicherung einem fortgesetzten Einsatz für die Erhaltung der großen sowjetischen Macht vorzog. Es wurde auch festgestellt, dass die UdSSR ein sehr ungewöhnliches Konstrukt war, bei dem das imperiale Zentrum (Russland) seine kolonialen Randgebiete weniger wirtschaftlich ausgebeutet, sondern vielmehr um den Preis eigener Entwicklungsmöglichkeiten subventioniert hat.
Daher hatten viele in der Russischen Föderation die sowjetische imperiale Peripherie nicht als Gewinn, sondern eher als Belastung für den russischen Kern betrachtet. Die insgesamt förderliche internationale Lage zog die Aufmerksamkeit auf sich, die es erlaubte, in den 199oern scharfe Konflikte und blutige Kriege um das "sowjetische Erbe" zu vermeiden.
Schrittweise imperiale Desintegration
Ohne eine detaillierte Analyse dieser und anderer Hypothesen zu liefern, die sich mit den Besonderheiten des Desintegrationsprozesses auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion befassen, könnte ich jedoch eine weitere Erklärung liefern, die den oben genannten nicht notwendigerweise widerspricht. Meiner Meinung nach brach die Sowjetunion nicht Ende 1991 zusammen, sondern begann nur einen langen, komplexen und widersprüchlichen Weg schrittweiser Desintegration. Vor dreißig Jahren verkündeten die Führer der bereits ehemaligen Sowjetrepubliken nur das Ziel, unabhängige Staaten an Stelle der langsam implodierenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen der Sowjetunion zu schaffen. Aber der Prozess, diese neuen Staaten aufzubauen, dauerte mehrere Jahrzehnte und setzt sich fort bis zum heutigen Tag.
Für sehr lange Zeit blieb der größere Teil des postsowjetischen Raums – mit möglicher Ausnahme der drei baltischen Staaten – im Kern eine einzige Einheit, bezogen auf wirtschaftliche Verbindungen, Transport- und Logistikinfrastruktur, Bildungsstandards, Wissenschaft, Kultur, und, am Wichtigsten, in Bezug auf die Mentalität der an der Macht befindlichen politischen und Wirtschaftseliten. Es brauchte wenigstens eine weitere Generation, bis diese Einheit in der Vergangenheit verdämmerte. Daher findet der wirkliche Kollaps der Sowjetunion erst heute statt, im Wortsinne vor unseren Augen, und die Staaten, die im postsowjetischen Raum entstanden, haben all die Herausforderungen, Risiken und Schmerzen der imperialen Desintegration noch vor sich.
Die oberflächliche Natur der sowjetischen Desintegration Ende 1991 wird besonders sichtbar, wenn man sie mit ansatzweise ähnlichen Prozessen in der modernen Geschichte vergleicht, wie dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Zwischen dem Brexit-Referendum im Juni 2016 und dem formellen Ende der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union am 1. Februar 2020 vergingen vier Jahre; diese Jahre waren gefüllt mit intensiven Verhandlungen und scharfem politischem Streit sowohl in London als auch in Brüssel, ununterbrochenen Beratungen mit Experten und einer schwierigen Suche nach Kompromissen bezüglich der Bedingungen weiterer Zusammenarbeit zwischen dem Vereinten Königreich und der EU. Binnen dieser vier Jahre wurden viele detaillierte Dokumente vorbereitet und verabschiedet, die die wechselseitigen Rechte und Pflichten zwischen Brüssel und London regeln. Mehr noch, die Klärung dieser Rechte und Pflichten geht bis heute weiter.
Die Vereinbarungen von Belowesch, die das Ende der Sowjetunion und die Schaffung der Gemeinschaft unabhängiger Staaten erklärten, wurden in wenigen Tagen entworfen, abgestimmt und unterzeichnet; das Dokument mit 14 Artikeln ist nur zwei Seiten lang. Tatsächlich wurde mit den Vereinbarungen von Belowesch nur eine sehr allgemeine Absichtserklärung angenommen, ein kurzes und sehr vieldeutiges Memorandum des Verstehens, das alle Teilnehmer nach ihrem Gutdünken auslegen konnten. Es ist vollkommen unmöglich, sich eine derart hastig und beiläufig abgeschlossene Übereinkunft zum Brexit vorzustellen.
Dabei ging es beim Brexit nur um den Rückzug eines Landes aus einem Projekt multilateraler Integration, und im Falle der Vereinbarungen von Belowesch bestand die Aufgabe in der ordentlichen Zerlegung eines einzelnen Staates mit der Geschichte eines Zusammenlebens verschiedener nationaler, ethnischer und religiöser Gruppen, die teils mehrere Jahrhunderte zurückreicht.
Vor dreißig Jahren war es ganz und gar nicht offensichtlich, dass alle nationalen Projekte der Sowjetrepubliken bestehen würden. Es gab ernsthafte Zweifel an der politischen und wirtschaftlichen Lebensfähigkeit, oder der Effizienz, einer ganzen Reihe dieser neuen Staaten. In Moskau blieb die allgemeine Stimmung lange Zeit arrogant und eigennützig. Es hieß:
"Sie werden nirgendwohin gehen, sie werden früher oder später zu uns zurückkommen."
Vielleicht hätten, unter anderen Umständen, die postsowjetischen Staaten tatsächlich unter russischer Führung eine funktionsfähige, integrative Gruppierung bilden können, nach dem Muster der EU oder zumindest der EWG, die der EU vorausging. Im Team des ehemaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin waren solche Hoffnungen und Pläne sicher weit verbreitet, und möglicherweise auch in der "frühen" Amtszeit von Wladimir Putin.
Neue Integrationsstukturen
Es ist kein Zufall, dass in den offiziellen Dokumenten russischer Außenpolitik den Beziehungen mit den Partnern des "nahen Auslands" unverändert der erste Platz auf der Liste der geografischen Prioritäten zugeteilt wurde. Obwohl sich Russlands reale außenpolitische Ambitionen und Hoffnungen seit 1991 in westliche Richtung bewegten. Lange Zeit wurde der Mechanismus der GUS im Kreml nicht als Instrument einer "zivilisierten Scheidung" von Russlands postsowjetischen Nachbarn gesehen, sondern als erster Spross einer neuen Integrationsstuktur. Die Konsolidierung des postsowjetischen Raums wurde als absolut notwendige Voraussetzung für die Rückkehr Russlands zum Status einer großen Macht und für die Sicherung seiner schnellen und nachhaltigen Entwicklung gesehen.
In den 3 Jahren seither wurde dieses Ziel nicht erreicht. Es gibt viele Gründe für dieses Scheitern. Man kann auf die extrem buntscheckige und heterogene Zusammensetzung der GUS verweisen, auf die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungslinien, die auseinander-, nicht zusammelaufen, und auf die kulturelle Entwicklung der postsowjetischen Gesellschaften. Man kann auch die Positionen des Westens erwähnen, der selbst der hypothetischen Möglichkeit einer Wiederherstellung der Sowjetunion in irgendeiner Gestalt immer misstrauisch gegenüberstand.
Es macht auch Sinn, die objektive Asymmetrie des wirtschaftlichen und politischen Potenzials zwischen Russland und seinen Nachbarn wahrzunehmen, welche die Suche nach einer stabilen multilateralen Interessensbalance, die für alle akzeptabel ist, erschwerte. Natürlich muss man auch das "Big Brother"-Syndrom bedenken, das sich in der russischen Politik oft niedergeschlagen hat, Moskaus Unwillen, die spezifischen Interessen, Erwartungen, und vor allem die politischen und psychologischen Traumata der hervortretenden Eliten der neuen Staaten vollständig zu berücksichtigen.
Gescheitertes Rollenmodell
Aber die wichtigste Wurzel des russischen Scheiterns bei der Konsolidierung des postsowjetischen Raums um Moskau war, so scheint mir, nicht einmal einer dieser Faktoren. Das Hauptproblem der postsowjetischen "eurasischen" Integration war, dass Russland über die 30 Jahre seiner unabhängigen Existenz hinweg nicht im Stande war, ein effektives Modell sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung zu finden, das in den Nachbarländern als Vorbild gesehen würde. Schon Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts wurde die Aufgabe, die soziale und politische Stabilität des Landes zu erhalten, der Aufgabe sozialer und wirtschaftlicher Erneuerung vorgezogen.
Man könnte darüber streiten, ob der Konservatismus der russischen Führung unter dem "reifen" Wladimir Putin gerechtfertigt war. Aber der Preis, der dafür gezahlt werden musste, war der Verlust der vorhergehenden sozialen und politischen Dynamik. Es scheint, dass die Bewahrung des archaischen sozialen und wirtschaftlichen Systems der Hauptgrund war, warum Russland während der postsowjetischen Periode für seine GUS-Nachbarn nicht das wurde, was Deutschland (und teilweise Frankreich) in den 1960er und 1970ern für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wurden.
Demgemäß erwies sich Moskau nicht als stark genug, um die Rolle der Wirtschaftslokomotive Eurasiens zu spielen. Mehr noch, Russland musste mit solch ehrgeizigen und energetischen Spielern wie der EU im Westen, China im Osten und der Türkei im Süden um Einfluss im eurasischen Raum ringen. In diesem Kampf hat Moskau schrittweise Boden verloren, was zu dem wachsenden Gefühl von Isolation und Unsicherheit beitrug.
Aber was sind die entscheidenden Mittel, die Moskau in den vergangenen drei Jahrzehnten eingesetzt hat, um seine Einfluss auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR zu stärken? Zuallererst positionierte sich Russland als der Hauptgarant (sogar der einzige) für die nationale Sicherheit der postsowjetischen Staaten. Die Haltung Moskaus gegenüber Versuchen irgendwelcher externer Spieler, ihren militärischen oder politischen Einfluss in diesem Gebiet auszuweiten – Vorschläge, UN-Friedenstruppe in das Gebiet eines bestimmten Konflikts zu schicken, eingeschlossen – war immer ausdrücklich negativ. Alternative Anbieter von Sicherheit in ihrem Hinterhof missfielen der russischen Führung deutlich.
Problematische Gebietsstreitigkeiten
Für lange Zeit erhob kein ausländischer Akteur irgendeinen grundsätzlichen Sicherheitsanspruch auf die südlichen Grenzkonturen der früheren UdSSR. Aber Moskaus Absicht, seine militärische und politische Hegemonie im Westen und Südwesten des postsowjetischen Raums zu halten, wurde spätestens seit der Mitte der 1990er unzweideutiger gesehen. Mehr noch, im Verlauf dieser 30 Jahre sammelte Russland eine bedeutende Menge von Problemen mit partiell oder vollständig nicht anerkannten Gebieten (Abchasien und Südossetien, die Volksrepubliken Donezk und Lugansk, Transnistrien und Nagorny-Karabach). Sie alle erwiesen sich, mehr oder weniger, als eine Belastung für Russland – sowohl was seinen Umgang mit seinen Nachbarn, als auch, was seine Zusammenarbeit mit dem Westen betraf.
Zweitens konnte Russland seinen Nachbarn subventionierte Preise für Exporte an Öl, Gas und anderen Rohstoffen anbieten. Dieser Mechanismus funktionierte in dem Zusammenhang eines fortgesetzten Mangels an Energie und Rohstoffen auf der Welt und dem damit einhergehenden fortgesetzten Anstieg der Weltmarktpreise für russische Exporte. Vergessen wir nicht, dass die Wirtschaften der meisten GUS-Länder in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Kern sowjetisch blieben, und damit energie- und ressourcenintensiv, was den hohen Abhängigkeitsgrad dieser Länder von den billigen Energie- und Rohstofflieferungen aus Russland vorherbestimmte.
Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wurde der "Erzeugermarkt" jedoch durch einen "Verbrauchermarkt" ersetzt, wodurch die Bedeutung des russischen Energiebonus für die Nachbarländer schrittweise abnahm. Langsame, aber unvermeidbare Prozesse des wirtschaftlichen Strukturwandels in den meisten GUS-Länder trugen ebenfalls dazu bei. Sie erhielten zusätzlichen Schwung in Gestalt des Übergangs zu "sauberen" Energiequellen, der weltweit begonnen hat, und die russischen Energieunternehmen waren zunehmend unwillig, ihre direkten Konzerninteressen im Namen abstrakter Staatsziele zu opfern.
Drittens versuchte Moskau, seine Nachbarn mit der Schaffung besonders günstiger Zugangsmöglichkeiten zu den russischen Märkten für Güter und Dienstleistungen anzuziehen, wie auch zum Arbeitsmarkt. Solche Begünstigungen hatten im Zusammenhang mit dem schnellen Wachstum der russischen Wirtschaft im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts und der Tatsache, dass die meisten GUS-Länder unwillig oder nicht vorbereitet darauf waren, die Waren- und Arbeitsmärkte des "fernen Auslands" zu erkunden, besonders bedeutend.
Schwindende Dynamik
Aber selbst diese Möglichkeiten währten nicht ewig. Seit Beginn des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts hat die russische Wirtschaft ihre vorherige Dynamik verloren und hinkt der durchschnittlichen Wachstumsrate weltweit hinterher. Die GUS-Länder ihrerseits haben ihre Außenwirtschaftsbeziehungen immer weiter diversifiziert, und die Kooperation mit China, der EU, Südasien und dem Nahen Osten ausgeweitet. In diesem Prozess spielen auch die restriktiven wirtschaftlichen Maßnahmen eine gewisse Rolle, die Moskau wiederholt gegenüber Georgien, der Ukraine, Moldawien und sogar Weißrussland angewandt hat, und damit diese Länder zwang, aggressiver alternative Exportmärkte zu entwickeln. Ein weiterer Faktor, der die wirtschaftliche Parterschaft im postsowjetischen Raum seit 2014 verlangsamte, war das Zögern der Partner Russlands, von westlichen Sekundärsanktionen getroffen zu werden, nachdem der Westen seine Maßnahmen gegen Moskau verschärfte.
Viertens hat Russland lange den Anspruch erhoben, der "Interessensvertreter" der GUS-Staaten in internationalen Organisationen zu sein, vom UN-Sicherheitsrat bis zu den G8 und G20. Aber diese Aufgabe wurde immer schwerer erreichbar – die Interessen Moskaus und seiner engsten Nachbarn entfernten sich immer deutlicher voneinander, eine solidarische Abstimmung in internationalen Organisationen war immer schwerer zu erreichen; in vielen multilateralen Foren wurden Interessenkollisionen immer häufiger. Selbst in solch exklusiven Formaten wie der Shanghaier Organisation zur Zusammenarbeit (SCO) wichen die Positionen Moskaus und anderer GUS-Länder oft bedeutend voneinander ab.
Der russische Werkzeugkoffer für den Umgang mit den Ländern des "nahen Auslands" ist natürlich nicht auf die vier Instrumente beschränkt, die ich oben angeführt habe. Es gibt auch Bildungsexportmöglichkeiten mit Budgetquoten für Studenten aus den GUS-Staaten, Programme, um die russische Kultur und Sprache zu fördern, bilaterale und multilaterale Technologieketten etc. Aber all diese Werkzeuge haben unter den Bedingungen einer rentenbasierten russischen Wirtschaft eine begrenzte Wirksamkeit. Diese Begrenzungen werden insbesondere deutlich, wenn viele alternative Partner anwesend sind – von China bis zur EU –, die aktiv den postsowjetischen Raum entwickeln. Aber auch mit Blick auf die zunehmende Zahl wirtschaftlicher Sanktionen, die der Westen seit 2014 über Russland verhängt hat.
Zusätzlich beruhte die Herausbildung neuer nationaler Identitäten in den ehemaligen Sowjetrepubliken vor allem auf der maximal möglichen Distanzierung von Russland – einschließlich seiner Geschichte, Kultur und Sprache. Russland fand sich unvermeidlich in der Stellung des symbolischen "Anderen" wieder, gegen den der ethnische und kulturelle Nationalismus der ehemaligen imperialen Außengebiete in dem Prozess der Staatsbildung ankämpfen musste. Daher der Anstieg des anti-russischen Nationalismus in vielen GUS-Ländern, die Schaffung alternativer "Nationalgeschichte" und die Herausbildung einer national-ethnischen politischen Mythologie, das kritische Überdenken der Erfahrung des gemeinsamen Lebens im multinationalen sowjetischen Staat – all das war beinahe unvermeidlich.
Ein verändertes Herangehen an den post-sowjetischen Raum
Gegenwärtig ist es schwierig, ein vollständiges und überzeugendes Bild zu zeichnen, wie die Entwicklung der russischen Haltung gegenüber den nächsten Nachbarn stattfand. Vielleicht werden eines Tages jetzt klassifizierte Archivinformationen es ermöglichen, eine umfassende Analyse der hitzigen Debatten zu liefern, die zweifelsohne in den "inneren Zirkeln" Jelzins wie auch Putins stattgefunden haben. Dennoch kann man annehmen, dass der Krieg in Georgien 2008 und insbesondere die darauf folgende Anerkennung von Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten bereits das Ergebnis einer umfassenden Transformation der Strategie des Kreml seinen Partnern im postsowjetischen Raum gegenüber war.
Schließlich war es bereits 2008 mehr als klar, dass die Anerkennung der beiden abtrünnigen georgischen Regionen ein fundamentales, langfristiges Problem in den Beziehungen zwischen Tiflis und Moskau schaffen würde, da keine georgische Regierung einen Verlust von einem Fünftel des Staatsgebiets hinnehmen könnte. Und ohne aktive Beteiligung von Tiflis ist selbst theoretisch kein Versuch einer umfassenden wirtschaftlichen und ökonomischen regionalen Reintegration des Südkaukasus möglich.
Natürlich war das Verhalten des Kremls während der Ukraine-Krise 2014 ein weitaus deutlicheres Zeichen der Revision vorhergehender Haltungen, so bedeutend es sich von der russischen Reaktion auf die "Orange Revolution" in Kiew ein Jahrzehnt davor unterschied. Der schnelle Einsatz auf der Krim und die starke Unterstützung für die Donezker und Lugansker Volksrepubliken (DVR und LVR) in der Ostukraine, die extrem scharfe offizielle Rhetorik gegen die neue ukrainische Führung – all das wurde zu einem klaren Signal, dass der Kreml bereit war, eine langfristige Feindseligkeit der Ukraine (oder zumindest des ukrainischen Mainstreams) Russland gegenüber als historisch unvermeidlich hinzunehmen. Dementsprechend machten die Ereignisse von 2014 auch allen Plänen für die umfassende Reintegration des ehemaligen sowjetischen Raums um Russland ein Ende, soweit es sie bis dahin noch gab.
Seit diesem Zeitpunkt wurde der Prozess der Überleitung der Beziehungen mit den post-sowjetischen Staaten auf eine "selbsterhaltende" Grundlage besonders kenntlich, einschließlich einer schrittweisen Verringerung direkter und indirekter Wirtschaftssubventionen für Russlands Nachbarn, eine starke Verteidigung russischer Interessen im Bereich von Handel und Investitionen, aktive Konkurrenz mit den Nachbarn um die Märkte von Drittländern etc. Natürlich gingen die multilateralen Wirtschaftsprojekte weiter: 2015 begann die Arbeit der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU). Die Bedeutung der EAEU für Russland blieb jedoch sehr begrenzt – der Anteil der Mitgliedsländer dieser Organisation am gesamten russischen Außenhandel beträgt weniger als 10 Prozent (der Anteil der EU im Außenhandel Deutschlands liegt im Vergleich dazu beinahe bei 60 Prozent).
Obwohl die EAEU natürlich weiter ein wichtiger Mechanismus zur Förderung der Moskauer Wirtschaftsinteressen bleibt, ist die Bewegung hin auf einen einzigen Wirtschaftsraum innerhalb dieser Struktur sehr langsam, was besonders vor dem Hintergrund aktiver Integrationsprozesse in anderen Weltregionen auffällt. Moskaus vorsichtige Versuche, der EAEU eine politische Dimension zu verleihen, erhielt keine sichtbare Unterstützung durch die anderen Mitglieder und erzielte keine bemerkbaren Ergebnisse.
Der letzte Akt
Der Beginn der "militärischen Sonderoperation" in der Ukraine ist eine klare Ausnahme von dem Trend hin zu einer rationaleren, risikoscheueren und pragmatischeren Herangehensweise an den post-sowjetischen Raum. Es scheint, dass in den Augen der Kremlführung eine westorientierte Ukraine, die eng mit der NATO zusammenarbeitet, eine ernsthafte Herausforderung nicht nur für Russlands Sicherheitsinteressen, sondern sogar für Russlands Existenz darstellte. Jede rationale Kosten-Nutzen-Analyse würde nahelegen, dass Moskau viel zu verlieren hat, aber nicht viel zu gewinnen, wenn es versucht, die Ukraine mit militärischen Mitteln umzubauen. Es wäre voreilig, das Ergebnis dieses Schachzugs des Kremls in der Ukraine zu untersuchen. Aber man kann spekulieren, dass man sich an die aktuellen Ereignisse einmal als an den letzten Akt des 30 Jahre währenden Dramas erinnern wird, in dem Russland mit seinem imperialen Erbe kämpfte.
Das paradoxe Ergebnis der russischen Außenpolitik der letzten 30 Jahre ist, dass das Land es geschafft hat, eine sehr aktive globale Macht zu werden ohne eine legitime regionale Führungsmacht zu sein. Mehr noch, der russische Globalismus der letzten Jahre kann als eine Art politische Entschädigung für die vielen Fehler gesehen werden, die Moskau bei seinen Versuchen machte, konstruktive und stabile Beziehungen zu vielen seiner nächsten Nachbarn aufzubauen. Dennoch wird die Aufgabe, solche Beziehungen zu entwickeln, früher oder später wieder an der Spitze der außenpolitischen Prioritätenliste Moskaus auftauchen. Das wird jetzt zwar viel schwieriger werden als damals 1991. Dennoch, wenn dieses kritische Problem nicht angegangen wird, wird jeder Erfolg russischer Außenpolitik in einem anderen Bereich unvermeidbar entwertet.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Übersetzung aus dem Englischen.
Andrej Kortunow ist promovierter Historiker und Geschäftsführer des Russischen Rates für Auswärtige Beziehungen (RIAC).
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